Earthdawn 4 – Spielerhandbuch

Jahrhundertelang unter die Erde gezwungen, während Dämonen das Land verwüsteten, kehren die Völker in ihre zerstörte Welt zurück. Als Elf, Ork, Zwerg oder Angehöriger der anderen Völker kann man die vielen Geheimnisse, Schätze und Gefahren erforschen und sich mit den Überbleibseln der dämonischen Herrschaft messen. Dabei kann jeder auf die Magie der Welt zugreifen und diese für seine Zwecke nutzen. Die 4. Edition des Rollenspiels „Earthdawn“ ermöglicht es Spielern, ihre Figuren nach den neuen Regeln zu erschaffen und schreibt die Geschichte des Rollenspiels fort.

von Ansgar Imme

Die erste Edition von „Earthdawn“ erschien vor fast 30 Jahren in 1993. Der damalige Verlag Fasa Corporation ergänzte damit sein Portfolio aus „BattleTech“ und dem sehr erfolgreichen, vier Jahre zuvor erschienenen „Shadowrun“ um ein Fantasy-Rollenspiel. Die nun 4. Edition wird in Deutschland von Ulisses Spiele veröffentlicht (während „Shadowrun“ bei Pegasus Spiele publiziert wird).

„Earthdawn“ spielt in der Kampagnenwelt Barsaive, in der Magie alltäglich ist. Auch wenn nicht jeder Magie beherrscht, so können doch magische Alltagsgegenstände fast überall erstanden werden. Die Stärke der Magie steigt und sinkt innerhalb jahrtausendelanger Zyklen. Umso stärker die Magie wird, desto schwächer werden die Barrieren zu anderen Welten. Vor etwa 10.000 Jahren warnten Gelehrte, dass ein neuer Höhepunkt der Magie bevorstehe und die sogenannte „Plage“ über das Land hereinbrechen werde. Daher begaben sich die Völker unter die Erde und erschufen riesige unterirdische Rückzugsorte, die sogenannten Kaers. Als die Plage nach mehreren Jahrhunderten verschwunden schien, begaben sich die Völker wieder an die verheerte Oberfläche und zogen aus, die alte beziehungsweise neue Welt zu erkunden.

Die Spieler verkörpern dabei Helden, die für das „Gute“ kämpfen und keine Schurken sind. „Earthdawn“ zeichnet ein recht klares Schwarz-Weiß-Bild mit den Helden und Bewohnern Barsaives auf der einen und den Theranern (als einstigen Erobern) sowie Dämonen auf der anderen Seite. Die Charaktere sind als Angehörige der Disziplinen durch ihre magische Fähigkeiten sowohl mächtiger als normale Bewohner und erlangen durch ihre Taten auch ein höheres Ansehen. Ziel der Helden und Spieler ist, an der eigenen Legende zu arbeiten und immer bekannter zu werden.

Das „Spielerhandbuch“ ist mit seinen etwa 320 Seiten das eigentliche Regelbuch, welches die Regeln und Charaktererschaffung beschreibt sowie erstes Hintergrundwissen zur Welt liefert. Der Begriff „Spielerhandbuch“ kann somit unter Umständen missverständlich aufgefasst werden. Denn auch oder gerade der Spielleiter braucht dies natürlich, um die Regeln zu verstehen. Mit Ausnahme des farbigen Covers und einiger Farbtafeln am Ende des Bandes ist das Buch in Schwarz-Weiß beziehungsweise Grau gehalten. Der Text ist in eher kleiner Schrift zweispaltig gehalten, was das Lesen anstrengend macht, zudem oft lange Textwüsten hintereinander folgen und Illustrationen selten sind (zudem auch qualitativ für heutiges Niveau dürftig). Ein anderes Layout hätte gefühlt zu einer besseren Lesbarkeit und Verständlichkeit geführt.

Nach einer kurzen Einleitung zur Welt selbst und der Erklärung, was Rollenspiel ist, folgt eine Kurzgeschichte als Einstimmung. Die Erklärung zum Rollenspiel selbst ist so kurz, dass man sie auch hätte weglassen können. Ein Neuanfänger wird damit nicht viel anfangen können, und ein erfahrener Spieler kennt dies schon. Auch der Rest des Grundregelwerkes wirkt eher für erfahrene Rollenspieler geschrieben beziehungsweise oft auch für Kenner von „Earthdawn“.

Nach der Einleitung werden die grundlegenden Regeln erläutert. Dies ist hier mit „Spielkonzepte“ überschrieben, wobei der Rezensent sich unter „Spielkonzepte“ eher verschiedene Ausprägungen des Spiels vorgestellt hätte, wie man „Earthdawn“ spielen kann. „Earthdawn“ ist dabei nicht einfach (und der Rezensent hat auch lange Jahre „DSA4“ gespielt), sondern „glänzt“ mit schwer durchschaubarer Komplexität. Dies beginnt mit den Stufen und Aktionswürfeln. Eine Probe wird auf die Summe aus Rang, also dem Können in einem Talent oder einer Fertigkeit, sowie der Attributsstufe gewürfelt. Diese Summe nennt man Stufe und bestimmt die Anzahl der genutzten Würfel.

Die Stufen gehen von 1 bis 40. Dabei ändern sich die genutzten Würfel aber in einem schwer einprägsamen Muster. Je nach Stufe werden W4, W6, W8, W10, W12 oder W20 genutzt. Mit nahezu jeder Stufe steigt das Höchstergebnis um 2 Punkte (Beispiel: Stufe 1 = W4-2, Stufe 2 = W4, Stufe 3 = W6), aber die Würfel ändern sich dabei, sodass man nicht auf die Schnelle ein Muster erkennt. Da ein Höchstwurf auf einem Würfel noch zu einem Bonuswürfel führt, wird auch die Abschätzbarkeit einer Probe wesentlich schwieriger. Zusätzliche Boni und Mali sowie Erfolgsgrade verkomplizieren es noch. Neben den Würfelmechanismen werden viele kleine Einzelinfos wie Magie, Namen, Gewichte, Entfernungen etc. erklärt, die man anscheinend sonst nirgendwo unterbringen konnte.

Im nächsten Kapitel folgt die Vorstellung der Namensgeberrassen. Man nennt diese Namensgeber, da die Rassen die Macht besitzen, Gegenständen, Orten oder Personen einen Namen und damit Macht zu geben oder zu erschaffen. Die acht Rassen sind Elfen, Menschen, Zwerge, Orks, Obsidianer, Trolle, T´Skrang und Windlinge. Während die ersten drei geradezu klassisch sind, kennt man Orks oder Trolle in anderen Rollenspielen eher nur als Widersacher. Hier kann man sie auch spielen, denn sie sind in der Welt von Barsaive genauso üblich angesehen wie die anderen Rassen. Dazu kommen drei Neuschöpfungen: Obsidianer sind große, steinartige Wesen, die aber im Innern trotzdem aus Fleisch und Blut bestehen. Sie sind eher geduldig, langsam und werden sehr alt. Windlinge sind dagegen eher klein und ähneln Feen oder sind als kleine Menschen mit Libellenflügeln vorstellbar. T'Skrang sind aufrecht gehende Reptilien verschiedener Hautfarben, die einen Kamm am Kopf sowie einen Schwanz haben und meist am Wasser leben. Mit den teils ungewöhnlichen Rassen hebt sich „Earthdawn“ wohltuend von anderen Systemen ab, zudem die einzelnen Rassen auch einzigartige Fähigkeiten aufweisen.

Die Charaktererschaffung bildet den folgenden Teil. Man wählt man eine Disziplin (sozusagen ein Beruf, aber noch darüber hinausgehend, mehr eine Lebensart) und dann die gewünschte Rasse. Als drittes werden die sechs Attribute Geschicklichkeit, Stärke, Zähigkeit, Wahrnehmung, Willenskraft und Charisma zusammengestellt, welche man weiter steigern kann. Aus diesen ergeben sich weitere Eigenschaften wie Verteidigungswerte, Gesundheitswerte, Traglast, Initiative, Rüstungswerte und Bewegung. Danach werden Rassenfähigkeiten sowie Talentränge (Fähigkeiten des Charakters) und Zauber vermerkt und Fertigkeitsränge (allgemeine Fachgebiete: Wissen, Kunsthandwerk, Sprachen und Allgemeines) ergänzt. Die Ausrüstung sowie Gedanken zum Charakter selbst wie Wesenszüge oder Persönlichkeit runden die Figur ab.

Die Beschreibung der Charaktererschaffung wirkt an manchen Stellen zu unstrukturiert, um gut verständlich zu sein. Lange Fließtexte enthalten mal wichtige und mal nur beschreibende Informationen. Passende Beispiele gibt es nur an manchen Stellen. Mitten in der Erschaffung werden wiederum Fähigkeiten, Attribute und Ähnliches erklärt. Hier wäre eine Aufteilung in Ablauf und beschreibende Informationen besser gewesen. Alte „Earthdawn“-Spieler werden damit gut zurecht kommen, aber Einsteiger oder Systemwechsler müssen vermutlich mehr Zeit als gewünscht damit zubringen, um es überhaupt zu verstehen.

Die nächsten Kapitel erläutern den Hintergrund zu Begriffen aus der Erschaffung. Zunächst werden die Disziplinen vorgestellt (Beispiel: Dieb, Geisterbeschwörer, Luftpirat oder Schwertmeister). Disziplinen sind einerseits die Berufe, wie man sie aus anderen Spielen kennt, sollen aber auch eine Art Lebensweise und Verständnis der Welt darstellen. Im Text wird das an Beispielen dargestellt, die für das Spiel aber nicht so einfach übertragen werden können. Wenig hilfreich ist zudem die Vermischung von Disziplin-Beschreibungen und Regelelementen. Mit den Disziplinen erhält man auch Empfehlungen für passende Attribute, den Ablauf des Karmarituals zur Rückgewinnung von Karmapunkten (Karmapunkte sind die Magiepunkte in „Earthdawn“), bestimmte Kunsthandwerksfertigkeiten sowie besondere Talente und Fähigkeiten. Zuletzt werden neue Sonderfähigkeiten anhand des Aufstiegs innerhalb der Kreise (eine Art Stufe nach bestimmten Erlebnissen) aufgezeigt.

Wenn man die Disziplinen erst mal als Berufe sieht, findet sich hier nicht viel Neues im Vergleich zu anderen Rollenspiel-Systemen. Besonders werden diese vor allem durch die Magiefähigkeiten. Die Kreise bieten dafür ein eigenes individuelles Aufstiegs- und Verbesserungssystem, was allerdings auch wieder die Komplexität zeigt. Nach den Disziplinen werden die Talente und Fertigkeiten erläutert: Talente sind magische Fähigkeiten, die es für alle Helden gibt. Im Gegensatz zu anderen Rollenspielen lässt „Earthdawn“ also bereits früh jede Spielerfigur magische Fähigkeiten erwerben. Fertigkeiten sind ganz normale Fähigkeiten, die nicht durch Magie unterstützt werden. Gleichzeitig können viele Talente auch als profane Fertigkeiten genutzt werden, wobei durch die magische Ausübung stärkere Effekte oder Ergebnisse eben als Talent gegenüber der Fertigkeit erzielt werden. Leider sind die Unterschiede aber oft gering, sodass insgesamt zu viel Komplexität und Beschreibung auf die unterschiedlichen Bereiche ver(sch)wendet wird.

Zur besonderen Magie „Earthdawns“ finden sich drei Kapitel: Es beginnt mit einem eher allgemein gehaltenen Teil, der auf Hintergründe zur Magie und spezielle magische Fähigkeiten wie Blutmagie eingegangen wird. Durch die Vermischung von Beschreibung und einzelnen Regelbereichen wirkt es wiederholt unstrukturiert. Die Spruchzauberei aus dem Folgekapitel ähnelt grundsätzlich vielen anderen Rollenspielsystemen. Man kann einzelne Zauber lernen, die bestimmte Wirkungen haben. Je nach Zauberer-Disziplin stammen diese aus dem Elementarismus, der Geisterbeschwörung, dem Illusionismus oder der allgemeinen Magie. Für das Wirken der Sprüche gibt es drei Arten: Zaubern über sogenannteMatrizen, mittels roher Magie aus dem Astralraum oder aus Zauberbüchern. Für die verschiedenen Magiewirkungen gibt es jeweils Regeln, die unterschiedliche Abläufe haben und die Wirkung des Zauberspruchs verstärken können. Mit etwa 200 Zaubern gibt es eine sehr große Auswahl, die allerdings natürlich nach Disziplin und Aufstieg in den Kreisen nicht jedem Anwender zur Verfügung stehen. Insgesamt gibt es hier viele tolle Ideen, aber der Regelwust und die Komplexität sorgen für häufiges Nachschlagen im Regelwerk. Der dritte, sehr kurze Abschnitt widmet sich der Beschwörung, womit Geister für einen Dienst für den Beschwörer verpflichtet werden können.

Die Kampfregeln sind kurz und prägnant zu merken. Nach einer Ankündigung, was man vor hat, wird die Initiative aller Beteiligten bestimmt und dann die Aktionen in der Intiativereihenfolge abgewickelt. Neben dem Angriff finden sich zusätzliche Aktionen wie Bewegung, aufrechterhaltene Aktionen, einfache Aktionen oder freie Aktionen, die kürzer oder länger als die Standardaktion sein können. Der Angriff folgt ebenso einem schnell zu merkenden Muster: Angriffsprobe ablegen und Erfolg ermitteln, Schaden durch Abzug der Rüstung kürzen und Wunden festlegen sowie abschließend prüfen, ob der Angegriffene niedergeschlagen wird sowie bewusstlos wird oder stirbt. Durch zusätzliche Optionen wie Abwehrhaltung oder Gezielter Angriff wird der Kampf taktisch bereichert. Zusätzlich kann die Situation etwa durch Deckung oder Entfernung den Kampf mit weiteren Schwierigkeiten versehen. Das Kapitel ist gut gestaltet: Trotz variabler Optionen sind Ablauf und Regeln gut strukturiert und einprägsam, sodass der Kampf nach wenigen Versuchen recht flüssig ablaufen sollte.

Zu jedem Rollenspiel gehört auch immer eine Liste und Beschreibung von Ausrüstung, Waren oder Dienstleistungen. Und auch „Earthdawn“ bietet dies bereits durchaus umfangreich auf 30 Seiten im Grundregelwerk an. Neben der Beschreibung von Waffen und Rüstungen, magischer Ausrüstung und magischen Gegenstände finden sich auch profane Ausrüstungsgegenstände oder Reittiere. Dazu finden sich auch übliche Regeln zu Überlastung oder Währungen sowie etliche Tabellen mit Kosten und Spielwerten. Trotz der 30 Seiten finden sich aber leider kaum Illustrationen und mit wenigen Ausnahmen nur die klassischen Gegenstände wie man sie aus anderen Rollenspielen kennt – mit Ausnahme der Reittiere, wo man Besonderheiten „Earthdawns“ entdeckt. Das wirkt insgesamt sehr unkreativ und hätte dann auch mit weniger Platz vorlieb nehmen können.

Der Aufbau der eigenen Legende und damit das Erlernen neuer oder Steigern bekannter Fähigkeiten findet sich im Folgekapitel. Hier wird aufgezeigt, wie man Legendenpunkte sammelt und wie man diese verwendet: für das Steigern von Attributen, Talent- oder Fertigkeitsrängen, das Erlernen neuer Zauber, aber auch den Kreisaufstieg, der dann ganz neue Fähigkeiten eröffnet. Neben den Legendenpunkten fallen auch Kosten in Form von Silberstücken an, die der Charakter gesammelt haben muss. Insgesamt bieten sich viele Möglichkeiten, aber der hohe und komplexe Verregelungszwang schon von Beginn des Bandes setzt sich hier fort. Sogar ein Gruppentagebuch wird belohnt, auch wenn es innerweltlich erklärt wird.

Die nächsten beiden Abschnitte widmen sich der Vorstellung der Welt und geben ein wenig Hintergrundwissen für die Spieler. Einerseits werden die sogenannten Passionen vorgestellt, welche als mächtige, geheime Wesen beschrieben werden, aber in Richtung von Göttern aus anderen Rollenspielen gehen. Dazu lernt man Barsaive kennen, in dem die Charaktere ihre Abenteuer erleben. In Kurzform werden verschiedene Mächtegruppen, Länder sowie besondere Orte präsentiert, die ein erstes Reinschnuppern ermöglichen. Dieser Teil wirkt eher zu kurz halten, auch wenn natürlich bei über 300 Seiten irgendwann mal Schluss sein muss. Vielleicht wäre hier ein kurzes Einführungsabenteuer besser gewesen, um Spielern einen Eindruck zu verschaffen.

Der Band schließt mit etlichen Beispielcharakteren zum Losspielen sowie einem mehrseitigen Index ab. Bei den Beispielcharakteren stellt sich sicherlich die Frage nach dem Zweck, da ein erstes Szenario oder Abenteuer fehlt. Hier wurde letztlich nicht zu Ende gedacht.

Fazit: Insgesamt ist der Eindruck für die 4. Edition eher zwiegespalten. Die Welt „Earthdawn“ übt weiter ihren Reiz aus und lädt zum Spielen ein. Das Regelwerk hingegen wirkt viel zu kompliziert und schlecht aufgebaut. Im Vergleich zu anderen modernen Regelwerken, selbst neueren Editionen anderer Rollenspiele, steht „Earthdawn“ leider zurück und wirkt um 10 bis 20 Jahre veraltet. Einsteiger werden durch Kompliziertheit und Komplexität eher abgeschreckt und werden sich anderen Systemen zuwenden. So bleiben vor allem alte Spieler, die sich vermutlich damit abgefunden haben. Beim Regelwerk fehlt also leider eine wirkliche Neuerung, die das Buch zu einer Empfehlung für einen großen Kreis gemacht hätte. (Das „Spielerhandbuch“ ist ursprünglich im Hardcover erschienen, aktuell jedoch nur noch in der Softcoverausgabe erhältlich.)

Earthdawn 4 – Spielerhandbuch
Regelwerk
Jay Little, Sam Stewart u. a.
Ulisses Spiele 2018
ISBN: 978-3957529015
320 S., Softcover, deutsch
Preis: EUR 19,95

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