Geisterschiffe

Irgendwo, in düsteren Tiefen unterhalb der Wellen oder auch an der Meeresoberfläche beziehungsweise auf den kleinen Schiffen der Menschen, welche die Weiten der See durchpflügen, lauert das vielgestaltige Grauen und streckt seine Fänge nach den unvorsichtigen Seelen aus, die in seinen Bannkreis geraten ...

 

„Geisterschiffe“ ist das ein Produkt der deutschen „Cthulhu“-Redaktion, das fünf Abenteuer umfasst. Lediglich eines davon, „Die Büste der Lady Grey“, ist eine Übersetzung aus dem Englischen. Alle anderen Abenteuer wurden eigens für diesen Band geschrieben und sie alle haben mit Schiffen, Seefahrt und unheimlichen Begebnissen zu tun. Dabei unterscheiden sie sich so sehr voneinander, dass selbst einer Gruppe, die alle Abenteuer durchspielt, nicht langweilig wird. Zudem ist selbst das schlechteste Abenteuer in diesem Band immerhin noch von durchschnittlich guter Qualität.

von Joachim Hagen

 

Aufmachung

Vor dem flaschengrünen Hintergrund des Titelbilds erhebt sich hinter einem Segelschiff namens „Pegasus“ – passend zum Verlag – eine düstere, vage humanoide Schattengestalt mit glühenden Augen und langen Krallen, während sich von links Tentakel ins Bild winden. Den Umschlag zieren vorne und hinten an den Ecken aufgedruckte, goldene Verzierungen, was dem Buch den Anschein eines wertvollen Folianten verleiht.

Nach Inhaltsverzeichnis und Vorwort erwartet den Leser eine zum Thema „Geisterschiffe“ passende Kurzgeschichte in Form eines Manuskripts. Der Beitrag wurde tatsächlich handschriftlich verfasst und auf einem Tisch liegend so fotographiert, dass man den Eindruck hat, sich tatsächlich beim Lesen durch einen Papierstapel zu arbeiten. Die Seiten sind zudem noch verknittert, geknickt und beschmutzt; man kann sogar bei genauem Hinschauen die Schrift auf der anderen Seite durchschimmern sehen. (Bei sehr genauem Hinschauen merkt man allerdings, dass der durchscheinende Text nicht zu dem auf der folgenden Seite passt.) Nach einer derart aufwändig gestalteten Einleitung ist die Erwartungshaltung an den weiteren Inhalt natürlich recht hoch, und sie wird nicht enttäuscht.

Die Qualität aller Handouts und Zeichnungen, wie Karten etc., ist gut bis sehr gut. Zeitungsausschnitte wurden offenbar an Hand von zeitgenössischen Postillen erstellt und wirken absolut authentisch. Spielmaterial in Form handschriftlicher Aufzeichnungen wurde auch von Hand verfasst.

Den Text lockern viele Schwarz-Weiß-Fotografien auf, von denen einige auf Grund der Vergrößerung recht körnig oder unscharf wirken, was ihnen teilweise allerdings auch ein gewisses Flair verleiht.

Inhalt

Den Band leitet ein fünf Seiten langer Beitrag zum Thema Geisterschiffe ein, in dem sowohl auf mythische wie reale Vertreter dieser Gattung eingangen wird. Anschließend folgen die fünf Abenteuer:

„Schweres Wachs“ spielt – wie fast alle anderen Abenteuer auch – in den 1920er Jahren in Deutschland. Das eigenartige Ableben eines Forschers führt die Charaktere über eine Reihe von Nachforschungen von Berlin nach Hamburg, wo sie geheimen Machenschaften in einer Werft auf die Schliche kommen. Allerdings stellt sich bald heraus, dass selbst die Dunkelmänner keine Ahnung haben, womit sie eigentlich herumexperimentieren. Das dramatische Finale selbst spielt sich in den Tiefen des Meeres ab und die Charaktere haben dabei nicht nur gegen einen ungewöhnlichen Gegner, sondern auch noch gegen widrigste Umstände zu kämpfen. „Schweres Wachs“ wartet mit einer originellen Idee auf, die auch noch perfekt in einen geschichtlichen Kontext eingepasst wird, nach dem Motto „Es hätte so sein können.“ Der Autor hat sich offenbar gut mit den geschichtlichen und technischen Umständen vertraut gemacht. Die Nachforschungsteile des Abenteuers sind angenehm nicht-linear gestaltet; in kurzen Abschnitten erfährt der Spielleiter, bei welcher Örtlichkeit oder Person die Spielercharaktere was erfahren können. Der letzte Akt des Dramas ist weitgehend frei gestaltet, der Spielleiter erhält aber alle nötige Handhabe und einige Spieltipps, um die abschließenden Ereignisse nach seinem Gutdünken umsetzen zu können.

„Ein Schiff wird kommen“ spielt auf der deutschen Insel Neuwerk in der Helgoländer Bucht. Eine Reihe von Personen mit recht eigennützigen Interessen, die das Titel gebende Schiff betreffen, findet sich in einer Pension auf der Insel ein, in der auch die Charaktere logieren. Bald gibt es die ersten Toten ... Das Abenteuer lebt zum Einen von der Darstellung der vielen Nichtspielercharaktere, die ihre eigenen Pläne verfolgen, zum Anderen von diversen, zum Teil auch surrealen Fingerzeigen auf die Lösung des Abenteuers, welche die Charaktere im Laufe der Handlung erhalten. Wahrscheinlich werden sich die Charaktere sogar mit einer der konkurrierenden Parteien verbünden, um das Abenteuer abzuschließen; welche Folgen daraus entstehen können, bleibt abzuwarten.

„Die Büste der Lady Grey“ bringt die Charaktere von England nach New York und von dort wieder zurück – jedenfalls bleibt dies zu hoffen, denn in den Tiefen des Meeres wartet bereits der Tod. „Die Büste der Lady Grey“ wurde offenbar in Anlehnung an die „Jurassic Park“-Welle geschrieben – nein, es geht nicht um Dinosaurier – und stellt das geradlinigste aller Abenteuer in diesem Band dar. Es handelt sich dabei die Übersetzung eines amerikanischen Abenteuers, das schwerpunktmäßig für das viktorianische Zeitalter – „Cthulhu by Gaslight“ – gedacht ist, aber auch in den 1920er Jahren angesiedelt werden kann. Trotz seiner einfachen Struktur, in der die Charaktere lange Zeit wenig mehr tun können, als auf Ereignisse zu reagieren, haben die Autoren so viele mögliche Zwischenfälle vorgesehen, dass keine Langeweile aufkommen kann. Zudem erzeugt die Unausweichlichkeit des Geschehens eine drückende Atmosphäre, die allerdings verpufft, sobald die Natur der Bedrohung zu Tage tritt: Ein Grauen, das ein Gesicht hat, ist eben nicht mehr so grauenhaft. Der Rest der Geschichte ist zwar spannend, aber nicht mehr unheimlich und hat einen deutlichen „survival horror“-Einschlag. „Die Büste der Lady Grey“ ist meines Erachtens zwar das schwächste Abenteuer in diesem Band, aber auf alle Fälle für eine unterhaltsame Sitzung gut.

„Der Tod an Bord“ ist der Titel des folgenden Einmal-Abenteuers mit vorgefertigten Charakteren. Die Thematik erinnert an einen gewissen Film, dessen Titel nicht genannt werden soll, um nicht zu viel zu verraten. Nur so viel sei gesagt: Die grausige Pointe der Geschichte dürfte die Spieler recht unvorbereitet treffen. Die Handlung dreht sich um rätselhafte und zunehmend unheimlicher werdende Ereignisse an Bord des Passagierschiffes „Pandora“. Den unheilvollen Namen trägt der Kahn auch zu Recht, denn Chaos und Tod werden bald über ihn hereinbrechen. Die Geschichte spart nicht mit Blut, Gewalt und Schockeffekten sowie makaberen Szenen. Die drastische Darstellung ist jedoch nicht Selbstzweck, sondern vor dem Hintergrund des Abenteuers absolut passend und treffend. Das Abenteuer wird vom Autor selbst als schwierig zu leiten eingestuft; eine Zeitleiste der wichtigsten Ereignisse dürfte für den Spielleiter eine wertvolle Hilfe sein, ebenso die diversen Ratschläge des Verfassers.

„Gleißendes Feuer“ stellt als letztes Abenteuer des Bandes eine indirekte Fortsetzung von „Finstere Glut“ aus der Deutschlandbox „Blutige Kriege, Goldene Jahre“ dar, ist aber vollkommen eigenständig. Der Duisburger Hafen und das Umland werden von Sabotageakten erschüttert. Im Auftrag der Duisburger Polizei ermitteln die Charaktere in der Zerstörung eines Frachters, der offenbar Ziel eines Anschlages wurde. Ihre Untersuchungen zwingen die Charaktere jedoch bald, ihren Blick auf eine unbequemere Wahrheit zu lenken, die nicht so ganz in die polizeiliche Logik passen will. Auch nachdem der Attentäter zur Strecke gebracht wurde, ist der Schrecken noch lange nicht vorbei ... „Gleißendes Feuer“ benutzt ebenfalls die historische Wirklichkeit als Rahmen für das Abenteuer. Die Geschichte ist gut durchdacht und mischt Detektivarbeit mit knallharter Action. Ausführlich wird in Einschüben auf den Duisburger Binnenhafen und das Leben als Schiffer eingegangen, um das Umfeld möglichst glaubhaft darstellen zu können.

Fazit: „Geisterschiffe“ dürfte für nahezu jeden Geschmack ein passendes Abenteuer enthalten. Zudem beweist dieser Band, wie vielschichtig und erfrischend der Cthulhu-Mythos interpretiert werden kann, ohne das Rad neu erfinden zu müssen. Weit weg von „auf der Spur eines verschwundenen Freundes stößt die Gruppe auf einen Haufen Kultisten, die ein uraltes Übel erwecken wollen“ garantiert „Geisterschiffe“ eine geballte Ladung Spielvergnügen.


Geisterschiffe
Abenteuerband
Peer Kröger, Kevin A. Ross, Ralf Sandfuchs u. a.
Pegasus Spiele 2005
ISBN: 3-937826-24-6
166 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 24,95

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