Die Zauberin von Märchenmond

Mit dem Roman „Märchenmond“ begründeten Wolfgang und Heike Hohlbein, heute sicher die bekanntesten Fantasy-Autoren Deutschlands, 1983 während eines Phantastik-Wettbewerbs des Ueberreuter-Verlags ihren Ruhm. Noch zwei Mal besuchten sie das märchenhafte Land (1990 in „Märchenmonds Kinder“, 1998 in „Märchenmonds Erben“), noch zwei Mal musste der junge Held Kim die offenbar notorisch vom Aussterben bedrohte Magie retten. Jetzt kehren wir in „Die Zauberin von Märchenmond“ erneut in die Domäne der Zauberer Themistokles und Boraas zurück.

von Bernd Perplies

 

Eigentlich hätte Rebecca Hohlbein, die Tochter des Autoren-Ehepaars, den Roman verfassen müssen. Denn wenn die Heldin der Geschichte Rebekka heißt und zu Beginn ihrer Ankunft in Märchenmond fassungslos davon spricht, dass sie immer gedacht hätte, das Land sei vor langer Zeit von ihrem Vater Kim nur in Erzählungen erfunden worden, dann fühlt man sich versucht, das Ganze allegorisch zu lesen. Natürlich könnte man auch sagen, die Eltern hätten die Tochter mit diesem Roman sozusagen geadelt, denn so wie jene (vor allem der Vater) seit Jahren durch magische Welten wandeln, hat ja nun auch die Tochter erste Schritte unternommen, um auf literarischem Wege die Fackel der Fantasie hoch zu halten. Doch das sind nur Gedankenspiele für Insider, die man lächelnd zur Kenntnis nimmt. Auf die Handlung des Romans selbst haben sie keine Auswirkung.

Durch den Keller eines alten Hauses, das sie mit ihren drei Urlaubsbekanntschaften Bea, Petra und Franziska, erforscht, gelangt Rebekka nach Märchenmond. Doch die Zeiten, in denen der weise Zauberer Themistokles in der gläsernen Feste Gorywynn über ein Land der Elfen, Zwerge und Ungeheuer herrschte, scheinen lange vorbei. Die Menschen wollen kein „magisches Pack“ mehr in ihrem Lebensraum, das mit einem Fingerschnippen erschafft oder zerstört, wofür man selbst hart gearbeitet hat. Auch die drei schwarzen Königinnen, die neuen Herscher über Märchenmond, scheinen sich die Verbannung aller Magie auf die Fahnen geschrieben zu haben. Gleichzeitig führen sie mit den Rittern ihrer Schwarzen Garde einen erbarmungslosen Krieg gegen „Die Horde“, eine Armee aus Ungeheuern, welche die Bewohner des Landes bedroht.

In diesen Konflikt wird Rebekka völlig unvorbereitet hineingeworfen. Wie es für Hohlbein’sche Helden typisch ist, hat sie von Tuten und Blasen keinen Plan, sondern befindet sich vielmehr lange Zeit einfach nur auf der pausenlosen Flucht vor unterschiedlichen Gefahren. Ihr zur Seite stehen dabei – nach und nach – der Gräuel Schnapp, die Zwillinge Torin und Toran sowie die stotternde Elfe Scätterling (der Name ist übrigens echt beknackt, sorry, auch wenn die Elfe die süßeste Figur des Romans darstellt). Mit sehr viel Ach und Krach, bösen Blicken, schnippischen Bemerkungen, Erkenntnissen, die zu kurz im Geiste aufblitzen, um wirklich zu reifen, und Antworten, die nur wieder neue Fragen aufwerfen – der Stil der Hohlbeins ist einfach unverkennbar –, irren die unfreiwilligen Helden durch die Lande um das Schattengebirge und sogar durch das Gebirge selbst, also ständig auf der Grenze zwischen „Gut“ und „Böse“, wie sie die Hohlbeins einst definiert hatten.

Entsprechend unklar ist auch die ganze Zeit, wer hier eigentlich der wahre Feind ist. Waren die Parteien in „Märchenmond“ vor vielen Jahren noch ziemlich eindeutig, fällt es einem in diesem Buch schon schwerer. Eigentlich sind ja die Schwarzen Königinnen die Bösen. Auf der anderen Seite bekämpfen sie doch die Horde, die geifernd und mordend eine Spur der Verwüstung durch Märchenmond zieht – also im Prinzip die Bösen sind. Doch die wiederum scheinen zugleich die Opfer der Panzerritter zu sein, der Schergen der Königinnen, also sind die vielleicht doch die Bösen? Oder gibt es außer einer Handvoll skurriler (und ziemlich mies gelaunter) Märchenwesen überhaupt keine treuen Seelen mehr hier?

Aber „Die Zauberin von Märchenmond“ ist nicht nur ein fantastisches Abenteuer, sondern zugleich eine sehr deutliche Auseinandersetzung mit der heutzutage so aktuellen Problematik des Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen. Das fängt schon mit den fremdenfeindlichen Sprüchen von Bea gegenüber dem türkischen Jungen Toran (hm...) im Prolog an und setzt sich dann in vielerlei Art und Weise in Rebeccas (Traum?)Reise durch Märchenmond fort. Man könnte eine Menge in den Krieg der seelenlosen Panzerritter gegen die bestialischen Mitglieder der Horde hineininterpretieren, ebenso wie in die Stammtischargumente der Dorfbewohner, wenn sie ihrer Abneigung gegenüber magischem Volk Ausdruck verleihen wollen. Und natürlich scheint Rebekka, die mit einem Gräuel (einem Angehörigen des Volkes, zu dem aus großen Teilen die Horde besteht), einer Elfe und zwei auch nicht ganz vom Märchenhaften unberührten Kindern unterwegs ist, die Rolle der Friedensstifterin zuzukommen.

Leider halten die Hohlbeins diesen hehren Anspruch nicht durch. Am Ende wollen sie dann doch die angenommene Sensationsgier ihres Publikums bedienen und beschwören eine gewaltige Schlacht herauf (die einmal mehr an die Schlachten um Helms Klamm oder Minas Tirith in Peter Jacksons „Der Herr der Ringe“-Verfilmungen erinnert – wenn auch mit einigen ironischen Brechungen). Auf der anderen Seite könnte man natürlich zynisch sagen, es wäre eigentlich nur der Realität nachgeeifert worden, in der es ja auch keine Versöhnung in letzter Minute zu geben scheint. Dessen ungeachtet hat man am Ende bedauerlicherweise generell das Gefühl, der Termindruck oder das komplizierte Gefüge ihrer eigenen Handlung hätten die Autoren überfordert. Gleich mehrere Punkte bleiben unaufgelöst (ich sage nur Märchenwesen und Absichten der Horde), wie genau Rebekka auf einmal die Welt rettet, ist auch nicht ganz klar und außerdem ist das Ende der Geschichte beinahe lakonisch und ein wenig holprig auf wenigen Seiten präsentiert. Für 800 Seiten Abenteuer hätte ich mir mehr erhofft.

Die Aufmachung des Buches ist dem Ueberreuter-Verlag erneut sehr gut gelungen. Der Hardcoverband ist stabil und das Covermotiv zeigt ein magisch glänzendes, aber zerfallenes Gorywynn. Leider wurde auf den Schutzumschlag diesmal verzichtet, sodass sich das Buch im Regal nicht ganz perfekt in die Reihe der schwarzen Hohlbein-Hardcoverbände von Ueberreuter einfügen will.

Fazit: Um es gleich vorweg zu sagen: Der Roman ist nicht schlecht, keineswegs. Aber er liest sich anders, als ihn manch einer erwartet haben mag. „Die Zauberin von Märchenmond“ ist nicht mehr das, was „Märchenmond“ einst war. Vieles, was einst die magische Stimmung dieser Welt ausmachte, ist heute bitterer Düsterkeit, falschem Schein und schmerzhafter Parodie gewichen. Die Grenzen zwischen Gut und Böse verwischen, die Beziehung zwischen den Protagonisten bleibt bis zuletzt angespannt. Man könnte glauben, die Autoren hätten ihren Idealismus von einst angesichts der Lebenswirklichkeit der heutigen Zeit verloren und wollten darum nicht mehr in schönere Sphären entfliehen, sondern vielmehr in Romanform anklingen lassen, wo es in der Welt (und der Fantasie) im Argen liegt.

Manche treuen Hohlbein-Leser mag dieser Ansatz verschrecken, andere mögen darin schlicht eine neue Schaffensphase sehen (auch die „Anders“-Romane waren vergleichsweise düster). Eigentlich ist es ja auch nur legitim, eine Welt, die schon dreimal bereist wurde, mal aus einer anderen Perspektive zu schildern – ansonsten wäre es ja eine bloße Wiederholung von Altbekanntem. Und Spannungsmomente, das muss man ihnen zugestehen, vermögen die Hohlbeins nach wie vor hervorragend zu erzeugen. Dennoch: Sollten die Hohlbeins mit dem Gedanken spielen, ein weiteres Mal die magischen Lande von Märchenmond zu erforschen, sollten sie vielleicht wirklich mal ihre Tochter ran lassen. Denn die Jugend vermag Orte zu bereisen, denen sich mancher Erwachsene entfremdet hat...


Die Zauberin von Märchenmond
Fantasy-Roman
Wolfgang & Heike Hohlbein
Ueberreuter 2005
ISBN: 3-8000-5175-3
864 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 19,95

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