In der Waldklause

Ein Buch mit Märchen und Fabeln und dabei vor über 100 Jahren aufgeschrieben kann seine ganz eigene Faszination versprühen. Neben dem inhaltlichen Wert ist auch die damalige Weltanschauung höchst interessant. Diese kann Neuleser zum Nachdenken anregen, während die Großeltern ob der damaligen Zeit in Erinnerung schwelgen.

von Lars Jeske

„In der Waldklause“ ist ein aus der Zeit gefallenes Dokument. Eine Märchen-Sammlung, erstmalig herausgegeben 1929 von Augustin Wibbelt als vierbändige Waldklausner-Reihe. In dieser geht es um den Waldklausner, einen Mann, der sich vom Trubel seiner Zeit in den Wald zurückzieht und von nun an in Ruhe und Frieden ungestört leben kann. Dies war zumindest sein Plan, doch aufgrund der Interaktion mit der hiesigen Population, die die überwiegend bekannten Tier- und Märchenfiguren abbildet, erlebt er immer wieder Geschichten, die es seiner Meinung nach Wert sind, aufgeschrieben zu werden, um diese für die Nachwelt zu erhalten.

Warum es dieses Werk dennoch in eine Neuauflage 2019 geschafft hat, erklärt uns Verleger Nicolai Bonczyk vom Mantikore-Verlag höchstselbst in einem sehr persönlichen Vorwort zum eigentlichen Werk. Dieser kurze Text hat Seltenheitswert, gibt es doch bei Belletristik in der Regel keine einführenden Worte des Verlegers für den Leser mit auf den Weg. Dadurch ist einem Rezensenten auch schon einiges an Pfeilen aus dem Köcher genommen, und man wird bei der Auseinandersetzung mit dem vorliegenden Werk ob der Intention geringfügig beeinflusst.

Inhaltlich hat das Buch alles, was man von guten Märchengeschichten erwartet. Somit ist der Untertitel „Märchen für kleine und große Kinder bis zu 80 Jahren und darüber“ mehr als passend. Es sind kurze, abgeschlossene Geschichten, die größtenteils als Gute-Nacht-Geschichte für kleine Kinder funktionieren oder bei älteren Lesern Erinnerungen an die eigene Kindheit und diese Geschichten reaktivieren. Man muss das Buch auch nicht streng von vorn nach hinten durchlesen, sind es doch vier Bände in einem. Jeder mit einer der vier Jahreszeiten betitelt und dazu passenden Geschichten, die das entsprechende europäische Wetter und die zeitlichen Befindlichkeiten der Bevölkerung widerspiegeln. Vereinzelt nehmen die Geschichten aufgrund der Handlungsträger und bisheriger Vorfälle aufeinander Bezug, werden jedoch im Bedarfsfall noch einmal ins Gedächtnis gerufen, falls der Kontext und etwaige Entscheidungen und Verhaltensweisen besser verstehen zu können.

Zudem braucht es keine Erklärung, warum es hier einen Mann gibt, welcher mit Tieren sprechen kann und diese sich wiederum auch mit ihm verständigen können. Dies war nur ein kleiner Schritt, da die bekannten Märchenfiguren, die heutzutage vorrangig auf die Sammlungen der Gebrüder Grimm zurückgehen, die Bevölkerung des Waldes stellen. Somit kann auch auf Vorwissen jedes Lesers zurückgegriffen werden, und es muss nicht immer zuerst jeder Charakter erklärt werden. Im bekannten Kanon treten unter anderem Fuchs, Elster oder Hase und Igel auf, die sogleich bei jedem Leser die bekannten Assoziationen wecken. Aber auch die direkte Ansprache und Interaktion mit dem Wind, dem Monat April oder dem guten Mond funktioniert hier einfach aus sich heraus und tut der Glaubwürdigkeit der Märchen im gewählten Rahmen keinen Abbruch. Dazu gibt es auch begleitend zwischen einigen der Geschichten Zeichnungen von Hauke Kock, die die Geschichten zusätzlich zur eigenen Vorstellung illustrieren.

Auch aus stilistischer, kunsthistorischer oder pädagogischer Sicht ist das Buch eher ungewöhnlich und bietet einen ganz eigenen Anreiz. Der Waldbruder als Märchenonkel und die Projektion der damaligen Moralvorstellungen und ideologischen Ansichten des Autors (der Pastor und Theologe Wibbert war ein frommer Mann) lassen einen ganz direkt in diese andere Zeit eintauchen. Zugegebenermaßen sind einige dieser Moral- und Weltanschauungen mittlerweile veraltet oder überholt, sodass man nicht mehr alles gut nachvollziehen oder verstehen kann, jedoch tolerieren. Etwas eindringlicher und nicht sehr dezent wird neben der belehrenden Moralkeule auch ein religiöser Wert in allem und jedem gesehen oder mühsam hineininterpretiert, dieses kann heutzutage für den Großteil der geneigten Leser wie aus der Zeit gefallen wirken. Dazu passend wurde auf eine Neuinterpretation oder Aktualisierung des Textes verzichtet, wodurch man auch auf mittlerweile untergegangene Worte aus der damaligen Zeit trifft und auch Sprache für sich selbst wiederentdecken oder neu entdecken kann.

Fazit: Und die Moral von der Geschicht’? Mitunter gibt es diese nicht. Nicht jede der kurzen Geschichten ist ein Treffer oder mit Mehrwert für den Leser. Als historisches Märchenbuch betrachtet ist „In der Waldklause“ jedoch sehr gelungen und dankenswerterweise noch einmal herausgegeben worden. In der richtigen Stimmung und erst recht für die richtige Zielgruppe ist das Buch ein sehr guter Geheimtipp und auf alle Fälle wert, einmal näher in Augenschein genommen zu werden.

In der Waldklause
Märchenbuch
Augustin Wibbelt
Mantikore Verlag 2019
ISBN: 978-3-96188-111-6
542 S., Paperback, deutsch
Preis: 14,95 EUR

bei amazon.de bestellen