von Roland Kasper
Der Weltenentwurf
Pullman schafft eine recht faszinierende alternative Erde, die sehr große Ähnlichkeit mit der Realen hat (zumindest geographisch), jedoch eine etwas andere Entwicklung durchlaufen hat. Naturwissenschaft, Theologie und Philosophie sind miteinander verschmolzen, Atomkraftwerke liefern „anbarische“ Energie für Lampen, Kohlenspiritus treibt die Motoren von Luftschiffen an, in Pelze gekleidet begibt man sich mit Motorschlitten und Gasballons auf arktische Expeditionen und bringt von dort Photogramme in Schwarz-Weiß mit. Autos werden erwähnt, ebenso dampfbetriebene Züge, tuckernde Flusskähne, Kleidung aus Kohlenseide und noch unzählige weitere bekannte oder selbsterklärende Details (eigentlich kann man sich unter allen „fremdartigen“ Begriffen sofort etwas vorstellen).
Die mächtige Kirche, vertreten durch das Magisterium, einer undurchsichtigen Ansammlung von Behörden und Gerichten (eingerichtet nach dem Tode Papst Johannes Calvins und das Papsttum ablösend), hat die absolute Macht über sämtliche Bereiche des Lebens. Sie übt eine strenge Kontrolle über die Wissenschaften aus und viele Erkenntnisse der „experimentellen Theologie“ werden religiös gedeutet oder, wenn sie nicht ins Bild passen, auch mal vom „Geistlichen Disziplinargericht“ unterdrückt.
Auf politischer Ebene sind die Tartaren dabei, einen großen Teil der Welt zu erobern.
An wirklich phantastischen Elementen kommt hinzu, dass jeder Mensch einen Dæmonen besitzt, ein seelenverwandtes Wesen, das sich immer in der Nähe „seines“ Menschen aufhält, vor der Pubertät beliebig seine Tiergestalt wechseln kann und danach eine feste, der Persönlichkeit des Menschen entsprechenden Gestalt annimmt. Ein Dæmonen stirbt zusammen mit seinem Menschen (und umgekehrt) und es ist ein undenkbarer Frevel, den Dæmonen eines anderen zu berühren. Um diese enge Beziehung zwischen Mensch und Dæmon wird sich ein Großteil des Romans drehen.
Zusätzliche phantastische Komponenten sind intelligente, Rüstung tragende, aber dæmonenlose „Panzerbären“, auf Wolkenkiefernzweigen fliegende Hexen (deren Dæmonen sich im Gegensatz zu denen der Menschen extrem weit von ihren Partnern entfernen können), Städte, die im Nordlicht zu schweben scheinen und der mysteriöse Staub, um den sich so vieles dreht und letztendlich alle Geschehnisse auslöst.
Zum Inhalt (Achtung Spoiler!)
Wir lernen Lyra als Waisenkind im Jordan-College von Oxford kennen, wo es von den Wissenschaftlern aufgezogen wird und viel Zeit damit verbringt zu spielen (über Dächer zu klettern, „Kriege“ gegen die Ziegelbrennerkinder in den Schlammgruben auszutragen, ein Hausboot der „Gypter“ zu stehlen) und eine Menge Lügengeschichten zu erzählen. Während einer Präsentation ihres Onkels Lord Asriel, an der sie verbotener- und zufälligerweise teilnimmt, erfährt sie von der Stadt im Nordlicht und hört zum ersten Mal vom Staub, der aus dem Weltraum herab auf Erwachsene fällt und nur auf bestimmten Photoplatten sichtbar gemacht werden kann. Im weiteren Verlauf erfahrt man, dass beständig Kinder verschwinden (und man dafür die „Gobbler“ verantwortlich macht) und auch in Oxford verschwinden welche, inklusive Lyras Freund, der Küchenjungen Roger. Lyra selbst verlässt Jordan-College in der Obhut der charismatischen Mrs. Coulter und im Besitz eines geheimnisvollen Alethiometers, das demjenigen, der es zu lesen vermag, die Wahrheit sagt.
Im Zuge einer Cocktailparty lernt Lyra die einschüchternde Seite von Mrs. Coulter kennen und erfährt, dass diese die Leiterin der General-Oblations-Behörde ist, deren Mitglieder „Gobbler“ genannt werden. Lyra flieht in der Nacht und wird (zufälligerweise) von den Gyptern aufgenommen, die sie wiederum (nach Überredung) auf eine Expedition in den Norden mitnehmen, um die verschwundenen Kinder zu befreien (und ihren von den Panzerbären im Auftrag der Kirche gefangen gehaltenen Onkel). In Lappland angekommen, erfahren sie von einer Forschungsstation namens Bolvangar, zu der die Kinder gebracht werden, und machen sich in Begleitung eines angeheuerten Panzerbären dorthin auf. Und dort schließlich enthüllt sich Lyra und ihren Begleitern das furchtbare Geheimnis um die verschwundenen Kinder, bevor sie sich auf ein neues, vielleicht noch größeres Abenteuer begibt. (Weiter geht’s im nächsten Band der Trilogie).
Meine Kritik
Die durchaus spannend klingenden Unterschiede zur realen Welt kommen meiner Meinung nach zu kurz und hätten eine tiefere Ausführung verdient. Die Charaktere bleiben recht flach und ihre Handlungen sind nicht immer nachvollziehbar (und Erwachsene lassen sich wohl grundsätzlich von kleinen Mädchen übertölpeln).
Dies kann man damit erklären, dass es ein Kinder-/Jugendroman sein soll (für jüngere Kinder halte ich die teils drastischen Gewaltszenen allerdings für nicht geeignet), dafür erscheint mir aber der Hintergrund mit der „bedrohlichen“ Kirchenbehörde, der Vermischung von Theologie und Naturwissenschaften und den politischen Konflikten der einzelnen Fraktionen (Hexen, Panzerbären, Gypter, Staaten, Kirche) als zu „erwachsen“.
Den Hintergrund finde ich faszinierend und spannend, die Abenteuergeschichte an sich ist aufgrund der vielen Zufälle eher Durchschnitt und sehr viele Fragen bleiben, da es der erste Band einer Trilogie ist, natürlich erst einmal unbeantwortet. So bleibt mir das Dilemma, dass ich gerne mehr über die Hintergründe erfahren würde, jedoch eigentlich keine Lust auf eine ähnlich mittelmäßig erzählte Handlung habe.
Fazit: „Der goldene Kompass“, der erste Band einer Trilogie von Philip Pullman, besticht durch den Entwurf einer faszinierenden alternativen Erde. Die Handlung aber um das Waisenkind Lyra und ihren Dæmon Pantalaimon, die beide nach verschwundenen Kindern suchen, überzeugt mich nicht wirklich. Zudem scheint sich der Autor nicht recht einig gewesen zu sein, ob er das Buch nun für Kinder oder für Erwachsene schreiben wollte. So steht der kindlichen Heldin eine komplizierte und düstere Welt gegenüber. Dies beides, so finde ich, will nicht so recht zusammenpassen.
…und was die Einhörner auf dem Einband mit dem Inhalt zu tun haben, kann ich mir momentan wirklich nicht erklären…
Der goldene Kompass (His Dark Materials 1)
Fantasy-Roman
Philip Pullman
Heyne 2005
ISBN: 3-453-72059-8
410 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: EUR 8,00
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