Die Judaspapiere

Wenn Dan Brown und Bram Stoker sich Geschichten erzählen, dabei ein paar Gläschen Messwein und einige Bloody Marys trinken und dann durcheinander kommen würden, könnte dabei eine Geschichte herauskommen wie Rainer M. Schröders „Die Judaspapiere“. Wer nicht lesen will, muss hören und greife auf die gekürzte Lesung durch Stefan Merki zurück, die der Hörverlag herausgebracht hat.

von Simon Ofenloch

 

Ein Mann im Rollstuhl führt sie zusammen, drei Männer und eine Frau. Der Mann im Rollstuhl ist Lord Pembroke, ein eigenartiger, alter Mann, ein unsympathischer Mensch. Er hat auf sein Anwesen Pembroke Manor geladen. Doch nicht zum Spaß oder zur reinen Unterhaltung. Nein, Lord Pembroke hält einen Auftrag für seine vier Gäste bereit. Und ein „Nein“ ist für ihn nicht akzeptabel.

Die vier Geladenen würden sich auch hüten, sein Jobangebot auszuschlagen. Denn Lord Pembroke hat alle vier in seiner Hand. Indem er sie aus misslichen Situationen befreit hat – in die er selbst sie zuvor heimlich gebracht hat. Lord Pembroke treibt ein teuflisches Spiel mit dem Viergespann aus völlig unterschiedlichen Charakteren. Die scheinbar wild zusammengewürfelte Gruppe soll sich im Jahr 1899 auf die Suche nach dem geheimen Evangelium des Judas Ischariot machen, nach der Offenbarung des Jüngers, der Jesus verraten hat. Dem Schriftstück war bereits der Bruder von Lord Pembroke auf der Spur – bevor er dem Wahnsinn verfiel. Sein Vermächtnis ist ein kleines, ledergebundenes Notizbuch voller fremdartiger Zeichen und Zeichnungen, voller rätselhafter Texte und Darstellungen. Diese Hinterlassenschaft soll den vier Fremden den Weg zu dem Dokument weisen, von dessen Fund sich Lord Pembroke als Verantworter der Expedition ewigen Ruhm erhofft.

Die vier Gefährten machen sich auf den Weg, und allmählich wird ihnen klar, dass sie mit Bedacht ausgewählt und zusammengebracht wurden. Nur gemeinsam können sie die Herausforderungen meistern und die Gefahren überstehen, denen sie unterwegs begegnen. Mit vereinten Kräften wäre es letztlich ein leichtes, das Mysterium um die Judaspapiere zu lüften – wenn nicht weitere Parteien, darunter ein mächtiger Geheimbund, hinter den Schriften her wären. Und wenn nicht eine Person unter den vieren ein falsches Spiel spielen würde.

Rainer M. Schröder, der vielgereiste, deutsche Autor, der zahlreiche Jugendbücher mit historischem Setting verfasst hat, jagt seine Heldentruppe von Schauplatz zu Schauplatz, von England nach Österreich, in die Karpaten und nach Vorderasien. Immer in Bewegung, immer in Action. Die Entschlüsselung der Hinweise in dem Notizbuch, das den Vieren als Wegweiser dient, kommt niemals ins Stocken. Tatsächlich wirkt das Aufdecken der Fährte zum Evangelium des Judas fast ein wenig zu einfach für die vier Protagonisten. Der Zufall spielt ihnen oft in die Hände. Realistisch ist das nicht.

Aber Realismus ist sicherlich auch nicht der Maßstab für eine Geschichte, in der Bram Stokers berühmtester Figur plötzlich familiärer Zuwachs angedichtet und sie auf diese seltsame Weise wiederbelebt und in die Geschichte integriert wird. Wer einen Plot erwartet, der lediglich um die Suche nach einem religiösen Mysterium kreist – wie es der „Klappentext“ auf der CD-Box und der Werbetext des Verlags suggerieren –, der mag im Mindesten irritiert und im schlimmsten Fall enttäuscht oder gar verärgert von dieser gewagten inhaltlichen Zutat sein, die arg aus dem Rahmen fällt.

Etwas unbefriedigend ist das Ende der Geschichte. Die Auflösung fällt reichlich unspektakulär aus. Die Grundfesten des Christentums werden da nicht erschüttert.

Die Umsetzung als Hörbuch ist hingegen gänzlich gelungen. Der Schweizer Schauspieler Stefan Merki liest Rainer M. Schröders Text – wenn auch in einer gekürzten Fassung – mit einer angenehm klingenden, nuancenreichen Stimme.

Fazit: Mystery-Thrill und Steam Punk vermischen sich zu Pulp Fiction in Reinform. Hinzu kommt eine Portion Schauermärchen. Ungewöhnlich in der Zusammensetzung, aber durchaus unterhaltsam. Man sollte allerdings wissen, worauf man sich einlässt.


Die Judaspapiere
Gekürzte Lesung nach einem Roman von Rainer M. Schröder
Stefan Merki (Erzähler)
Der Hörverlag 2008
ISBN: 978-3-86717-361-2
8 CDs, ca. 600 min., deutsch
Preis: EUR 24,95

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