von Daniel Pabst
„Die Ghibliothek“ trägt als Untertitel: „Der inoffizielle Guide zu den Filmen von Studio Ghibli“. Das 192-seitige Sachbuch wurde von Michael Leader und Jake Cunningham ins Leben gerufen. Beide sind Podcaster („Little Dots Studios Podcast“). Nachdem die Erstauflage aus dem Jahre 2022 bei Panini Comics vergriffen ist, war es in diesem Jahr dann Zeit für eine Neuausgabe. Die Autoren widmen sich darin jedem einzelnen Ghibli-Film und versuchen sich an einer Erklärung, warum die Erzählweise, die Bilder und die Musik der Filme einen regelrechten Ghibli-Hype ausgelöst haben und wie es sein kann, dass die Filme selbst heute noch weiter an Beliebtheit gewinnen.
Zu Beginn des Sachbuches gibt es eine Einleitung der beiden Autoren. Beide sagen darin, dass sie „besessen“ von Filmen, Podcasts und Filmpodcast seien und dennoch erst durch Zufall im Gespräch miteinander herausfanden, dass Jake Cunningham kaum einen Studio-Ghibli-Film gesehen hatte. Das musste aus der Sicht von Michael Leader sofort geändert werden. Und so schauten beide die Filme und ließen die Öffentlichkeit in ihrem Podcast über drei Jahre hinweg daran teilhaben (https://shows.acast.com/ghibliotheque/episodes).
Aus dieser Zusammenarbeit wurde schließlich das Sachbuch „Die Ghibliothek“. Sie soll die Essenz der Podcast-Jahre sein, in der die beiden Autoren sich in die zauberhafte Ghibli-Welt stürzten, mit den unterschiedlichsten Personen Interviews führten und das Ghibli-Museum sowie den Ghibli-Park besuchten. Zudem soll das Werk Lust machen, den richtigen Studio-Ghibli-Film für sich zu finden oder einfach nochmal aus einer anderen Perspektive anzusehen. Damit richtet sich das Buch sowohl an alle Neueinsteigerinnen und Neueinsteiger – so wie es Jake Cunningham vormals war – als auch an Fans dieser grandiosen, nicht enden wollenden Phantasie-Welt.
Nach der Einleitung der Autoren, stellen sie die insgesamt 25 Filme des Studio Ghibli vor. Auf bis zum 10 Seiten pro Film sind die Hintergrundinformationen und Kommentare der Autoren – umrahmt von Filmplakaten und Bildern aus dem jeweiligen Film – zu lesen. Angefangen von „Nausicaä aus dem Tal der Winde“ (1984) bis hin zu „Der Junge und der Reiher“ (2023) sind alle Filme enthalten. Dabei streuen die Autoren immer wieder Ausschnitte aus Interviews und Wissenswertes zur Entstehungsgeschichte und den Titeln der Filme ein. Zum Beispiel wird darüber informiert, ob es „Ghibli“ oder „Jibli“ in der Aussprache heißen muss. Denn das Wort stammt aus dem Italienischen und wurde dann erst ins Englische übersetzt. Ursprünglich steht es für einen heißen Sahara-Wüstenwind und wurde dann auch für das italienische Flugzeug „Caproni Ca.309 Ghibli“ genutzt.
Ein sich wiederholendes Gerücht wird in dem Sachbuch ebenfalls benannt. Denn wann immer ein Film von Miyazaki erscheint, werden Stimmen laut, dass es sich hierbei um seinen letzten Film handeln würde. Bereits bei „Kikis kleiner Lieferservice“ (1989) hab er mit 48 Jahren ernsthaft darüber nachgedacht, aufzuhören. Mit der Premiere von „Kikis kleiner Lieferservice“ wurde aber ein neuer „Höhenflug“ erreicht und der Film erzielte 1989 das höchste Einspielergebnis eines japanischen Films. Damit sollte es also noch lange nicht sein Ende haben. Im Juli 1997 beispielsweise verkaufte „Prinzessin Mononoke“ mehr als 12 Millionen Tickets und brach den Rekord der höchsten Einspielergebnisse inländischer wie ausländischer Produktionen in der japanischen Filmgeschichte.
Und auch der neueste Film „Der Junge und der Reiher“, welcher in die überarbeitete Neuausgabe des Sachbuches mit aufgenommen worden ist, sorgte für klingelnde Kinokassen – wenn auch keine potenziellen Merchandise-Figuren auftauchen, wie etwa die Baumgeister in „Prinzessin Monoke“. Auch gab es zunächst keinen Trailer für den Film zu sehen. Das alles wirkte, so die Autoren, wie ein großes Geheimnis, welches am Ende tatsächlich fertiggestellt wurde. Nachdem „Der Junge und der Reiher“ in Japan angelaufen war, wurde er auf internationalen Filmfestivals gezeigt. Bei der Premiere in Toronto, so liest man, hat Guillermo del Toro dann gesagt: „Wir haben das Privileg, in einer Zeit zu leben, in der Mozart Symphonien komponiert oder Van Gogh Gemälde malt, denn Miyazaki ist ein Meister von ähnlichem Format“. Braucht es noch mehr Worte für die Arbeit von Miyazaki?
Ein paar Worte muss man auf jeden Fall noch zum schönen Cover der „Ghibliothek“ verlieren: Das Cover zeigt – wie könnte es anders sein – eine der bekanntesten Figuren aus der Welt von Ghibi: Totoro. Hierzu wird im Buch Toshio Suzuki (Vorsitzender von Studio Ghibli) zitiert, der meint, dass diese ikonische Figur für Miyazaki zum „Dorn im Auge“ geworden sei, da nichts, was er machen würde, je Totoro übertreffen könne. Auch mit solchen Zitaten haben es die beiden Autoren des Sachbuches geschafft, die Faszination einzufangen. Miyazaki sagte zu seiner Motivation in einem arte-Interview („Ghibli et le mystère Miyazaki“, 2004): „Das 21. Jahrhundert ist ein hartes Zeitalter. Wir erleben schwere Zeiten. Die Menschen haben Angst vor der Zukunft. Heute muss alles, was bisher als selbstverständlich galt, neu überprüft werden. Das gilt auch für uns. Wir müssen unsere Arbeitsweise überdenken und die Filme derart anpassen. Egal, ob man damit Kinder oder Erwachsene ansprechen möchte. (…) Auch ich habe oft negative und pessimistische Gedanken. Aber ich habe nicht vor, diese in meinen Filmen auszudrücken. Ich möchte den Zuschauern – vor allem den Kindern – Freude bereiten. Deswegen denke ich ständig darüber nach, wie ich mit fröhlichen Bildern eine fröhliche Stimmung erzeugen kann.“
Dass Miyazaki für seine Filme nicht nur in Japan Erfolge feiern konnte, wurde mit der Oscarverleihung im Jahre 2003 manifestiert. Michael Leader und Jake Cunningham berichten im Artikel zu „Chihiros Reise ins Zauberland“, dass dieser Film ein „sofortiger Hit“ wurde und 2001 über 30 Milliarden Yen in Japan einspielte, was etwa so viel war wie die nächsten fünf einnahmestärksten Filme damals. Im Ausland gewann der Film den Goldenen Bären sowie den Oscar für den besten Animationsfilm. Damit ist er bis heute der einzige nicht englischsprachige Film, der diese Auszeichnung erhielt, erfahren wir von den Autoren des Buches. Als interessanten Fakt lesen wir, dass Miyazaki der Oscarverleihung fernblieb und erst später in einem Interview ausrichten ließ: „Die Welt befindet sich derzeit in einer sehr traurigen Lage und daher tut es mir leid, dass ich mich nicht recht über diesen Preis freuen kann. Dennoch bin ich all meinen Freunden dankbar für ihre Mühen, die ermöglicht haben, dass Chihiros Reise ins Zauberland in Amerika gezeigt werden konnte, und auch allen, die meinen Film so gut bewertet haben“.
Die fröhliche Stimmung der Ghibli-Filme fängt die Ghibliothek gekonnt ein. Am Ende der „Ghibliothek“ folgen ein Nachwort sowie ein Verzeichnis mit weiterführender Lektüre und Dokumentationen, Bildnachweise und ein Index. Das Buch ist im handlichen Hardcoverformat von 19,3 x 24,4 cm erschienen und macht einen hochwertigen Eindruck. Beim Lesen entsteht eine innere Ruhe und gleichzeitig stimmen einen die bunten Zeichnungen nachdenklich. Die vielen Bilder im Sachbuch wecken die schönen Erinnerungen an die Kinobesuche und Heimkinoabende, welche sich jetzt durch den Streamingdienstleister Netflix zu jeder Zeit wiederholen lassen (dort wurden fast alle Ghibli-Filme im April 2020 in das Programm aufgenommen).
Die Aneinanderreihung der 25 Filme im Buch lässt Gemeinsamkeiten hervortreten, wie etwa die am häufigsten wiederkehrende Themen: Natur, Umweltschutz, japanische Mythologie, Yokai, weibliche Identifikationsfiguren, Zauberei, magische Wesen und das Fliegen (technische Fluggeräte oder fliegende Wesen). Auch ziehen die Autoren Parallelen zwischen den Werken, beispielsweise weisen sie darauf hin, dass bei „Chihiros Reise ins Zauberland“ ein ähnlicher Anfang wie bei „Mein Nachbar Totoro“ gewählt wurde: Eine Familie, die in ihrem Auto zu ihrem neuen Zuhause unterwegs ist. All die darauf folgenden phantastischen Welten mit ihren liebenswerten Charakteren werden im Sachbuch auf hervorragende Weise präsentiert und für alle Interessierten näher gebracht.
Bei all des Lobes gibt es an diesem Werk auch Kritikpunkte. Zwar ist das gewählte Format handlich, jedoch hätte ein größeres Format die Bilder noch eindrucksvoller erscheinen lassen. Noch ärgerlicher – und damit auch der Hauptkritikpunkt an dem Sachbuch – ist, dass der Text in sehr kleiner Schrift abgedruckt worden ist. Da strengt das Lesen nach einer Weile an. Auch die zugehörige Schriftart trägt dazu bei, dass man das Buch nur in mehreren Etappen liest. Da es sich um eine Neuausgabe handelt, hätte man über ein größeres Format nachdenken können. Vielleicht traut man sich dies in einer dritten Ausgabe – nachdem dann ein neuer Ghibli-Film erschienen ist? Und ob mit 30,00 Euro der Preis zu hoch angesetzt worden ist, muss jede und jeder selbst entscheiden. Fans, die Totoro-Figuren und Plüschtiere für horrende Summen kaufen, werden sich davon sicher nicht abschrecken lassen ...
Abschließend soll für alle Lesenden dieser Rezension noch auf einen Satz aus der „Ghibliothek“ hingewiesen werden, der zu einem unverhofften Filmerlebnis führen könnte: „Wenn es in der Filmografie von Ghibli so etwas wie eine ‚versteckte Perle‘ gibt, ist es „Flüstern des Meeres“, und aus dem gesamten Katalog dürfte es der Film sein, der am meisten von der Zusammenarbeit des Studios mit den Streamingdiensten Netflix und HBO Max profitiert, die es haufenweise neuen Fans weltweit ermöglicht hat, diese Kuriosität zu entdecken und ihr neues Leben und einen neuen Stellenwert einzuhauchen“. „Flüstern des Meeres“ nämlich ist einer der Filme, die zwar vom Studio Ghibli produziert wurden, bei denen sich jedoch andere Künstler verwirklichen durften (Regie: Tomomi Michizuki, Drehbuch: Keiko Niwa, Veröffentlichungsjahr: 1993) und den die Autoren besonders hervorheben. Würde man den beiden übrigens „eine Pistole auf die Brust setzen“, so erfahren wir im Nachwort, würden beide Autoren den Film „Mein Nachbar Totoro“ als Miyazakis größtes Meisterwerk auszeichnen. Was meint ihr?
Fazit: Die Neuausgabe der „Ghibliothek“ trägt dazu bei, die Faszination des japanischen Filmstudios „Ghibli“ noch weiter zu verbreiten. Der Hype um die Filme von Hayao Miyazaki scheint seinen Höhepunkt noch immer nicht erreicht zu haben. Nachdem die Erstauflage vergriffen war, freut man sich über die Neuausgabe, die auch dem aktuellsten Film einen Artikel gewidmet hat. Einzig das Format und die Schrift hätten größer ausfallen müssen. Da man nach dem Lesen der „Ghibliothek“ den Fernseher anschalten wird, um einen Ghibli-Film zu schauen, haben die Autoren Jake Cunningham und Michael Leader jedoch alles richtig gemacht. Schön, dass es diesen inoffiziellen Guide gibt.
Die Ghibliothek (überarbeitete Neuausgabe)
Sachbuch
Jake Cunningham, Michael Leader
Panini 2024
ISBN: 978-3-8332-4500-8
192 S., Hardcover, deutsch
Preis: 30,00 EUR
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