H. P. Lovecraft. Das Werk

Laut Stephen King ist Howard Phillips Lovecraft (HPL) (1890-1937) der bedeutendste Horror-Autor des 20. Jahrhunderts! Der vorliegende Band behandelt eine Auswahl seiner Geschichten aus dem „Arkham-Zyklus“, die als besonders typisch gelten können. HPL, der sich Edgar Allan Poe zum literarischen Vorbild nahm, findet mittlerweile große Leser*innenresonanz. In diesem Band werden die Storys nicht nur (meist) farbig reich bebildert, sondern auch ausführlich kommentiert. Die Neuübersetzung stammt aus der Feder zweier ausgewiesener Lovecraft-Kenner, die den speziellen Stil und die besondere Atmosphäre der Erzählungen des Horror-Schriftstellers abbilden.

von Markus Kolbeck

H. P. Lovecraft ist heutzutage so bekannt, dass man nicht viel zu ihm noch schreiben muss. Jedoch will ich einige Worte hier anbringen: Der US-amerikanische Autor hat vor allem in den 20er- und 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts unheimlich-phantastische Kurzgeschichten, Erzählungen und Romane sowie Essays zu allerlei Themen verfasst. Kennzeichnend sind für sein Werk Begriffe wie „Kosmozismus“ (die sogenannten Großen Alten – gleich Göttern –betrachten die Menschheit als völlig unbedeutend) und „Cthulhu-Mythos“ (auch wenn er diesen Begriff nie selbst benutzte, haben etliche Schriftsteller der damaligen und späteren Zeit dazu beigetragen). Obwohl er auch in Pulp-Magazinen wie „Weird Tales“ veröffentlichte, blieb er damals weitgehend unbekannt. Erst Ende des 20. Jahrhunderts wird im die gebührende Aufmerksamkeit von Leser*innen und Kritiker*innen zuteil. Wer eine fundierte, umfassende und detaillierte Biographie von Lovecraft lesen will, sei auf „H. P. Lovecraft: Leben und Werk 1 & 2“ von S. T. Joshi verwiesen.

Leslie S. Klinger ist der Autor dieses Bandes und lebt in den USA. Er hat zahlreiche Bücher herausgegeben, etwa die Bestseller „The New Annotated Sherlock Holmes“, „The New Annotated Dracula“ und „The Annotated Sandman“. Die beiden Übersetzer sind Andreas Fliedner (Schwerpunkte bei politischer Philosophie und Ideengeschichte) und Alexander Pechmann (verfasste etwa eine „Frankenstein“-Neuübersetzung). Beide sind erfahrene Übersetzer und auch im phantastischen Bereich erfolgreich.

Der Band „H. P. Lovecraft. Das Werk“ ist erstmals 2017 bei Fischer im Imprint Tor auf Deutsch erschienen (Originaltitel der englischen Ausgabe: „The New Annotated H. P. Lovecraft“ (2014)). Das Hardcover mit Schutzumschlag umfasst 912 Seiten und ist mit fast 300 oft vierfarbigen Abbildungen von Originalillustrationen, Covern, Filmplakaten, Originalschauplätzen, Personen und vielem mehr versehen. Viele Aspekte von Lovecrafts Leben und Werk werden in über 1000 Anmerkungen beleuchtet. Hier werden 22 von insgesamt 102 verfassten Geschichten (unter eigenem Namen oder als Kollaborationen) abgedruckt, die alle einen typischen Bezug zu der fiktiven Stadt Arkham (oder ihrer Umgebung), Massachusetts, USA haben.

Inhalt

Nach einer Einleitung von Alan Moore wird im Vorwort ausführlich auf die Horrorliteratur, das Leben und die literarische Laufbahn von Lovecraft sowie seine Rezeption in Literaturkritik und -wissenschaft eingegangen. Auch seine Philosophie und der „Cthulhu-Mythos“ werden naher behandelt. Die Erwähnung von Lovecrafts problematischer politischer Einstellung in Form von Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und mutmaßlich Frauenfeindlichkeit wird nicht übersehen. Es folgt noch eine Information zur Ausgabe des Bandes, dann geht es los mit HPLs Geschichten.

Gleich auffallend bei den Kurzgeschichten und Erzählungen, sind die zahlreichen Anmerkungen am Rand der Seiten und auch die Bebilderung. Die Anmerkungen erläutern Fremdwörter (wie aus der Mythologie entlehnte Begriffe), Namen von Personen von Bedeutung (die man aber heute nicht mehr unbedingt kennt), Örtlichkeiten, Bücher, Zeitangaben und viele weitere Besonderheiten. HPLs Geschichten sind atmosphärisch dicht, was der Autor durch die Verwendung zahlreicher Adjektive heraufbeschwört. Dafür ist er bekannt, so findet es sich auch in dieser Übersetzung.

Unter den Kurzgeschichten sind etwa „Randolph Carters Aussage“, „Jenseits der Mauer des Schlafes“, „Nyarlathotep“, „Die namenlose Stadt“, „Der Hund“ und „Der silberne Schlüssel“ zu finden. Mit mehr Umfang sind Erzählungen wie „Herbert West, Wiedererwecker“, „Cthulhus Ruf“, „Das Grauen von Dunwich“, „Der Flüsterer im Dunkeln“, „Der Schatten über Innsmouth“ und „Die Träume im Hexenhaus“ abgedruckt. Bei den Kurzromanen werden gleich zwei, die Lovecraft geschrieben hat, wiedergeben: „Der Fall Charles Dexter Ward“ und (mit leicht abgewandeltem Titel gegenüber der bisherigen Übersetzung) „An den Bergen des Wahnsinns“. Der dritte, vom Autor verfasste Kurzroman „Die Traumsuche nach dem unbekannten Kadath“ ist im Folgeband „Das Werk II“ enthalten.

HPLs Geschichten beinhalten Ghoule, Wesen mit gottgleicher Macht, Zombies, untergegangene Kulturen, verdorbene Kulte, Verschwörungen, Wiederbelebung, Außerirdische, eine Polarexpedition, schreckliche Schicksale, eine Hexe, Bewusstseinstausch, Monster sowie Träume und schlimme Albträume und vieles mehr.

Es gibt – quasi als Bonus – noch acht Anhänge: Eine Zeittafel zu den Ereignissen in Lovecrafts Werken, eine Aufstellung des Lehrkörpers der Miskatonic University, die Geschichte des Necronomicon, einen Stammbaum der Älteren Rassen, ein Verzeichnis von Lovecrafts Geschichten, ein Verzeichnis von Lovecrafts Überarbeitungen beziehungsweise Zusammenarbeiten, Lovecraft in der Popkultur, darunter mit einer Liste an Kinofilmen, die durch Lovecrafts Werke inspiriert wurden, und Lovecraft im deutschen Sprachraum. Den Abschluss des Bandes machen eine umfangreiche Bibliographie und eine Danksagung.

Kritik

Die Kritik einleitend will ich nur kurz auf HPLs Werk und seine Qualitäten eingehen. Der Autor probierte unterschiedliche literarische Stile aus, bevor er den endgültigen fand. Er geht dabei sicherlich eigene und als originell zu bewertende Wege! Der mittlerweile berühmte Schriftsteller schrieb facettenreiche, spannende und oftmals gruselige Storys. Die varianten- und ideenreichen Storys zeugen von einem großen Maß an Phantasie. Der*die Leser*in wird immer wieder überraschend mit neuen Themen und Aspekten konfrontiert. So hat Lovecraft das verfluchte Buch „Necronomicon“ und wohl auch die Traumlande erfunden, kurz den gesamten „Cthulhu-Mythos“ auf den Weg gebracht. Obwohl die Geschichten zuerst in Pulp-Magazinen erschienen, haben sie doch einen gewissen Anspruch.

Was mich am meisten an diesem Band stört, ist, dass er mit „Das Werk“ untertitelt ist, aber keine umfassende Werkausgabe darstellt! Von den – wie bereits erwähnt – insgesamt 102 Geschichten des Horror-Autors werden hier nur 22 wiedergegeben. Man muss dabei aber berücksichtigen, dass mit dem zweiten Band, „Das Werk II“, weitere 25 Geschichten, die außerhalb des „Arkham-Zyklus“ angesiedelt sind, geboten werden. Trotzdem ist diese Verfahrensweise des Autors beziehungsweise des Verlags für mich enttäuschend! Die reichlich vorhandene Bebilderung, historisch und modern, sowie die Anmerkungen sind hervorragend recherchiert und stellen einen großen Zugewinn für die Lovecraft-Forschung dar! Sie sind aber auch für viele Lovecraft-Liebhaber*innen von Interesse, die mehr über das Werk eines ihrer Lieblingsschriftsteller erfahren wollen.

Es sind zu viele Geschichten, um sie alle zu bewerten; ich will jedoch zu einigen noch ein paar Worte schreiben: Am besten unter den beiden Kurzromanen hat mir „Der Fall Charles Dexter Ward“ gefallen, wegen der historischen Dimension und Detailliertheit sowie den vielfältigen Bezügen zu historischen Orten und Personen (oft werden reale Personen fiktionalisiert). Unter den Erzählungen hat mir „Herbert West, Wiedererwecker“ am meisten gefallen; einfach deshalb, weil ich die Geschichte nicht mehr in Erinnerung hatte und angenehm von den Spannungsmomenten und dem Grusel überrascht war. Alle Geschichten sind lesenswert, aber die Erzählungen „Die Farbe aus dem All“, „Das Grauen von Dunwich“, „Der Flüsterer im Dunkeln“, „Der Schatten über Innsmouth“ und „Der Schatten aus der Zeit“ sind besonders als gelungen zu erwähnen. Wirklich schlecht ist keine der Geschichten, aber die Kurzgeschichte „Das Unsagbare“ hat mir am wenigsten gefallen, da sie eigentlich nur eine Abhandlung des Themas „Übernatürliches“ ist und einen ziemlich reißerischen Schluss hat. Lovecrafts Horror ist meist zurückhaltend inszeniert und nicht oder wenig brutal; es bleibt oft der Phantasie des*der Leserin überlassen, sich Details auszumalen. Jedoch sind die Kurzgeschichte „Der Hund“ und die Erzählung „Die Träume im Hexenhaus“ punktuell davon abweichend ungewöhnlich blutig! Dies ist aber wirklich nicht die Regel.

HPL war nicht unbeeinflusst vom damaligen Zeitgeist, und der war nun mal, was nicht verschwiegen werden soll, auch antisemitisch, rassistisch und ausländerfeindlich. Dieser Problematik haben sich ausgewiesen Lovecraft-Expert*innen wie S. T. Joshi ausführlich gewidmet. Lovecrafts Ressentiments spiegeln sich in seinen Geschichten wider. Üble und kriminelle Personen in seinem Werk haben oft ein südländisches Aussehen oder sie sind Mischlinge etc. So hat er in der Erzählung „Cthulhus Ruf“ im Original das unrühmliche Wort „negroes“ für Afroamerikaner*innen benutzt, außerdem „mongrels“ (deutsch: „Bastarde“, „Kreuzungen“), die er als verderbt und ruchlos darstellt. Die Übersetzter haben die Worte korrekt mit „Neger“ und „Mischling“ übersetzt. Insofern sind die Übersetzter der Wortwahl des Autors gefolgt, und die Übersetzung transportiert authentisch die literarischen Absichten des Schriftstellers. Heute würde man statt „Neger“ lieber „Coloured Persons“ oder „Coloured People“ schreiben, was aber Lovecrafts Stil in der Übersetzung nicht gerecht werden würde. Diese modernen Ausdrücke passen meiner Meinung nach einfach nicht in diese Horror-Storys, die ja in der damaligen Zeit spielen. Im Übrigen sollte das Werk, was als herausragend gilt, und nicht der Autor, der sicherlich leider auch schlechte Charaktereigenschaften besitzt, im Vordergrund stehen! Man sollte aber HPLs Position in diesen Angelegenheiten als Fan kritisch hinterfragen und seine Geschichten mit etwas Vorbehalt lesen.

Gleichermaßen wird der in der Übersetzung benutzte Begriff „Eskimos“ in einem problematischen Kontext verwendet. Zu dem Volk der Eskimos gehöre – wie Lovecraft es in „Cthulhus Ruf“ darstellt – ein böser Stamm von Kultisten. Hier wird ein fremdes Volk als mit ausgeprägt negativen Eigenschaften versehen wiedergeben. In einer modernen Geschichte würde man den Begriff „Inuit“ benutzen, der damals aber wohl noch nicht geläufig war, sodass man die Namensverwendung an sich dem Horror-Autor nicht anlasten sollte. Auch die aus Afrika stammende Religion Voodoo wird in der Geschichte als düster beschrieben. Ansonsten gilt, was ich im vorigen Abschnitt bereits ausgeführt habe (Vorrangigkeit des Werks).

Die Neu-Übersetzung betrachte ich als gelungen, der Stil und die Atmosphäre der Lovecraft’schen Storys wird gut eingefangen. Der hohe Preis von derzeit 84,- Euro für den Band ist dadurch zu rechtfertigen, dass er als Hardcover und mit sehr vielen, oftmals farbigen Bildern versehen ist. Allerdings sind diese nicht auf Hochglanzpapier abgedruckt, sondern zusammen mit dem Text auf normalem Druckpapier. Eine literaturkritische Analyse lässt der Band vermissen. Bevor man als Interessent*in jedoch den teuren Band (oder gleich beide) erwirbt, sollte man vielleicht erst eine der Geschichten, wie „Cthulhus Ruf“ (gibt es als Taschenbuch bereits für weniger als 5,- Euro), anderswo lesen. Damit kann man die Art des Autors, Grusel in seinen Geschichten zu transportieren, testen. Obwohl HPL heutzutage populär ist, wird nicht jedem*r  seine Geschichten gefallen.

Anmerkungen

Wer unbedingt alle Geschichten von H. P. Lovecraft lesen will, der*die sei auf die im Festa-Verlag als Taschenbücher erschienene preiswerte Edition „H. P. Lovecraft – Die Gesamtausgabe im Schuber“ verwiesen.

Es gibt zahlreiche Lovecraft-Verfilmungen, fünf davon habe ich exemplarisch herausgepickt: Die Erzählung „Herbert West, Wiedererwecker“ wurde 1985 mit Regisseur Stuart Gordon, erhältlich als DVD mit dem Titel „Re-Animator“, herausgebracht, und erhielt zwei Fortsetzungen. Eine der bekanntesten Geschichten ist „Cthulhus Ruf“, die 2007 mit Regisseur Andrew H. Leman von der „H. P. Lovecraft Historical Society“ als DVD „The Call of Cthulhu“ in Form eines Schwarz-Weiß-Films herausgebracht wurde. Die Erzählung „Der Flüsterer im Dunkeln“ wurde 2011 von der „H. P. Lovecraft Historical Society Motion Pictures“ als Blu-ray und DVD „The Whisperer in Darkness“, ebenfalls als Schwarz-Weiß-Film, veröffentlicht. Und die Erzählung „Die Farbe aus dem All“ wurde gleich zweimal verfilmt und herausgebracht: Einmal 2012 mit Regisseur Huan Vu als Blu-ray und DVD „Die Farbe“ und einmal 2020 mit Regisseur Richard Stanley als Blu-ray und DVD „Colour out of Space“ mit Nicolas Cage in der Hauptrolle. Alle fünf Filme sind empfehlenswert, haben aber unterschiedliche Intentionen dem*der Zuschauer*in gegenüber. Sie reichen von pulpiger Unterhaltung („Re-Animator) über künstlerisch anspruchsvoll („The Call of Cthulhu“ und „Die Farbe“) und klassischem Horror im Stil der 30er-Jahre („The Whisperer in Darkness“) bis zu recht aufwendig produzierten („Colour out of Space“) Spielfilmen.

Fazit: Dieser Band ist ein Meilenstein in der Präsentation von HPLs Werk, was die zahlreichen Bilder und die noch zahlreicheren Anmerkungen betrifft. Er ist absolut hervorragend und aufwendig recherchiert und stellt einen großen Beitrag zur Lovecraft-Forschung dar. Davon, dass mit diesem und dem Folgeband nur eine Auswahl von Lovecrafts Geschichten veröffentlicht wird, sollte man sich als Fan eigentlich nicht abhalten lassen. Und für Neuleser stellt das Buch den idealen  Einstieg in das Werk des berühmten Horror-Autors dar. Ansonsten sei auf die Gesamtausgabe verwiesen. Weil es sich auf einen Ausschnitt (wenn auch großen) aus dem Gesamtwerk beschränkt, muss letztendlich jede*r selbst wissen, ob er hier zugreift.

H. P. Lovecraft. Das Werk
Horror-Geschichten
Leslie S. Klinger (Hrsg.)
Fischer (Tor) 2017
ISBN: 978-3-596-03708-7
912 S., Hardcover, deutsch
Preis: 84,- EUR (3. Auflage)

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