Expeditionen – Ins Herz der Finsternis

Der Weltball – unendliche Weiten. Dies sind die Abenteuer verwegener „Cthulhu“-Charaktere, die sich in den 1920ern aufmachen, neue Länder zu entdecken und unbekannte Zivilisationen zu erforschen. Dabei dringen sie in Gebiete vor, die nie zuvor ein geistig gesunder Mensch gesehen hat...

von Reinhard Kotz

 

I. Form
„Expeditionen“ erscheint in einem stabilen Hardcover. Das Buch hat einen schönen Einband und ein stimmiges Design. Schon beim ersten Durchblättern fällt auf, dass die cthulhuiden Gesetzesanbeter (= die Leute von Pegasus) ganze Arbeit geleistet haben. Das Buch ist übersichtlich gestaltet und quillt zu meiner großen Freude fast über vor stimmungsvollen und inhaltlich passenden Bildern. Zu den einzelnen Abenteuerschauplätze gibt es sehenswerte Karten, die gekonnt das Nützliche mit dem Schönen verbinden. Angesicht der letzten PISA-Studien gibt es sogar zu den meisten Ländern, in denen die Abenteuer spielen, eine Landkarte, damit man gleich sehen kann, wo die genannten Städte liegen (z. B. Boma). An die zahlreichen ansprechenden Handouts hat man sich mittlerweile schon gewöhnt, so dass sie keiner besonderen Hervorhebung mehr bedürfen. Schön, dass es auch zu jedem wichtigen NSC ein passendes Foto gibt. Doch man hätte meiner Woge der Begeisterung noch die Schaumkrone aufsetzen können, wenn man nachfolgende Punkte beachtet hätte:

  • Es wäre wünschenswert, wenn es zu allen NSC im Anhang noch Karteikarten geben würde, die man an die Spieler austeilen könnte.
  • Vereinzelte Handouts sind mit einer Handschrift geschrieben worden, die schlimmer ist als meine. Spielern kann man dies zumuten, einem Meister nicht! Aber für den gibt es leider keine zusätzlichen (lesbareren) Versionen. Zumindest nicht in diesem Buch. Man kann die Texte zwar in Klarform auf der Seite www.pegasus.de unter dem Link "Spielhilfen" herunterladen. Leider fehlt aber im Buch ein Hinweis auf diese Möglichkeit.
  • Die Karten für die Länder sind größtenteils unbrauchbar, da man ohne Lupe kaum etwas erkennen kann.. Hier war der Wille wieder einmal besser als die Umsetzung. Eine Verbesserung der PISA-Ergebnisse wird man damit kaum erzielen können...
  • Und schließlich hätte mir noch gewünscht, dass erklärt wird, was historisch korrekt und was der Phantasie der Autoren entsprungen ist. Beispielweise hätte ich gerne gewusst, ob es den Stamm der Sampan Suku oder die Thule-Gesellschaft tatsächlich gibt oder ob beide frei erfunden sind.

Trotz der eben aufgezählten Kritikpunkte ist das Buch hervorragenden aufgemacht und verdient ein dickes Kompliment. So muss ein Rollenspielbuch aussehen, dann klappt es auch mit den Käufern!

II. Inhalt
Das Unbekannt hat den Manne schon immer gereizt, weswegen er sich auch zur Frau hingezogen fühlt. Doch in diesem Buch erscheint das Böse in einer anderen Form: in fünf Abenteuern, die die Charaktere in für die damalige Zeit nahezu unbekannte Territorien führen. Vorab gibt es noch ein allgemeines Kapitel über Expeditionen. Dabei werden verschiedene Motive aufgezählt, etwas Logistik betrieben und ein paar Regel für die Verwaltung von Expeditionsausrüstung vorgeschlagen.

Ein brauchbares und nett zu lesendes Kapitel. Für meinen Teil hätte ich mir hier noch mehr (oder überhaupt) Informationen über einige historisch bekannte Expeditionen sowie berühmte Forscher und Handlungsreisende gewünscht. Ähnlich wie es in einem hervorragenden Artikel in der „Cthuloide Welten 9“ behandelt worden ist, nur mehr, mehr, mehr....

Ewiges Eis (Von Sebastian Weitkamp)
„Ewiges Eis“ steht drauf und ewiges Eis ist drin. Diese Abenteuer beginnt eiskalt mit einem Schocker (den ich hier nicht verraten möchte, falls ein Leser das Abenteuer noch spielen möchte) und zieht die Spieler durch dieses sonderbare Ereignis sofort in seinen Bann. Die sich anschließenden Nachforschungen im detektivischen Stile führen nach Stockholm und Berlin, ehe unsere Heißsporne ihre Wärmflaschen einpacken und sich auf den Weg nach Grönland machen, um im Rahmen einer Expeditionen nach einem verschwundenen Luftschiff zu suchen. Dabei dringt die Gruppe in das ewige Eis vor und muss sich neben den rauen Umweltbedingungen auch noch mit einige seltsamen Schneemenschen herumschlagen, die eine mysteriöse Tempelanlage bewachen. Am Ende stehen dann die Charaktere vor einem großen Berg Probleme... (diese Anspielung versteht man erst nach dem Abenteuer)

Alles in allem ein gutes Abenteuer, das durch einen tollen Einstieg, seine verschiedenen Schauplätze sowie einer guten Mischung aus Action und Denkarbeit zu gefallen weiß. Das Abenteuer verläuft zunächst sehr geradlinig, ohne jedoch die Spieler in ihrer Handlungsfreiheit wesentlich einzuschränken, was es sehr angenehm zu leiten macht. Einzig das Ende ist etwas konfuser, da viele Köche bei der finalen Eisherstellung mitmischen und man als Spielleiter je nach den vorherigen Aktionen der Charaktere sehr flexibel und spontan reagieren muss, um einen geschmackvollen Showdown zu inszenieren. Denn es wäre schade, wenn man das Abenteuer auf den letzten Metern durch eiskalte Unlogik verderben würde...

Herz der Finsternis (von Ingo Ahrens)
Dieses Abenteuer stützt sich auf den gleichnamigen Roman von Joseph Conrads (auf den sich im übrigen auch der Film „Apokalypse Now“ bezieht), nur dass die Geschichte hier mit cthuloiden Schrecken erweitert wird. Die Charaktere sind Teilnehmer einer wissenschaftlichen Expedition nach Belgisch Kongo, die Beweise für die Existenz des Mokele-Mbembe suchen soll. Dabei handelt sich vereinfacht gesagt um einen kongorianischen Yetisaurier, der irgendwo im Dschungel vom kongorianischen Loch Ness sein Unwesen treiben soll. Mit von der Partie sind zahlreiche Wissenschaftler und einheimische Führer und Lastenträger. In Kongo besteigt die Expedition einen kleinen Flussdampfer und fährt flussaufwärts. In dem unübersichtlichen Dickicht des Dschungels, durch den sich die zahlreichen Flussarme wie Spinnfäden ziehen, hoffen die Wissenschaftler Hinweise auf den Mokele-Mbeme zu finden. Zunächst gestaltet sich die Expedition fröhlich und interessant, doch je tiefer sie in den Dschungel eindringt, desto seltsamer und kurioser werden die Ereignisse. Die Stimmung schwappt über und die Charaktere müssen schon Acht geben, nicht ihren Kopf zu verlieren. Und am Ende erwartet sie ein selbsternannter Gott der Gewalt, der Wahnsinn in Menschengestalt, und stellt die Charaktere vor eine Entscheidung, die ihr Leben verändern wird.

Das vorliegende Abenteuer ist äußerst reizvoll. Es lebt durch die kuriosen Ereignisse im Dschungel, die sich langsam aufbauen und zusehends schockierender werden. Gerade das Spannungsfeld zwischen zivilisiertem Verhalten und wilder Brutalität lässt erkennen, warum man im Dschungel so leicht seinen Verstand verlieren kann. Die gefährliche Umgebung bietet zudem genügen Möglichkeiten für Actionszenen. Für den intellektuellen Anspruch ist mit der Auseinandersetzung am Ende ohnehin gesorgt. Das Abenteuer stellt hohe Anforderungen an alle Beteiligte. Der Spielleiter muss die Situation aus Bedrohung und Verführung glaubhaft rüberbringen. Die Spieler hingegen müssen vor allem gutes Rollenspiel zeigen, damit man die drückende Stimmung im Dschungel verbunden mit dem zunehmenden Wahn besser greifen kann. Wenn hier alle an einem Strick ziehen, dann kann dies ein fesselnder Spielabend werden. Etwas hinderlich mag allerdings sein, dass sich das Abenteuer auf einen sehr bekannten Film stützt. Zwar hat die Kenntnis dieses Film keine Auswirkungen auf die Reise durch den Dschungel, aber so einiges wird den Spielern dann doch sehr vertraut vorkommen. Im Großen und Ganzen ein beeindruckendes Abenteuer, das wegen seiner Anspruchs wohl nur erfahrenen Spieler empfohlen werden kann.

Curso Cannibale (von Matthias Oden)
Der Tod ist eine schlimmes Sache – außer man ist der Erbe des Toten, dann ist er einigermaßen zu ertragen. Mit dieser Weisheit muss sich auch ein Charakter trösten, der die unerwartete Nachricht erhält, dass sein reicher Onkel in Amerika verstorben ist und er ihn möglicherweise beerben wird. Möglicherweise deswegen, weil es noch einen zweiten entfernten Verwandten gibt und der wahre Erbe in einem Wettrennen ermittelt werden soll, denn der Onkel möchte keinen Memmen als Nachfolger haben. Hierzu muss der Charakter nur eine Strecke von A nach B schneller als sein Konkurrent zurücklegen. Dumm nur, dass sowohl A als auch B im tiefsten Dschungel des Amazonasgebietes liegen. Die Reise soll zunächst mit einem Boot, später dann zu Fuß zurückgelegt werden. Der Erbe und die Charaktere (seine Freunde) begeben sich nach Südamerika, stellen ein Team von bis zu zehn Leuten zusammen und los geht die Reise durch das unentdeckte Land. Dabei werden die Charaktere zu ihrem Leidwesen schnell feststellen, dass die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten nicht immer eine Gerade ist. Auf ihren Ellipsen, Kreisen und Spiralen dürfen sich die Charaktere mit den Gefahren des Dschungel, mit knappen Ressourcen und den strengen Regeln des Wettrennens herumschlagen. Dabei dringen sie immer tiefer in den Dschungel ein und stellen plötzlich fest, dass sie sich in einem Gebiet aufhalten, in dem Kannibalen hausen... Mahlzeit!!

„Curso Cannibale“ ist ein schnelles und geradliniges Abenteuer, das sich auf das Wesentliche beschränkt und gerade deswegen packend und spannend ist. Das Wettrennen allein weiß schon zu gefallen und durch die drohende Gefahr, im Magen eines Kannibalen zu landen, wird auch auf subtile Weise der Horror eingeführt. Der Mythosbezug dabei ist eher gering, sodass sich das Abenteuer hervorragend für Neueinsteiger eignet, um diese in die Materie einzuführen. Auch das Übersinnliche wurde nur sehr dezent eingesetzt und wer es wünscht (wie ich), kann das Abenteuer ohne Schwierigkeiten so abändern, dass alles auf natürliche Art und Weise erklärt werden kann. Man könnte „Curso Cannibale“ gar als Lightversion von „Herz der Finsternis“ betrachten, denn auch hier besteht die Grundidee darin, durch den Dschungel zu reisen. Und ob es sich dabei um den Dschungel von Kongo oder von Brasilien handelt, macht wohl nur für den besserwisserischen Geographiestudenten einen Unterschied. Doch im Vergleich zu „Herz der Finsternis“ ist „Curso Cannibale“ deutlich leichter zu leiten. Zudem ist auch die Motivation der Spieler näher am wirklichen Leben (Geld statt Wissenschaft). Besonderst gut hat mir auch der Sprachstil des Autors gefallen, da er geschickt mit Worten hantiert und so für das ein oder andere Schmunzeln sorgt. Kurzum: ein echter Leckerbissen!

Die vergessene Stadt (von Michael Cisco)
Auf einem Berggipfel in den Anden wird eine alte Stadt entdeckt. Selbstverständlich sind schnell einige Archäologen zur Hand, die eine Expedition organisieren, um sie zu erforschen. Und natürlich kommt es, wie es kommen muss: die Expedition verschwindet spurlos. Die Charaktere werden daher beauftragt, nachzusehen, was aus den Expeditionsteilnehmern geworden ist. Der Weg zu der Stadt ist schnell zurückgelegt, doch was die Charaktere hier erwartet, dürfte mehr als überraschend sein. Werden die Charaktere das Rätsel um die Stadt lösen können oder verschwinden auch sie spurlos von der Bildfläche?

Wer hoch hinaus möchte, der sollte sich dieses Abenteuer nicht entgehen lassen, denn in den Anden wartet ein kurioses Geheimnis darauf, kurios zu bleiben. Viel mehr kann man leider nicht über das Abenteuer erzählen, da man sonst zu viel preisgeben müsste. So viel sei aber gesagt: Das Abenteuer ist besser für erfahrene Spieler geeignet, da der Spannungsbogen des Abenteuers irrationales Verhalten sowie viel zu komplizierte Gedankengänge der Spieler voraussetzt, um voll zur Geltung zu kommen. Also ein Verhalten erfordert, wie es erfahrene Spieler (ohne nachzudenken) an den Tag legen. Bei unerfahrenen Spielern besteht hingegen die Gefahr, dass diese durch intelligentes Verhalten, das Abenteuer zerstören. (Aber deswegen braucht ihr nicht den Kopf hängen zu lassen. Wenn ihr immer fleißig am Ball bleibt, dann schafft ihr es eines Tages auch in die erlesene Riege der erfahrenen Rollenspieler!) Zudem ist das Abenteuer wie geschaffen für einen Spielleiter, die einen Hang zum subtilen Sadismus hat, da er sich im Stillen herrlich über das (törichte) Verhalten seiner Spieler amüsieren kann, ohne dass diese überhaupt verstehen können, warum der Spielleiter so verzückt ist. Kurzum: Spieler, die sich als Meisterbespaßer zu schade sind oder nicht die Größe besitzen, eine kleine Rolle zu übernehmen, sollten die vergessene Stadt vergessen. Alle anderen sollten sich das Abenteuer nicht entgegen lassen!

Die letzte Ruhe der Minna B. (von Peer Kröger)
Es gibt Dinge, die gibt es nicht! Für alles andere gibt es Versicherungen! Wenn ein Schiff in der Nähe von Norwegen verschwindet und ein Matrose von diesem Schiff kurz darauf in Neu Guinea auftaucht, dann bestehen berechtigte Zweifel daran, dass hier noch alles mit rechten Dingen zugeht. Das gleiche dachte sich auch Herr Blohm, seines Zeichens Inhaber der Reederei, der das Schiff gehörte, und schickte eine handvoll Handlanger (= Charaktere) nach Neu Guinea, die herausfinden sollen, was passiert ist. In Neu Guinea treffen die Charaktere auf den verwirrten Matrosen und erfahren, dass dieser in der Nähe eines Einheimischendorfes gefunden worden ist. Die Reise dorthin dauert knapp zehn Tage und schon wieder ist man auf einer Expedition, doch diesmal spielt weniger der Weg als das Ziel eine Rolle (Heraklid muss doch unrecht gehabt haben!). Das Dorf hat nämlich die ein oder andere Besonderheit aufzuweisen und nur, wenn die Charaktere alle Puzzelsteine zusammenfügen, können sie alles begreifen und das Schlimmste verhindern...

Das Abenteuer ist sehr geradlinig und dürfte die Spieler vor keine allzu großen Probleme stellen (außer es handelt sich um erfahrene Spieler, dann könnte es leicht passieren, dass diese den Weltuntergang einleiten). Es hat jedoch einen originellen Hintergrund und kann auch en passant mit kleineren Finessen aufwarten. Fazit: Auch dies ist ein schönes Abenteuer.

Fazit.
Grönland, Afrika, 2x Südamerika und Ozeanien. Wer alle Abenteuer durchspielt hat, braucht keinen PISA-Test in Geographie mehr zu fürchten. Und nach den vielen Strapazen, den weiten Holzwegen und diversen Verlusten von Körperteilen sowie geistiger Stabilität kann sich unser Weltenbummler beruhigt zurücklegen und sich seiner Frau oder seinen neuen paranoiden Fertigkeiten widmen. Aber Spaß gemacht haben die Abenteuer allemal, denn die verschiedenen Schauplätze, die interessanten Aufgaben und die cthuloiden Schrecken waren alle Mühe wert. Urteil also: Alle Abenteuer können überzeugen! Die Mischung aus Action und Denkarbeit ist optimal!. Selten hat mir ein „Cthulhu“-Band so gut gefallen.


Expeditionen - Ins Herz der Finsternis
Abenteuerband
Matthias Oden, Peer Kröger u. a.
Pegasus Press
ISBN: 3-937826-86-6
Seiten: 172, Hardcover, deutsch
Preis: EUR 24,95

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