von Andrea Bottlinger
„Die Anzahl der Jungen auf der Insel variiert natürlich, je nachdem, wie viele getötet werden und derlei. Und wenn sie den Eindruck machen, dass sie erwachsen werden, was gegen die Regeln verstößt, dünnt Peter sie aus.“
Dieser Ausschnitt aus James Barries „Peter Pan“ hat Brom, der nur unter seinem Nachnamen veröffentlicht, inspiriert. Was hat das zu bedeuten, er „dünnt sie aus“? Was geschieht mit den verlorenen Jungs, die erwachsen werden? In „Der Kinderdieb“ hat Brom versucht, eine Antwort auf diese Fragen zu finden. Sein Ziel war es, den Schleier von Barries poetischer Sprache beiseite zu ziehen und die wahre Grausamkeit von Peter Pans Welt zu zeigen.
Doch damit nicht genug. „Der Kinderdieb“ vereint neben Barries „Peter Pan“ auch die Einflüsse vieler Märchen, Mythen und Sagen in sich. Der Roman ist keine Nacherzählung einer bereits bekannten Geschichte, sondern er nimmt eine berühmte literarische Figur und rückt sie in ein völlig neues Licht.
Worum es geht
Peter, der Kinderdieb, ist in New York auf der Jagd, stets auf der Suche nach den verlorenen, verzweifelten Kindern, die nirgendwo mehr hinkönnen, und die ihm deshalb bereitwillig folgen. Dabei trifft er auf Nick, der von Zuhause ausgerissen ist, weil seine Mutter sich eine Bande jugendlicher Krimineller ins Haus geholt hat und er es dort nicht mehr aushält.
Peter bringt Nick in das sterbende Avalon. Die so genannten Fleischfresser bedrohen die magische Insel, roden die Wälder und töten ihre Bewohner. Diese sind untereinander zerstritten und haben der Gefahr wenig entgegenzusetzen. Nur die von Peter angeführte Gruppe wilder Kinder, die Teufel, stellen sich den Fleischfressern entgegen, um zu verhindern, dass sie ins Herz der Insel vordringen. Der Kampf fordert hohe Verluste, so dass Peter ständig in die Welt der Menschen zurückkehren muss, um die Reihen der Kinder neu zu füllen.
Während Nick sich in der gefahrvollen Welt Avalons zurechtfinden muss, erfährt der Leser immer mehr über Peters Vergangenheit und darüber, wie er letztendlich zum Kinderdieb wurde.
Überraschend blutig
Es ist Brom auf jeden Fall gelungen, die Grausamkeit von Peter Pans Welt zu zeigen. Dafür, dass „Der Kinderdieb“ in einem Verlag erschienen ist, der sich größtenteils auf All-Age-Literatur spezialisiert hat, ist das Roman überraschend blutig. Das Leid und das teilweise sinnlose Sterben der Charaktere wird in einer knappen, nüchternen Sprache dargestellt, der man sicherlich nicht vorwerfen kann, poetisch oder beschönigend zu sein. Wer ein nettes Jungendbuch erwartet hat, wird bei diesem Roman eine Überraschung erleben.
Alle Kinder, die Peter folgen, haben eine schwere Vergangenheit und daher teilweise so viele Ecken und Kanten, dass es schwer ist, sich mit einem von ihnen zu identifizieren. Doch das macht sie als Charaktere umso realistischer, und ihre Reaktionen auf die Magie Avalons wirken um vieles echter als in den meisten Fantasy-Romane. Es ist eine Mischung aus Staunen, Angst und der Überlegung, wie viel Geld man verdienen könnte, wenn man einige der Dinge in die Welt der Menschen zurückbringen und verkaufen würde. Zudem entwickeln weder Nick noch einer der anderen Charaktere sich plötzlich zum strahlenden Helden. Sie alle bleiben dem Verhalten nach wilde Straßenkinder, mit dem Unterschied, dass sie gelernt haben, mit Speer und Schwert umzugehen.
Die Geschichte selbst beginnt einfach. Man glaubt, den typischen Fantasy-Plot vor sich zu haben: Die Bedrohung in Form der Fleischfresser muss besiegt werden, um Avalon zu retten. Doch mit der Zeit wird immer unsicherer, ob es überhaupt eine gute Seite in diesem Konflikt gibt. Bereits recht früh im Roman wird Peters Tun als fragwürdig dargestellt. Er entführt Kinder, damit sie für ihn kämpfen und sterben. In den Rückblicksszenen erfährt man zwar die Gründe dafür, doch gleichzeitig stellt Nick Peters Motive immer wieder in Frage, so dass man stets beide Seiten der Medaille vor Augen hat.
Der Konflikt zwischen den Fleischfressern und den Bewohnern Avalons, wirkt zudem immer sinnloser, je mehr man über seine Hintergründe erfährt. Was zu Beginn wie ein heldenhafter Kampf zur Rettung einer Insel voller Magie und Wunder erscheint, wird daher schnell zu einem Kampf ums Überleben für Nick und die anderen Kinder, in dem die Frage nach Gut oder Böse zunehmen unwichtig ist.
Auf diese Art webt der Autor eine düstere und spannende Geschichte, die einige Fragen aufwirft, ohne sie aber zu beantworten oder gar zu belehren zu wollen.
Fazit: „Der Kinderdieb“ zeigt nicht nur mit großem Erfolg die dunkle Seite von Barries „Peter Pan“, sondern erzählt außerdem eine neue, spannende Geschichte, in der viele Einflüsse, aus verschiedenen Mythen und Sagen verarbeitet sind. Der Roman ist sicher eine lohnende Lektüre für alle Leser, die es gerne düster mögen und nicht unbedingt ein Happy End erwarten.
Der Kinderdieb
Fantasy-Roman
Brom
PAN Verlag 2010
ISBN: 978-3426283295
655 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 16,95
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