Die Frauen von Nell Gwynne’s

In der Novelle „Die Frauen von Nell Gwynne’s“ entführt die Autorin Kage Baker den Leser ins London des 19. Jahrhunderts, wo Lady Beatrice keine gewöhnliche Hure ist, sondern vielmehr mit den anderen Mädchen des „Nell Gwynne’s“ als Spionin in der feinen englischen Adelsgesellschaft arbeitet und dort ihren „Mann“ stehen muss.

von Yvonne Staller

Lady Beatrice ist eine Tochter aus guten Hause. Ihr Vater ist britischer Soldat, der mit seiner Familie im fernen Indien lebt. Als er schließlich nach Kabul beordert wird, ahnt Lady Beatrice noch nicht, dass dort ein schrecklicher Krieg tobt. Ihr Vater wird zusammen mit vielen anderen Soldaten ermordet, Lady Beatrice wird verschleppt, vergewaltigt und somit entehrt. Sie kann sich jedoch aus der Gefangenschaft ihrer Peiniger befreien und verkauft ihren Körper an einen Soldaten, um bei ihm Unterschlupf zu finden. In einem harten Überlebenskampf schafft sie es schließlich nach London zurück.

Dort gilt sie auf Grund dieser Vorfälle als nicht mehr gesellschaftsfähig und kommt schließlich in das Etablissement der „blinden“ Mrs. Corvey, die sie in ihr Haus „Nell Gwynnes’s“, das beste und exklusivste Bordell in Whitehall, aufnimmt.  Doch dahinter verbirgt sich mehr als ein herkömmliches Bordell. Vielmehr arbeiten Mrs. Corvey und ihre Mädchen als eine Schwesternorganisation für die Spekulative Gesellschaft der Gentlemen. Neben all den Erfindungen, die sie ihr Eigen nennen kann, sorgt diese auch für das Wohlbefinden der Mädchen. Als ein Gentlemen der Gesellschaft vermisst wird, kommt es schließlich zum Sondereinsatz der Schwesternschaft auf dem Schloss des eitlen Lord Basmond, bei dem es nicht nur gilt, den Vermissten zu finden, sondern auch London und das ganze Land zu retten ...

Kage Bakers „Die Frauen von Nell Gwynne’s“ ist eigentlich kein Roman, sondern eine Novelle, die gerade mal 160 Seiten umfasst. Es ist ein recht dünnes Buch mit relativ großer Schrift. Die Coverillustration wurde von Feder&Schwert richtig schön gehalten, da Fotographie mit comicartiger Zeichnung verschmilzt. Lediglich beim Titel und beim Autorenname wurde in meinen Augen zu viel geschnörkelt. Das Buch wurde übrigens 2010 mit dem Nebula Award als beste Novelle ausgezeichnet.

Die Story dieser kleinen Erzählung liest sich sehr schnell, sodass man das Buch in einem Rutsch durchlesen kann. Kage Bakers Erzähl- und Sprachstil ist der damaligen Zeit angepasst und lässt den Leser ein wenig in Nostalgie schwelgen. Nur leider darf man von 160 Seiten nicht zu viel erwarten. Es gibt hier kaum Platz für mehr Hintergrund und Tiefgang. Schade, denn das Buch hätte gut und gerne noch 200 Seiten mehr vertragen. Zumal man das Gefühl hat, dass die Autorin zehn Seiten vor Schluss zum Ende kommen musste und sich eine schnelle Lösung ausgedacht hat, die den Leser jedoch unbefriedigt zurücklassen kann. Alles wird auf einmal spannungsarm und hektisch abgehandelt, sodass es einerseits gar keinen Spaß mehr macht, die Geschichte zu verfolgen, und ich zumindest andererseits auch nach nun dreimaligem Lesen nicht verstanden habe, wie das verzwickt oder auch unglücklich (auf)gelöste Ende zu verstehen sein soll. Das ist leider ein großer Mangel.

Wegen der Kürze des Romans blieb der Autorin zudem kaum Zeit, ihre Charaktere zu entwickeln. Lady Beatrice ist die Hauptperson der Geschichte, und sie ist es auch, deren Charakter eigentlich dem Leser auch am nächsten steht. Aufgrund ihrer erlebten Schicksalsschläge kann man mit ihr noch am besten mitfühlen. Kurz gefolgt von Mrs. Corvey, die auch ein paar Seiten in der Geschichte geschenkt bekommen hat und mit ihrer mütterlichen und zugleich resoluten Art irgendwie sympathisch wirkt. Die restliche Besetzung der „leichten“ Mädchen sowie die Gäste bei Lord Basmonds Empfang bleiben eher blass, und man kann sie sich nur schlecht vorstellen.
 
Fazit: „Die Frauen von Nell Gwynne’s“ ist eine Novelle der Anfang 2010 verstorbenen Autorin Kage Baker. Die Grundidee ist sehr gut: Die Heldin ist eine Hure, die in einem Bordell arbeitet, das als Hauptquartier einer Geheimorganisation dient. Die Umsetzung ist aber leider nicht so gelungen. Stilistisch gefällt das Ganze durchaus. Ein paar Seiten mehr hätten dem Buch aber gut getan, um die Charaktere zu entfalten und den Schluss nicht irgendwie übereilt wirken zu lassen. Alles in allem ein Roman, den man nicht gelesen haben muss, der aber zumindest Liebhabern des Genres Steampunk als Zwischendurchlektüre zu empfehlen ist.


Die Frauen von Nell Gwynne’s
Urban-Fantasy-Roman
Kage Baker
Feder&Schwert 2010
ISBN: 978-3-867-62074-1
160 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: EUR 9,95

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