Gruselkabinett 183: Die andere Seite

„Meisterwerke der Schauerromantik“, so bewirbt der Untertitel eines jeden „Gruselkabinetts“ die Reihe. Mittlerweile sind wir bei der 183. Ausgabe angelangt. Fraglich, ob es Drehbuchautor Marc Gruppe ein weiteres Mal gelungen ist, ein „Meisterwerk“ zu finden.

von Jens Krohnen

Der 1860 geborene Autor Eric Stenbock war nicht nur Schriftsteller und Schöpfer einer ganzen Reihe makabrer und fantastischer Geschichten, sondern auch ein sehr exzentrischer Zeitgenosse. Zwar gebürtiger Schwede, verbrachte er weite Teile seines Lebens in England. Dort hielt er Schlangen und Echsen, besaß einen eigenen Zoo in seinem Garten (der einen Bären, einen Fuchs und ein Rentier beherbergte) und pflegte stets in Begleitung eines Hundes, eines Affen und einer lebensgroßen Puppe zu reisen, von der er erzählte, sie wäre sein Sohn.

Aus dem Oeuvre dieses Exzentrikers wählte Marc Gruppe die als „bretonische Sage“ betitelte Geschichte „Die andere Seite“. Diese spielt 1837 in der Bretagne. Der junge Gabriel spielt oft am Flussufer hinter dem Dorf. Doch niemand wagt es, den Fluss zu überqueren. Unter den finsteren Bäumen, die dort wachsen, tummeln sich viele unheimliche Gestalten: Wölfe, Werwölfe und Schlimmeres. Doch Gabriel ist fasziniert von der anderen Seite und erliegt schließlich der Schönheit einer geheimnisvollen Blume. Doch mit dem Überqueren des Flusses lädt er einen Fluch auf sich.

Ich muss gestehen, das mich „Die andere Seite“ auf ganzer Linie enttäuscht hat. Aufgrund der gewählten Erzählform – der erwachsene Gabriel schildert seine Kindheitserlebnisse in der Retrospektive – vermag nie wirklich Spannung aufzukommen. Darüber hinaus sind die Motive dieser Geschichte altbacken und sattsam bekannt – von der Wirkung christlicher Symbolik auf die „Kinder der Nacht“ bis hin zu den Wolfsgestalten, welche sich am anderen Flussufer tummeln. Der auf einer unangenehmen Metaebene wohl gruseligste Aspekt der Geschichte ist die Tatsache, dass der Priester des Dorfes den „hübschen, blonden Gabriel“ mehr zu lieben scheint, als es seine eigene Mutter tut. Während ich an vielen Folgen des „Gruselkabinetts“ schätze, dass sie sich eng an der literarischen Vorlage bewegen, so hätte hier ein Transport der durchaus gruselig angelegten Motive in ein moderneres Gewand wahrscheinlich Wunder vollbringen können.

Auch technisch ist diese Ausgabe nicht so rund gelungen, wie wir es von der Reihe gewöhnt sind. Dies liegt vor allem daran, dass mit dem jungen Gabriel und seiner Freundin Carmeille zwei Kinder weite Teile der Handlung tragen – und man den beiden jungen Sprechern zwar durchaus ihr Bemühen anmerkt, die Texte eben aber doch eher gelesen denn frei gesprochen wirken. Immerhin entschädigt eine starke Ursula Wüsthof als alternde Mére Pinquele, welche ständig Schauergeschichten zum Besten gibt, den Hörer wieder. Summa Summarum fällt aber auch die technische Qualität gegenüber anderen Folgen des „Gruselkabinetts“ ab.

Das Cover wurde passend und qualitativ hochwertig einmal mehr von Ertugrul Edirne beigesteuert und ist sogar ein echter Hingucker – eigentlich das Highlight dieser Ausgabe. Leider hält das Hörspiel nicht die Spannung, welche das Coverbild verspricht.

Fazit: Ich bin wirklich ein großer Freund der „Gruselkabinett“-Reihe. „Die andere Seite“ ist aber eine langweilige Geschichte, voller sattsam bekannter Motive und ohne Überraschungen.

Gruselkabinett 183: Die andere Seite
Hörspiel nach einer Geschichte von Eric Stenbock
Marc Gruppe
Titania Medien 2023
ISBN: 978-3785785294
1 CD, ca. 45 min., deutsch
Preis: 8,49 EUR

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