Earthdawn Player’s Guide 3rd Edition

„Earthdawn“ ist eines von den Rollenspielen, die die Zeiten überdauern und ihre Fans halten konnten. Es gab eine Zeit, in der die Magie so mächtig war, dass Wesen aus fremden Dimensionen, die sogenannten „Horrors“, in die Welt eindringen konnten, um alles Leben zu zerstören, und sich die denkenden Völker unter der Erde verstecken mussten. Doch nun ebbt die Stärke der Magie wieder ab, und die Völker drängen wieder an die Erdoberfläche, um die Welt zurückzuerobern.

von amel

Die Zeit der Horror wurde „the Scourge“, die Geißel, genannt. Die „Namensgeber“ – vernunftbegabte Rassen, die der Magie mächtig waren – mussten sich unter die Erde zurückziehen, und es ist noch gar nicht so lange her, dass sie endlich einen Rückgang des Magieniveaus bemerkten und sich wieder an die Oberfläche trauten. Nach langer Zeit unter der Erdoberfläche wirkt die Welt neu und geheimnisvoll – eine perfekte Welt, um sie von abenteuerlustigen Heldengruppen erforschen zu lassen.

Mit diesem Hintergrund reiht sich „Earthdawn“ nahtlos in die Riege so ziemlich aller anderen Fantasy-Rollenspiele ein: Es gab einen Kataklysmus oder großen Krieg in der Vergangenheit, häufig im Zusammenhang mit Magie oder Göttern, und die Spielercharaktere leben während des Wiederaufbaus oder erleben dessen Auswirkungen. Unterschiede gibt es wie üblich in den Details, und da schafft es „Earthdawn“, ein sehr stimmiges Bild zu liefern. Die Horror sind noch da und so ist die vergangene Katastrophe noch sehr präsent. Die klassischen Rassen wie Elfen, Zwerge und Trolle gibt es auch, doch zusätzlich können die Spieler die kleinen, fliegenden Windlings, echsenartige T’Skrang, Obsidimen und andere Rassen übernehmen. Magie ist mehr noch als in vielen anderen Rollenspielen allgegenwärtig. Das geht hin bis zur Selbstbezeichnung der denkenden Rassen, denn Namen haben besondere magische Macht, und so sehen sich die „Namensgeber“ als etwas Besonderes.

Schon in der Beschreibung der Regeln steckt eine Menge Weltbeschreibung und Stimmung. Die verschiedenen Kapitel über Magie beschreiben nicht nur wie sie regeltechnisch, sondern auch wie sie in der Welt funktioniert. Jeder Punkt auf dem Charakterbogen findet eine passende Erklärung in der Welt.

Die Regeln selbst sind etwas kompliziert und leiden an zu vielen Unterteilungen. Es gibt nicht nur Fertigkeiten, Talente (magisch unterstützte Sonderfertigkeiten) und Zauber. Es gibt verschiedene Arten von Magie, die Charaktererschaffung kennt verschiedene Arten von Talenten und alles hat unterschiedliche Namen. Ich vermute, das ist der Tatsache geschuldet, dass das vorliegende Buch die dritte Edition und aus den alten Editionen und deren Zusatzbüchern gewachsen ist, aber mir ist das etwas zu viel – nicht unüberschaubar viel, aber man hätte auf diverse Einzelbezeichnungen und Unterteilungen verzichten können, ohne den Regeln etwas wegzunehmen.

Als Beispiel sei eine normale Probe genommen: Attribute wie Stärke und Geschick haben einen Wert. Aus dem Wert ergibt sich ein „Step“, aus dem wiederum sich eine Würfelkombination ergibt. Ein Geschick von 14 hat einen „Step“ von 6, was wiederum bedeutet, dass bei Proben 1W10 gewürfelt wird. Bei dem meisten Proben kommt aber noch ein Talent oder eine Fertigkeit ins Spiel. Hier werden die „Steps“ des entsprechenden Talents oder der entsprechenden Fertigkeit zum „Step“ eines Attributs addiert, was zu einer anderen Würfelkombination führt. Ein System, an das man sich sicher schnell gewöhnt, genauso wie daran, dass Talente in „Discipline Talents“ und „Talent Options“ unterteilt sind und Spruchmagie auf drei verschiedene Arten möglich ist. All das bedeutet viele Optionen und ist so gut gemacht, dass Leute, die an komplexeren Welt- und Regelgebilden Spaß haben, ihre helle Freude an dem Regelwerk haben werden. Aber für meinen Geschmack hätte man an vielen Stellen vereinfach und zusammenfassen können und sollen. „Earthdawn“ ist aber wesentlich einfacher als beispielsweise „DSA 4“, und die einzelnen Teile fügen sich gut aneinander.

Insgesamt würde ich „Earthdawn“ als „Rollenspiel zweiter Generation“ bezeichnen. Die Ursprünge in „D&D“ sind noch deutlich zu sehen: Es gibt Klassen und Stufen und Zauber und Sonderfertigkeiten. Aber man sieht den Wunsch, diesen Ursprüngen zu entkommen und es besser zu machen. Positive Auswirkungen davon sind, dass die Regelteile in die Welt integriert wurden und Würfelwürfe beispielsweise nicht gemacht werden, weil „es halt so ist“, sondern weil erst die Threads gesponnen werden müssen, in die die Zaubermatrix eingebettet wird, damit der Zauber wirken kann. Die Verquickung von Regeln und Weltbeschreibung ist wirklich sehr gelungen. Negativ schlägt zu Buche, dass bekannte und anerkannte Bezeichnungen auf Biegen und Brechen geändert wurden: Stufen sind „Circles“, Klassen sind „Disciplines“ usw. Da muss man sich erst einmal hineinfinden. Auf Krampf anders sein zu wollen, ist nicht immer gut, aber „Earthdawn“ macht das größtenteils richtig. Eine wesentlich höhere Einstiegshürde in das Spiel im Vergleich zu anderen Fantasy-Spielen sehe ich übrigens nicht. Man muss sich zwar durch die Charaktererschaffung erstmal durchkämpfen, ist danach aber ausreichend vorbereitet, um sofort in Abenteuer einzusteigen.

Ein bisschen Zeit muss man für die erste Charaktererschaffung aber mitbringen. Die 300 Seiten des Spielerhandbuchs sind prallgefüllt mit Möglichkeiten für die Spieler. Hier werden nicht nur eine handvoll Disziplinen (Klassen) beschrieben, sondern fünfzehn. Es gibt acht verschiedene Spielerrassen, und an Sonderfertigkeiten und Zaubersprüchen wird auch nicht gegeizt. Das „Earthdawn“-Spielerhandbuch liefert wirklich alles, was die Spieler zum Spielen brauchen. Es gibt praktisch keinen Ergänzungsbedarf. Man merkt dem Buch an, dass es im Laufe der Editionen gewachsen ist, was die oben erwähnten Nachteile, aber eben auch den Vorteil einer großen Vollständigkeit hat. Sogar ein kurzes Kapitel über die Provinz Barsaive, in der „Earthdawn“ spielt, ist enthalten, sodass eine Gruppe auch ohne Spielleiterhandbuch (das demnächst besprochen wird) schon mal losspielen kann. Wer die lange Charaktererschaffung vor dem ersten Spiel scheut, kann außerdem auf Archetypen zurückgreifen, die am Ende des Buches beschrieben werden.

Das Buch ist stabil und seine Gestaltung lässt kaum Wünsche offen. Das Cover enthält mittelamerikanische Stilelemente, und auch wenn sich diese nicht im Inneren wiederfinden, haben das Layout und die Zeichnungen doch einen entsprechenden Charme weitab vom klassischen König-Artus-England mit Elfen und Zwergen, wie man es in so vielen anderen Rollenspielen findet.

Fazit: Das „Earthdawn“-Spielerhandbuch liefert alle Regeln, die die Spieler benötigen, um zu spielen. Die Regeln sind stimmungsvoll in die Welt integriert, und es macht Spaß, das Buch zu lesen. Mir sind es etwas zu viel Unterteilungen und Unterregeln, man hätte Vieles vereinfachen können, was aber der Historie des Spiels geschuldet ist und Fans von etwas komplexeren Regelwerken nicht abschrecken sollte. Es ist ein schönes Regelwerk, stimmungsvoll aufgemacht, gut erzählt und gut erklärt. Es regt an, eine Figur zu erschaffen, um die exotische Welt von „Earthdawn“ erforschen und von den grausigen „Horrors“ zu befreien.


Earthdawn Player’s Guide 3rd Edition
Grundregelwerk
Carsten Damm, James D. Flowers u. a.
Red Brick Limited 2009
ISBN: 978-1-906508-59-3
304 S., Hardcover, englisch
Preis: GBP 29,99

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