Gefallene Engel

„Der Krieg ist wie jede andere schlechte Beziehung. Natürlich will man sich trennen, aber zu welchem Preis? Und die möglicherweise viel wichtigere Frage lautet: Wird man nach dem Ende der Beziehung wirklich besser dastehen?“ – Quellchrist Falconer, Kampf-Tagebücher

 

Richard Morgans fiktives Zitat bringt es für den zweiten Roman „Gefallene Engel“ der losen Reihe um Takeshi Kovacs auf den Punkt. Diesmal ist er als Konzernsöldner engagiert und entdeckt dabei Weltenbewegendes!

 

von Jorge C. Kafka

„In nicht allzu ferner Zukunft hat der Tod seinen unmittelbaren Schrecken verloren. Das menschliche Bewusstsein wird in einer Datenbank abgespeichert und kann je nach Bedarf in einen Körper zurücktransferiert werden. Diese Körper, ‚Sleeves‘ genannt, sind in aller Regel Klone, doch nur die Reichen können sich eigene Klone leisten – alle andere müssen nach dem ‚Download‘ mit einem anderen Körper als dem vorherigen weiterleben.

So wie der Takeshi Kovacs, ehemaliger Privatdetektiv, der nun als Söldner einer Elite-Einheit auf einem Planeten fern der Erde eingesetzt wird, auf dem man rätselhafte nicht-menschliche Artefakte entdeckt hat. Bald muss Kovacs erkennen, dass er an einem Himmelfahrtskommando teilnimmt – und dass für Sleeves das Wort ‚Kanonenfutter‘ eine spezielle Bedeutung hat…“ (Klappentext)

Takeshi Kovacs ist zurück. Diesmal ist er in seinem Element. Angeheuert als Söldner vom UN Protektorat, um eine Revolution auf dem Planet Sanction IV niederzuschlagen. Doch die Mission scheitert, er landet in einem Orbitalhospital und lernt Sergeant Jan Schneider kennen, der sich als ehemaliger Archäologe entpuppt. Dieser berichtet ihm von einem uralten Artefakt einer nicht-menschlichen Zivilisation, das sich noch auf dem Planeten Sanction IV befindet. Kovacs sieht in der Inanspruchnahme und Ausgrabung dieses Artefakts für einen Konzern seine Chance, schnell an viel Geld zu kommen.

Zunächst jedoch gilt es, Tanya Wardani – die ehemalige Ausgrabungsleiterin, Expertin und Kollegin Schneiders – aus einem bestialischen Internierungslager zu befreien. Mit dieser Aktion beginnen jedoch die politischen Probleme, die zunächst nicht schlimmer scheinen als die Tatsache, dass die Grabungsstelle nahe der Stadt Sauberville liegt, die durch einen Atomschlag des UN Protektorats vernichtet wurde. Kovacs und seiner auf dem Seelenmarkt handverlesenen Truppe Söldnern ist von Beginn an klar: Werden sie nicht von einem konkurrierenden Konzern oder einer militärischen Gruppierung bei ihrem Vorhaben getötet, die Strahlenkrankheit wird es ganz sicher und auf sehr schmerzhafte Weise tun.

Als die Schatzsucher die Leichen zweier Archäologen an der verlassenen Ausgrabungsstelle finden, die anscheinend mit der Aktivierung des Artefaktes – ein großer Torbogen, der in einen unbekannten Sektor des Alls führen soll – befasst waren, spitzt sich die Situation auf dem Planeten immer mehr zu. Die Spannungen in der auf Raten sterbenden Gruppe werden größer, denn in dem Mächtespiel um das Artefakt wir nicht nur deutlich, dass es mehr als nur eine Interessenpartei gibt, sondern dass hinter dem Tor ein enormes außerirdisches Raumschiff liegt, das ein gigantisches Vermögen wert sein muss…

Wer mit „Gefallene Engel“ einen weiteren Future Noir-Thriller wie „Das Unsterblichkeitsprogramm“ erwartet, wird sehr schnell enttäuscht sein. „Gefallene Engel“ – im Original „Broken Angels“ (2003 erschienen) – mutet zunächst an wie ein geradliniger Military Science Fiction. Doch die Exposition des Romans inklusive der brillant geschriebenen Sequenz über den Seelenmarkt führen in eine kongeniale Melange aus klassischem Abenteuerroman und Hard Science Fiction. Robert Luis Stevenson, Joseph Conrad, Poul Anderson und Bob Shaw waren sicher die Taufpaten dieses zweiten Romans.

„Sie kommen gerade rechtzeitig. Ich bin Semetaire. Willkommen auf dem Seelenmarkt.“
(…)
„Seht“, sagte er. Auf dem Deck rollte eine Frachtlore heran, die einen kleinen Behälter mit Hebearmen hielt. Wir sahen, wie sich der offene Behälter neigte und sich der Inhalt langsam über den Boden ergoss. Er sah aus wie eine Welle aus herum springenden Hagelkörnern.
Es waren kortikale Stacks.
(…)
„Die meisten verkaufen sich nach Bruttogewicht“, murmelte er. „Das ist einfach und billig.“

Was im Debüt-Roman noch als Hintergrundgeschichte diente, gereicht in „Gefallene Engel“ zu einem bitteren Statement über die kolonialistische Realpolitik des UN Protektorats. Morgan wirft einen langen Blick auf Sanction IV, eine Kolonie des Protektorats, die den Aufstand probt und von einer Euphemismus-Armee, dem Envoy Corps, niedergehalten werden soll. Wobei Morgan das Wort „Envoy“ im doppelten Sinne beschönigend wirken lässt, denn die Gesandten oder Parlamentäre (dt. Übersetzung von „Envoy“) sind zum einen nichts anderes als hoch spezialisierte, konditionierte Soldaten mit Eliteausbildung in chemisch und mechanisch aufgerüsteten Körpern und zum anderen Dutzendware aus dem militärischen Industriekomplex.

Diejenigen Leser, die schon bei „Das Unsterblichkeitsprogramm“ von der drastischen Beschreibung der Gewalt und der sexuellen Praktiken, die Morgans Protagonisten ausüben, abgeschreckt waren oder gar Ekel empfanden, sollten vom zweiten Buch lieber die Finger lassen. Morgan verabscheut es, Gewalt light zu verwenden. Diese Art von konsequenzenloser Gewalt, wie man sie beispielsweise in „Flughafenwartezonen-Krimis und Fernsehserien wie dem A-Team“ (O-Ton Morgan in einem Interview) findet, sind ihm wegen der unehrlichen und bigotten Haltung zuwider. Gewalt ist Morgans Meinung nach aufregend und widerlich zugleich und hat in jeder Form eine unwiderrufliche Wirkung.

Morgans persönliche Einstellung gegenüber dem menschenverachtenden Verhalten des UN Protektorates oder den gierigen Geiern, die die Schlachtfelder nach kortikalen Stacks abgrasen, bleibt im Roman immer deutlich zwischen den Zeilen lesbar, auch wenn die teils zynischen, teils sogar schon misanthropischen Bemerkungen der Hauptfigur einen anderen Eindruck vermitteln. Der britische Autor fährt einen harten Kurs gegen das sinnlose Verheizen von Menschenmaterial im kolonialistischen Krieg der UN, zumal im besten Falle nur Fleisch und Knochen die Kriegsfelder düngen und die teuer konditionierten Söldnerseelen in neue Kämpferkörper gesleevt und erneut an die Front geschickt werden.

Morgans Idee des Körperwechsels, der Altersüberwindung und des digitalen Lebens ist aber noch lange nicht ausgereizt. Vermutlich will der Autor seine Leser trotz seiner bisherigen Drastik behutsam an den Abgrund heranführen, um ihm dann lakonisch mitteilen zu können, dass der Abgrund auch tief in ihn hineinblickt. Wie Seelen zerstörend und im Grunde Leben verachtend diese Technologie verwendet wird, davon sprechen die an der Strahlenkrankheit verrottenden Söldner Bände, kalkulieren sie und der Konzern doch von Anfang an den Wunsch ein, nach gelungener Expedition und ihrem unvermeidlichen Tod ein wesentlich luxuriöseres Leben in einem anderen, neuen und gesunden Körper fortzuführen.

Die Bezüge zur gegenwärtigen Realpolitik der USA und den Methoden modernder neokapitalistischer Konzerne und Industriekonglomerate arbeitet Morgan in „Gefallene Engel“ stärker heraus. Akteure verschiedener Parteien und Gruppierungen gewinnen deutlich mehr an Profil, weil sie nicht nur mehr – wie im Film Noir – low oder high key beleuchtet werden. Das trifft übrigens auch auf die Äonen alte Zivilisation zu, von der die Schatzsucher um Kovacs immer mehr ans Tageslicht fördern. Das Psychotische und Antiheldische des Hauptprotagonisten Takeshi Kovacs gewinnt diesmal so sehr an Substanz, dass er schlüssiger und damit auf seine eigene Art sympathischer wird, als er es bereits im Debüt-Roman war.

Richard Morgans cineastischer Erzählstil ist und bleibt eine wahre Lesefreude, zumal er nicht – wie mittlerweile jeder neue Michael Crichton-Roman – den beständigen Eindruck erweckt, eigentlich ein 600 Seiten starkes Drehbuch für einen Future Noir-Blockbuster zu sein. Auch bei der Typisierung der Protagonisten verfällt Morgan nicht in die Manier, sie gegenwärtigen Hollywoodschauspielern quasi auf den Leib zu schreiben. Im Gegensatz zu „Das Unsterblichkeitsprogramm“ verknüpft Morgan diesmal alle losen Erzählenden und die kleinen Nebenhandlung wirken nicht wie nachträglich eingefügt.

Fazit: „Gefallene Engel“ ist unbedingt eine positive Empfehlung wert. Wo manch zweiter Band eines Autors schwächelt, da gewinnt Richard Morgans Roman eher an Fahrt. Für knapp unter 9,- EUR erhält der Leser einen futuristischen Schatzsucherroman mit ungeschönten Schilderungen von Gewalt, Sexualität und Macht, die die Konzerne ebenso durchziehen und korrumpieren wie die Politik und das Militär. Die Hauptfigur Takeshi Kovacs ist diesmal nicht der chandleresque Future Noir-Detektiv, sondern eher der Suchende und von Beginn an zum Scheitern Verurteilte, der statt im afrikanischen Dschungel (wie Joseph Conrads Protagonist aus „Heart of Darkness“) in einem gewaltigen Alien-Raumschiff das (vorläufige) Ziel seiner (inneren) Reise erreicht. „Das Grauen! Das Grauen!“


Gefallene Engel
Science-Fiction-Roman
Richard Morgan
Heyne 2005
ISBN: 3-453-52051-3
592 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: EUR 8,95

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