von Jan Stetter
„Elyrion“ ist ein genuin deutsches Rollenspiel aus der Feder von Christian Loewenthal und Marcel Hill, umfangreich illustriert von Mateja Petkovic, Mia Steingräber, Katarina Topic und anderen. Der Prometheus Games Verlag, der das Spiel herausgibt, ist in der Szene bereits durch erfreuliche Ambitionen, Spielernähe und eine bemerkenswerte Umtriebigkeit aufgefallen, weshalb ich den Beteiligten natürlich jeden erdenklichen Erfolg wünsche.
Das Genre „Elyrions“ bezeichnen die Autoren als „Steamfantasy“, womit heutzutage eine Melange aus klassischen Fantasyelementen, Magietechnik, Dampftechnologie und gesellschaftlichen wie auch kulturellen und modischen Aspekten der frühen europäischen Neuzeit und des Mittelalters gemeint ist. Das Buch selbst ist sehr solide verarbeitet, hat schönes Papier und ein gelungenes, wenn auch wieder einmal ziemlich martialisches Umschlagsfarbbild. Lediglich das Logo ist recht schwer zu lesen und der klaren Präsentation sehr abträglich.
Das Handwerkliche und Technische
Auf seinen 315 überwiegend ansprechend gestalteten Seiten mit Graustufendruck bietet „Elyrion“ eine Fülle von Informationen jeder Art, die den Hintergrund der Welt, das Regelsystem und alle nötigen Spielvoraussetzungen darbieten. Für ein Erstlingswerk in der Version 1.5 ist das zwei- bis dreispaltige Layout überwiegend gut gelungen, manchmal allerdings etwas unstimmig. Doch schwarzer Text auf beständig grauen und stellenweise dunkelgrauen Flächen ist nicht gerade sehr augenfreundlich, und nach einigen hundert Seiten der Lektüre habe ich mir eine sehr viel leserfreundlichere Gestaltung gewünscht.
Als ein weiteres Problem empfinde ich auch die fortschreitende Rechtschreibschwäche deutscher Rollenspielautoren. Schon andere Produkte größerer Verlage haben diesbezüglich so manches Mangelhafte abgeliefert, und die Autoren von „Elyrion“ gesellen sich leider ausnahmslos dazu. Ich kann mich an keinen Absatz erinnern, in dem nicht mindestens ein Interpunktionsfehler zu finden ist – und zwar unabhängig von den Zweifelhaftigkeiten und Problemen, die durch die Rechtschreibreform hervorgerufen wurden. In der Regel sind es aber gleich mehrere Fehler dieser Art, sodass ich dem Lektorat leider eine sehr schlechte Arbeit bescheinigen muss – und das Rezensionsexemplar ist schon die überarbeitete Fassung von „Elyrion“. Da wuchs also wieder einmal zusammen, was nicht zusammengehörte...
Die Karte der Welt
Dem Buch liegt eine DIN-A2-Farbkarte des Spielkontinentes Audakia bei. Die Karte ist farblich schön gemacht, aber den Kontinent selbst empfinde ich als eine bemerkenswert lieblose Landmasse mit einigen vorgelagerten Inseln. Auch die Topographie (besonders die Gebirgsverteilung) erweckt wieder einmal den Eindruck, dass da nichts Natürliches gewachsen ist, sondern einfach nach Gutdünken losgezeichnet wurde. So gibt es leider wieder keinen Äquator und nachvollziehbare Klimazonen, dafür aber alles vom ewigen Eis über gewaltige Steppen bis hin zu Wüsten und Dschungeln auf einem Kontinent.
Gedanklich entstehen unweigerlich Vergleiche mit einem anderen in Deutschland sehr bekannten Spielkontinent, die noch durch ominöse weitere Kontinente auf „Elyrions“ Welt Athirû befördert werden, von denen die Audakianer aber angeblich nur Mythen und Legenden kennen würden: ein Waldreich im Westen, ein Wüstenreich mit schwarzen Echsen im Süden und ein riesiges Jadereich im Osten. Damit hätten wir wieder alle Verdächtigen der realen Weltkulturen beisammen. Aber gut... Es ist eben Fantasy, da kann man zeitweise wohl nachsichtig sein.
Ebenso bereitet mir jedoch der sehr große Maßstab Unbehagen, denn dafür, dass der Kontinent viele Tausend Meilen in der Breite und mehr als das Doppelte davon in der Länge misst, wirkt er in seiner Gestaltung einfach außergewöhnlich „klein“ und darüber hinaus sehr spärlich besiedelt. Ich frage mich, wie es dauernd zu diesen mächtigen Kriegen kommen konnte, wenn zwischen den städtischen Zentren solche enormen Entfernungen bestehen.
Summa summarum: Die Karte des Spielkontinentes konnte mich inhaltlich und konzeptionell in keiner Weise begeistern.
Die Einführung
Nach einigen sinnvollen Präliminarien zum Rollenspiel und zur Gliederung des Buches (vier Seiten) bekommt der Leser im 2. Kapitel auf ebenfalls nur vier Seiten einen kurzen Überblick über Audakia, dessen Geschichte, Geographie, Klima und Technologie. „Elyrion“ soll eine phantastische Welt voller wundersamer Regionen, einzigartiger Geschöpfe und technischer Errungenschaften sein, geprägt vom ewigen Konflikt der beiden Urkräfte – Elyrion und Anhjôrai. In einem Werbetext heißt es:
„Von Leben erfüllte Wälder wechseln sich mit dunklen, molochartigen Städten ab, Magie ist allgegenwärtig, und die Unsterblichen selbst nehmen Einfluss auf die Welt und treiben ihre Pläne mit Intrigen und Krieg voran. Die Welt von „Elyrion“ ist in weiten Teilen mit dem irdischen Mittelalter vergleichbar, doch durch das Zusammenwirken von Magie und Technik und dem Einfluss von Göttern und Dämonen gibt es entscheidende Unterschiede zu unserer eigenen Vergangenheit. Dampfkraft und Schwarzpulverwaffen sind ebenso bekannt wie arkanomechanische Konstrukte, in denen Lebewesen und Maschinen eine Symbiose eingegangen sind.“
Das macht den Rollenspieler natürlich neugierig. Mir missfiel bei der folgenden Lektüre aber die Konfrontation mit zahlreichen Namen, mit denen ich noch gar nichts verbinden konnte und die höchstens mit einem Nebensatz oder einem Begleitwort grob verdeutlicht wurden. Auch die pathosschwangere Sprache konnte mir nicht den Eindruck nehmen, dass der mythische und der geschichtliche Hintergrund der Welt nicht wirklich originell sind. Am meisten störte mich dabei, dass „Elyrion“ einerseits „Steamfantasy“ voller magischer und profaner Technik sein soll, andererseits aber der Großteil der Menschen wie im frühen Mittelalter leben soll und die Erforschung neuer Techniken aus für mich zweifelhaften Gründen nachgelassen hätte. Als Erklärung finde ich im Werbetext:
„Der Grund, warum der Stand der Gesellschaft nicht bereits viel weiter fortgeschritten ist, liegt in den großen Umwälzungen und Katastrophen der letzten Jahrhunderte, die das Gesicht der Welt zerrissen haben. Hunderttausende starben, technische Errungenschaften und uraltes Wissen gingen verloren, und erst in den letzten Jahren schicken die Völker sich an, die Welt erneut zu erobern.“
Mir kam bei diesen Zeilen unter anderem der Verdacht, dass vielleicht doch nicht so viel „Steam“ und Technik in „Elyrion“ zu finden sein könnten, wie es die ersten Beschreibungen der Einführung vermuten ließen. Und die Glaubwürdigkeit der Welt, wie sie die Autoren zu Beginn des Buches hervorheben, hat mich unter dem Strich noch nicht überzeugen können, vor allem nicht mit Blick auf die Größe des Kontinentes. Allerdings gilt auch hier wieder: Es ist eine Fantasywelt, da dürfen also auch andere Maßstäbe gelten. Somit werden die nächsten Kapitel zeigen müssen, was wirklich in „Elyrion“ steckt.
Die Genesis und Historie
Im Kapitel 3, auf den Seiten 18 bis 33, schildern die Autoren die Schöpfungsgeschichte und die daran anschließende Entwicklung der Welt. Diese ist gekennzeichnet von gewaltigen Kriegen zwischen allen maßgeblichen Fraktionen – Göttern, Unsterblichen, Sterblichen, Drachen usw. –, von Verrat, Seuchen und wieder Kriegen, zwischen denen gelegentlich Zeitalter des Friedens und Wohlstands aufblühten. Mit der menschlichen Geschichte im Hinterkopf ist das durchaus nachvollziehbar, denn auch die reale Geschichte ist alles andere als ein Paradebeispiel für Friedliebigkeit.
Doch hätte ich mir bei „Elyrion“ etwas mehr Originalität gewünscht. Wer Tolkien kennt oder die Historien anderer Settings (etwa „Agones“ oder der Vergessenen Reiche), der findet bei „Elyrion“ nichts wirklich Neues: Gut und Böse entstehen und bekriegen sich bis zur Vernichtung, Imperien wachsen und fallen, Völker gedeihen und verderben. Besonders vermisst habe ich Details zur Entstehung und Entwicklung der Magie und Technik. Von „Steamfantasy“ also bisher keine deutliche Spur.
Das alles wird mit einer Sprache berichtet, die mir persönlich zu reich an Adjektiven, zu blumig und „dick aufgetragen“ ist. Vermutlich soll dadurch der klassische Erzählstil alter Heldenepen simuliert werden, doch eine Beschäftigung mit den antiken Klassikern und menschlichen Schöpfungsgeschichten offenbart zumeist eine ganz andere Sprache, die viel einfacher, subtiler und anmutiger ist. Insgesamt finde ich Genesis und Historie der Welt von „Elyrion“ also stimmig und solide, aber wenig originell und mit einer Sprache vermittelt, die meinem persönlichen Geschmack nach das Gegenteil dessen erreicht, was sie erreichen will. Allerdings denke ich, dass sowohl der Inhalt als auch die Sprache dieses Kapitels vielen Rollenspielern und besonders Neulingen unseres Hobbys durchaus gefallen dürften.
Die Völker und Archetypen
Kapitel 4 (Seiten 34-65) beschäftigt sich mit den Völkern der Welt, wobei in diesem Falle der Begriff „Völker“ ebenso Rassen wie Spezies wie auch unterschiedliche menschliche Kulturen umfasst. Jedes Volk wird auf jeweils zwei Seiten mit einem Einführungstext, einer recht ausführlichen Beschreibung, den nötigen Rahmendaten und einer Illustration präsentiert. Die Qualität dieser Illustrationen schwankt, was ich persönlich als sehr nachteilhaft ansehe, da das Bild einer Spezies bei mir wesentlich zum Spielinteresse beiträgt. Sprechen mich die geisterhaften Vashrani oder die Illuriel schon durch ihre optische Darbietung an, so schrecken mich die etwas grobschlächtigen Zeichnungen der Zwerge, Toraka (Kobolde) und Kogasha (Wolfsmenschen) ziemlich ab. Auch hier entscheidet natürlich wieder der persönliche Geschmack, aber es bleibt festzustellen, dass nicht jedes Volk mit derselben graphischen Qualität überzeugen kann.
Ein Ausgleich dafür ist allerdings die angenehme Kürze der Beschreibungen, die aber teilweise zu sehr ins Oberflächliche abgleitet. Darüber hinaus haben die Autoren neben bekannten Klischees, wie wir sie unter anderem mal wieder bei den Zwergen, Kobolden und Menschen vorfinden, durchaus auch einige Völker erschaffen, die dem Rollenspielveteranen zwar nicht ganz fremd sein dürften, aber in „Elyrion“ einen eigenen, passenden Platz gefunden haben. Von den 13 spielbaren Völkern möchte ich in dieser Hinsicht die geflügelten Fen’Vey, die dunklen Vashrani, die Feuerwesen Gro’Myr und die unheimlichen Illuriel hervorheben. Auch die Bork’r (Orks) haben ein etwas anderes Konzept als gewohnt und sind einmal nicht die brüllenden Primitivlinge und Schlagetots, die man aus anderen Settings kennt, sondern eher mit den kultivierteren Orks „Earthdawns“ oder vielleicht auch „Kalamars“ vergleichbar.
Ich bedauere allerdings, dass ich kein Volk näher mit dem „Steam“ in dieser angeblichen „Steamfantasy“ in Verbindung bringen kann, wie das beispielsweise bei den Kriegsgeschmiedeten „Eberrons“ der Fall ist. Ebenso empfinde ich die Ausbalancierung der einzelnen Völker als problematisch, denn es ist eigentlich kein gutes Signal, wenn die Autoren harte Spielboni mit Hinweisen auf angeblich rollenspielerische Nachteile explizit ausräumen wollen (etwa bei den Illuriel). Da viele Charaktere ohnehin neu erschaffen werden und „unbedarft“ durch die Welt ziehen, werden viele Spieler die zahlreichen handfesten Vorteile eines Illuriel dem Nachteil der Amnesie gerne vorziehen. Außerdem können sie sich so auch lange Ausführungen zum Charakterhintergrund sparen.
Schwierig ist für die Lektüre und das Verständnis aller Beschreibungen aber der Wust an Namen und Bezeichnungen, die dem Leser nicht nur in diesem Kapitel begegnen. Der Wunsch der Autoren, allen Völkern, Kulturen und auch bekannten Standards irgendwelche exotischen Namen zu geben, mag zwar zur Atmosphäre „Elyrions“ beitragen, aber wer sich mal durch vergleichbare Passagen in Tolkiens „Silmarillion“ oder bei Homer gekämpft hat, weiß um die Mühsal solcher Unterfangen. Besonders die Vorliebe der Autoren für apostrophierte Namen macht die Sache nicht leichter und ist eher enervierend als animierend. Meiner Ansicht nach kann man das zwar so machen, muss und sollte man aber nicht mit Rücksicht auf den Leser und interessierte Spieler.
Die SC-Archetypen, die auf den Seiten 88-103 spielfertig dargestellt werden, sind dagegen sehr erfreulich und von guter illustratorischer Qualität. Sie decken eine große Breite an SC-Typen ab und werden besonders den Spielleitern, die auf Cons schnell einige SC benötigen, eine große Hilfe sein. Drückte man mir als „Elyrion“-Neuling einen solchen SC mitsamt Bild in die Hand, wäre zumindest mein Interesse am Spiel und an der Welt geweckt. Es wäre schön gewesen, wenn die Völker mit derselben graphischen Qualität präsentiert worden wären.
Die Regionen
Die Länder, Reiche und Regionen Audakias werden im Kapitel 5 auf nur 20 Seiten sehr knapp beschrieben, aber gut illustriert. Zu vielen Ländern erfährt man die prozentuale Zusammensetzung der Bewohner, eine kurze Erzählung und eine etwas längere sachliche Beschreibung. Darüber hinaus erhält man kurze Spielinformationen und typische Namen.
Wie sich der Leser dieser Rezension schon denken kann, sind 20 Seiten für eine Welt dieser Größe einfach unangemessen wenig, vor allem, wenn zwei Drittel des Buches nur den Regeln, Zaubern und Monstern gewidmet sind. Die einzelnen Regionen sind teilweise interessant, teilweise aber wieder sehr schwülstig beschrieben und verlieren sich gelegentlich in eintönigen Kleinigkeiten. Außerdem müssen sich nicht wenige Länder mit einem Absatz oder nur einem (!) Satz begnügen. Aber nichtsdestoweniger setzen sie sich zu einem ziemlich homogenen Weltbild zusammen, sodass man zum Glück die Stückwerksünden älterer und auch einige neuerer Spielwelten vermisst, in denen die degenschwingenden Spanier neben den Wikingern wohnen und mit diesen gemeinsam ins Land der Kreuzritter einfallen. Audakia erscheint als eine durchaus interessante Welt, in der vielfältiges und spannendes Fantasyspiel auch jenseits der ausgetretenen Pfade möglich ist, selbst wenn der erfahrene Rollenspieler auf wenig Originelles stößt. Das aber kann man den Autoren „Elyrions“ bei der Fülle der Fantasywelten im Rollenspielbereich nicht unbedingt zum Vorwurf machen.
Davon abgesehen zeigt sich wieder einmal, dass gute Illustrationen mehr wert sind als so mancher lange Absatz; ich hätte mir viel mehr davon gewünscht und möchte kritisieren, dass sehr gute Bilder zur Welt irgendwo unpassend im Regelteil auftauchen, obwohl ihr Platz im Weltkapitel sein sollte. Doch der gute graphische Eindruck tritt gegenüber der Kürze der Beschreibungen etwas in den Hintergrund.
Ich erwartet von einem Rollenspiel, welches mir eine völlig neue, angeblich standardferne Welt präsentieren möchte, dass es en bloc mindestens solide Beschreibungen zu Regionen, Klima, Topographie, Ländern, Politik, Städten, Kultur, Religion, Technik, Magie, wichtigen Stätten und geographisch oder topographisch interessanten Punkten liefert. Das muss und soll zwar nicht bis ins kleinste Detail gehen, aber es sollte zumindest mit einiger Ausführlichkeit angesprochen werden. Immerhin ist es die Welt, die faszinieren soll, nicht das Regelsystem oder eine lange Zauber- und Ausrüstungsliste. Und die Beispielregion am Ende des Buches zeigt, dass die Autoren durchaus zu mehr Inhalten in der Lage gewesen wären. Ich weiß nicht, ob die Welt später mit Quellenbüchern intensiver ausgestaltet werden soll, aber ich halte eine solche Produktstrategie für den völlig falschen Weg. Die Knappheit dieses Kapitels führt bei mir persönlich leider eindeutig zu einer Abwertung „Elyrions“.
Die Regeln
Das Regelwerk nimmt den mit Abstand meisten Platz in diesem Kampagnenbuch ein, was ich, wie schon gesagt, für eine neu kreierte und präsentierte Fantasywelt als ganz ungeeignet erachte. Inklusive Magie, Artefakten, Kampf, Basismechanismen und Charaktererschaffung umfassen die Regeln satte 150 Seiten, die voller Detailregeln, Zusatz- und Hintergrundinformationen sind. Gerade für die Zielgruppe der Rollenspielneueinsteiger dürfte das mit einigen Schwierigkeiten verbunden sein, und auch ich selbst empfinde den Regelteil als unnötig überfrachtet. Es würde nun den Rahmen einer Rezension sprengen, wenn ich auf jedes Regeldetail einginge, aber dennoch seien hier einige grundsätzliche Anmerkungen und Eindrücke geschildert. Dabei ist zu beachten, dass ich das System noch nicht „unter Feuer“ – also in der praktischen Anwendung – getestet habe und nur theoretische Überlegungen anstelle.
Zunächst gefällt mir die Charaktererschaffung sehr gut. Es gibt keine festen Stufen im eigentlichen Sinne, und jeder Charakter kann mit Attributen, Fertigkeiten, Talenten, Spezialfähigkeiten, Gaben und Schwächen usw. fast nach Belieben und Volksherkunft ausgestaltet werden. Die Schritte zum fertigen Charakter mit Kaufpunkten und zu dessen Verbesserung mittels Ruhmpunkten (= Erfahrungspunkten) werden kurz und verständlich dargelegt, im Anschluss daran werden die Charakterbögen erfreulich genau erläuert – eine Innovation, wie sie auch anderen Systemen gutgetan hätte. Die Charaktergestaltung ist daher ebenso anfänger- wie veteranenfreundlich und erinnert in ihrer Modularität an „Savage Worlds“ oder das „D6“-System.
Aber leider sind den Autoren auch hier wieder unnötige Fehler unterlaufen, denn es ist wenig erfreulich, wenn bestimmte Dinge zwar angesprochen, aber in keiner Weise erläutert werden. Die wichtigen Schadensarten (körperlich, geistig, seelisch) werden zwar genannt, aber wie sie sich berechnen und was sie genau bedeuten, erfährt man erst über 100 Seiten später im Schadenskapitel. Somit ist eine vollständige Charaktererschaffung anhand der dafür gedachten Sektion des Buches nicht möglich. Ebenso verstehe ich nicht, dass zwischen dieser Sektion und den wichtigen Erläuterungen der für einen Charakter maßgeblichen Komponenten (Attribute, Fertigkeiten, Talente usw.) die Probenmechanismen des Systems behandelt werden. Das passt so gar nicht dazwischen. Es bleibt wieder der Eindruck eines nicht gut durchdachten Konzeptes, der bisher das ganze Buch durchzieht.
Es folgen auf die Charaktererschaffung also die Basismechanismen. Diese werden gut nachvollziehbar und mit sinnvollen Beispielen erklärt und sind grundsätzlich ziemlich einfach: Man addiert für eine Probe ein passendes Attribut zu einer passenden Fertigkeit, würfelt einen W20 und zieht das Wurfergebnis von der Summe ab. Ist das Endergebnis 1 oder höher, ist die Probe gelungen. Klingt leicht und intuitiv, und das ist es auch.
Aber... Das Attributsmaximum für die Spielervölker ist 10 (Titan), das Fertigkeitsmaximum 15 (Legendäres Genie), somit kommt der Beste aller Besten maximal auf 25. Typische Charaktere können in ihren guten Werten eher mit 14-18 rechnen. Man muss kein Mathematikprofessor sein, um sich auszurechnen, dass die Chance, eine Probe auch in seinem Spezialfach nicht zu schaffen, gar nicht so gering ist. Der Spielleiter kann nämlich noch Schwierigkeitsmodifikatoren bis -16 hinzufügen, und die Güte eines Erfolges wird durch die Erfolgsstufe bestimmt. Wenn ein guter Probenerfolg also ab Endergebnis 5 beginnt, dann wird es unter schwierigeren Umständen selbst für einen wahren Könner schwer, eine Aufgabe gut zu meistern. Ich habe mal einige Proben „trocken gewürfelt“ und fand diese Annahme bestätigt. Somit vermute ich, dass das System auch in der Spielpraxis einige Schwächen der genannten Art zeigen wird, die wohl mit Hausregeln je nach Wunsch zurechtgerückt werden müssen.
Weiterhin finde ich es unangemessen, dass ganze Länder nur mit ein, zwei Sätzen beschrieben werden, aber bei den Probenmechanismen wirklich jede kleinste Ungereimtheit ausgeräumt werden soll. Man findet ausführliche Erläuterungen zu: Offenen und verdeckten Proben, Erfolgsproben, Erfolgen, Schwierigkeiten, Vergleichenden Erfolgsproben, Vergleich unterschiedlicher Fertigkeiten, Vergleichenden Erfolgsproben gegen eine Gruppe, Andauernden Erfolgsproben, Intervallen, Benötigten Erfolgen, Unterbrechungen, Misslingen von Teilproben, Intervallverkürzungen, Kombinierten Proben, Gemeinschaftlichen einfachen Proben, Gemeinschaftlichen andauernden Proben, Kritischen Erfolgen und Fehlschlägen, Regel der 10 (Automatischen Erfolgen), Verzweifelten Proben, Wiederholten Versuchen, Widerstandsproben, Proben auf... Fertigkeiten, Fertigkeiten ohne Grad, kombinierte Fertigkeitsgrade und Attribute.
Offen gestanden, da musste selbst ich als Kenner vieler Regelwerke und Systeme noch erstaunt durchatmen. Unter dem Strich hätte ich in diesem Regelteil viel weniger als viel mehr angesehen, gerade weil Probenmechanismen immer das Herz eines jeden Systems sind.
Weiter geht es mit guten Ausführungen zu Attributen, Gaben und Schwächen (= Vorteile/Nachteile), Fertigkeiten und Talenten. Man merkt deutlich, dass „Elyrion“ ein Fertigkeitensystem sein soll. Das ist grundsätzlich zwar gut, aber in diesem Falle betrachte ich das etwas zwiespältig, weil die Fertigkeiten in Art und Umfang an ein anderes, sehr verbreitetes deutsches Fantasysystem erinnern und meiner Meinung nach auf die Hälfte zusammengestrichen werden könnten.
Man muss es nicht so rigoros handhaben wie „Savage Worlds“, wo eine Fertigkeit für alle Nahkampfwaffen steht, aber man muss auch nicht fast jede Nahkampfwaffenart als eigene Fertigkeit ausführen. Ebenso spiele ich seit über 20 Jahren fast wöchentlich Rollenspiele und habe noch nie erlebt, dass jemand von der Fertigkeit „Fischen“ nennenswerten Gebrauch machte. Auch hier denke ich also wieder: Weniger wäre mehr gewesen, was besonders auch für die umfangreiche Detaildarstellung der zahlreichen Fertigkeitskategorien und jeder einzelnen Fertigkeit gilt.
Gut gefallen hat mir wiederum die Regelung sozialer Interaktionen mittels „sozialer Kämpfe“, die schon von „Legends of the 5 Rings“ oder „7th Sea“ bekannt sind und es auch weniger wortstarken Spielern erlauben, rhetorisch begabte Charaktere angemessen auszuspielen. Ebenso sind die Talente höchst erfreulich, die man wohl am ehesten mit Spezialmanövern vergleichen kann. Sie tragen besonders zur Einzigartigkeit der einzelnen Professionen beziehungsweise Charaktere bei und bieten viel Raum für eigene Kreativität.
Im Anschluss an diese Kapitel werden auf den Seiten 158-189 Kampf, Waffen und Rüstungen behandelt. Der Kampf erfolgt mittels Konkurrenzproben zwischen Angreifer und Verteidiger und bietet neben den Standardaktionen genügend Möglichkeiten für allgemeine und spezielle Manöver. Mir persönlich sind es erstens zu viele und zweitens zu detaillierte Kampfregeln, aber da ich weiß, dass viele Rollenspieler besonders auf diese Systemfacette großen Wert legen, möchte ich meine Vorbehalte entsprechend relativieren. Es gibt ganz ausführliche Regeln zum Nahkampf, Fernkampf, Waffenlosen Kampf, Reiterkampf, Luftkampf, Fahrzeugkampf, zu Kampf unter Wasser, Explosionswaffen usw. Es bleiben wenig Fragen offen, dafür werden aber auch viele beantwortet, die sich im schnellen Praxisspiel (falls überhaupt) nur selten stellen.
Auch die sehr langen Listen der Waffen, Schilde und Rüstungen erinnern wieder einmal an das größte deutsche Fantasyrollenspiel und werfen unter anderem die Frage auf, weshalb es zwischen einigen sehr ähnlichen Waffen nun bemerkenswerte Unterschiede in den Werten gibt. Außerdem sind unverkäufliche Seltenwaffen in einer solchen Liste ziemlich fragwürdig. Ebenso sehe ich die pauschalen Belastungswerte der Rüstungen als diskutabel an, die von allen Proben auf Initiative und körperliche Attribute beziehungsweise Fertigkeiten abgezogen werden. Man benötigt zum Beispiel für einen Plattenpanzer schon eine gewisse Mindeststärke und wird darüber hinaus auch noch mit einem satten Probenmalus belastet. Erfüllt ein Träger nicht die Mindeststärke, erhöht sich der Belastungswert, bei überschüssiger Stärke verringert er sich aber nicht. Das ist etwas seltsam.
Auf dieses Kapitel folgt das sehr lange Kapitel über die Magie, die sich in Spruchmagie, Spontanmagie, Ritualmagie, Beschwörung und (göttliche) Inspiration unterteilt. Die grundsätzlichen Magieregeln werden ausführlich erklärt, und das Magiesystem erscheint mir mit seinem Essenzschaden und der Magiesucht für den Zauberer durchaus recht ansprechend zu sein. Jede einzelne Magierrichtung wird mit vielen Spezialregeln und Zaubern, aber auch mit interessantem Begleittext präsentiert.
Vorteilhaft ist die knappe Darstellung der Rahmendaten und Effekte der Zauber, denn die teilweise überlangen Beschreibungen und Ausnahmeregelungen, die man aus anderen Systemen kennt, machen Magier besonders für Anfänger zu schwierigen und unattraktiven Charakteren. Bei „Elyrion“ dagegen könnte man mit etwas Einführungstext und einigen regeltechnischen Erläuterungen auch dem Systemneuling einen Magier, Mentalisten oder Priester überlassen.
Allerdings ist das Erfreuliche der Magiekapitel gleichzeitig auch wieder deren Nachteil: Sie sind lang. Auf immerhin 50 Seiten wird der Magiekomplex in all seinen Facetten behandelt, sodass besonders für den Spielleiter ein großer Aufwand entsteht, wenn er die zahlreichen Details, Regeln und Zauber verstehen, verinnerlichen und im Spiel umsetzen soll. Das ist zwar kein Vorwurf, den man nur „Elyrion“ machen kann – leider im Gegenteil –, aber auch hier bedeutet die Magie neben dem Kampf wieder den weitaus größten Teil der geistigen Arbeit für Spielleiter und Spieler. Andere Systeme zeigen, wie man das erheblich vereinfachen kann, ohne dabei an Substanz zu verlieren. Grundsätzlich also hinterlassen die Magiekapitel einen guten Eindruck, aber sie hätten in ihrem Umfang ruhig etwas knapper sein können. (Außerdem vermisste ich erneut das umfassende Eingehen auf den „Steam“, den ich auch im restlichen Regelwerk so aufmerksam suchte.)
Am Ende des Regelteiles findet der Leser – sehr spät – den Schaden und die Heilung. Hier nun erfährt man endlich, was es mit den Schadenswiderständen und Schadensarten so auf sich hat und welche verschiedenen Schadensformen es gibt. Als sinnvoll empfand ich die Unterteilung des Schadens in sogenannten Ausdauer- und Substanzschaden, wie man es auch vom Vitalitätspunktesystem von „D&D 3.5 (Unearthed Arcana)“ oder von den Fleischwunden und Dramatischen Wunden bei „7th Sea“ kennt. Ausdauerschaden ist oberflächlich und heilt auch schnell wieder, Substanzschaden ist schwerwiegender und kann auch zu massiven Wunden führen. Für die sozialen Kämpfe gibt es darüber hinaus geistigen Schaden, für Horrorbegegnungen, emotionale Tiefschläge und ähnliche Ereignisse den seelischen Schaden. Das ganze System erscheint stimmig und vielseitig zu sein, die Detailtiefe der einzelnen Regelteile hält sich in Grenzen und behandelt alles Nötige (etwa Sturzschaden, Feuer, Erschöpfung, Säure usw.).
Schließlich werden dem Leser noch auf einigen Seiten Artefakte und Gifte vorgestellt. Als Beispiele und für die Übersicht ist das natürlich wichtig und nötig, doch findet der erfahrene Rollenspieler in dieser Sektion wieder nur wenig Originelles. Immerhin aber entdeckt man hier endlich technomantische Artefakte, eine Art Fantasy-Cyberware, die ein wenig des „Steams“ und der Arkantechnologie transportieren, von denen man bisher im Buch so wenig gefunden hat.
Das Bestiarium
Das 20-seitige Kapitel mit den Monstern, Kreaturen, Tieren, Untoten und sonstigen relevanten sowie interessanten Gegnern, die den Spielercharakteren über den Weg laufen können, ist einerseits erfreulich umfangreich und bietet für jeden Wunsch und jede Gelegenheit die passende Bedrohung. Andererseits aber sind die jeweils mit nur wenigen Sätzen und ihren Spielwerten beschriebenen Kreaturen nicht sehr spielleiterfreundlich aufbereitet, denn sie werden nicht in alphabetischer Reihenfolge, sondern nach Kategorien sortiert. Und wenn der Spielleiter nicht sämtliche Talente und Spezialfähigkeiten auswendig kennt, muss er ziemlich viel blättern, um eine Kreatur vollständig ausspielen zu können. Allein eine Löwenchimäre hat acht verschiedene Talente beziehungsweise Spezialitäten zu bieten, und selbst ein Tiger noch deren sechs. Somit ist entweder viel Abenteuervorbereitung oder der Einsatz zahlreicher Post-Its zu empfehlen.
Formalia
Den Abschluss des Kampagenbuches bildet ein gut lesbares und verständliches Einführungsabenteuer, gefolgt von wichtigen, ausreichend erörterten Hinweisen zu Verdiensten und Werten. Daran knüpfen sich lange Tabellen mit Ausrüstungen, Dienstleistungen, Rohstoffen und sonstigen käuflich zu erwerbenden Waren aller denkbaren Kategorien an. Das ist sehr hilfreich, aber die Hälfte des Aufgezählten hätte auch genügt. Schließlich bilden ein angemessen umfangreicher, teilweise aber leider fehlerhafter Index und einige ansprechende Charakterblätter das Ende des Buches.
Fazit: „Elyrion“ hinterlässt bei mir leider auch in seiner Neuauflage (Version 1.5) den Eindruck, technisch und inhaltlich unfertig zu sein, die falschen Schwerpunkte zu setzen und eine wenig befriedigende Konzeption zu besitzen. Seine Stärken offenbaren sich in einer recht homogenen Welt, einer gelungenen Charaktererschaffung, einem vielfältigen Magieteil, einem grundsätzlich einfachen, aber mir persönlich mit zu vielen Details breit ausgewälzten Regelsystem und einem durchaus großen Potenzial für eigene oder zukünftige offizielle Kreationen. Dem stehen jedoch zahlreiche Schwächen gegenüber, die in der Rezension ausführlich beschrieben wurden und den schalen Beigeschmack haben, dass die Autoren „Elyrions“ sich nicht intensiv genug mit der anglo-amerikanischen und französisch-kanadischen Konkurrenz auseinandergesetzt haben.
Rollenspielneulinge erhalten mit „Elyrion“ ein preiswertes, umfangreiches und in sich geschlossenes Rollenspiel, das aber einige unnötig hohe Ansprüche an die Einarbeitung ins Regelwerk stellt und ein unverhältnismäßig hohes Maß an eigener Kreativität bei der Weltgestaltung erfordert. Rollenspielveteranen dagegen werden bei „Elyrion“ nicht viel Originelles finden und insbesondere den „Steam“, die Arkantechnologie und das „Endzeitgefühl“ vermissen, das die Autoren anfangs so euphorisch anpreisen. „Elyrion“ ist ein solides Fantasysetting ohne bemerkenswerte Höhen und Tiefen. Es legt den Schwerpunkt auf die Regeln in jeder Art und Form und liefert mit Audakia eine nur oberflächlich beschriebene Spielwelt, deren wenig mitreißende, aber mit viel Pathos beschriebene Mythologie und Historie den zu meinem Bedauern sehr durchwachsenen Gesamteindruck unterstreichen.
Elyrion – Erbe der Titanen (1.5)
Grundregelwerk
Christian Loewenthal, Marcel Hill
Prometheus Games 2007
ISBN: 978-3-941077003
315 S. + Farbkarte, Hardcover, deutsch
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