Death

Die meisten Darstellungen des Todes in der Kunst-, Film- und Literaturgeschichte gestalten sich alles andere als sympathisch. Er tritt als grimmiger Sensenmann in Erscheinung, spielt Schach gegen desillusionierte Ritter wie im schwedischen Filmklassiker „Das siebte Siegel“ und neigt höchstens gelegentlich zu Melancholie wie in Fritz Langs Stummfilm-Drama „Der müde Tod“. In seinem postmodernen Comic-Epos „Sandman“ korrigierte Neil Gaiman diese tradierte Vorstellung nachhaltig: Bei Death handelt es sich nicht um einen Er, sondern um eine charmante Sie, die im Unterschied zu ihrem grüblerischen und meistens schlecht gelaunten Bruder Dream über einen ausgeprägten Sinn für Humor verfügt.

von Andreas Rauscher

 

 

Die Endless aus Neil Gaimans „Sandman“-Kosmos erscheinen auf den ersten Blick wie eine beispielhafte Umsetzung jener Archetypen, die seit dem Erfolg von Joseph Campbells „Held in tausend Gestalten“ und der Anwendung auf Hollywood-Blockbuster-Strukturen durch Christopher Vogler seit mehreren Jahren Schriftsteller-Workshops und Drehbuchkurse heimsuchen. Die Personifikationen grundlegender Eigenschaften der menschlichen Existenz überdauern Gottheiten und mythologische Gestalten, geraten wie der zu Depressionen und verbissenen Entscheidungen neigende Dream und der zweigeschlechtliche zynische Bonvivant Desire in Familienstreitigkeiten und interagieren auf mehr oder weniger nachhaltige Weise mit dem gewöhnlichen Alltag.

Doch eine der besonderen Stärken von Neil Gaimans Arbeit als Comic-Autor und Schriftsteller besteht darin, dass er sich gerade nicht mit dem zu erwartenden Rollenmuster der Archetypen zufrieden gibt. An einer Schlüsselstelle des zehn Bände umfassenden „Sandman“-Epos erklärt Destruction, dass jeder der endlosen Familie zugleich auch das eigene Gegenteil umfassen würde und gibt auf Grund seiner Faszination für die menschliche Kreativität die Verkörperung der Zerstörungskraft auf. Den Hinweis auf dieses dialektische Wissen gab ihm seine ältere Schwester Death, die nach anfänglicher Verbitterung beschlossen hat, ein positives Verhältnis zum Leben einzunehmen. Die Tragik ihres Bruders Dream besteht letztendlich darin, dass er den eigenen Widerstreit zu lange ignoriert und nicht die realen albtraumhaften Konsequenzen seiner Selbstbezogenheit bemerkt hat. Den Warnungen vor Stagnation, die Death ihm immer wieder ins Gedächtnis ruft, schenkt er zu wenig Beachtung. In diesem Fall hängt er zu sehr romantisierter Todessehnsucht nach, um auf die besorgten Anregungen des Todes zu hören. Nicht weiter verwunderlich, schließlich bevorzugt Death im Gegensatz zu Dream auch die Disney-Version von Andersens Meerjungfrau mit Happy-End. Im Unterschied zu Dream und Langs müdem Tod verharrt Death, die den fünfzehnten Platz auf der Liste der einflussreichsten Comic-Figuren des britischen Filmmagazins „Empire“ belegt, nicht in Lethargie, sondern ergreift gerne die Initiative. Zum besseren Verständnis des Verlusts, den sie den Sterblichen bereitet, nimmt sie einmal in hundert Jahren menschliche Gestalt an, um die Welt der Menschen körperlich zu erfahren.

Auf diesen besonderen Tag des Todes auf Urlaub konzentriert sich die erste der beiden in dem Band „Death“ enthaltenen Graphic Novels „The High Cost of Living“ von 1993 (dt. „Der Preis des Lebens“), während die zweite 1996 erstmals veröffentlichte Erzählung „The Time of Your Life“ (dt. „Die Zeit Deines Lebens“) in die graue Zwischenwelt zwischen Leben und Tod führt. Die effektvolle grafische Umsetzung zielt, Death‘ Charakter entsprechend, auf emotionale Einfühlung und weniger auf die formalen Experimente, die einige „Sandman“-Bände prägen. Gerade durch die freiwillige Beschränkung ihres Wissens um die letzten Dinge und den Verzicht auf jegliche pompöse Selbstinszenierung erscheint Death als sympathischste Figur des „Sandman“-Universums. Zugleich erfolgen ihre kurzen Auftritte in der „Sandman“-Saga derart akzentuiert, dass sie noch geheimnisvoll genug bleibt, um nicht berechenbar zu erscheinen. Von ihrer Welt, die einmal als helles Apartment und ein anderes Mal als Felder des Elysiums abgebildet wird, bekommt man im Unterschied zu Destiny, Dream, Despair, Desire oder Delirium keinen allzu umfassenden Eindruck. An diese Strategie der zugänglichen emotionalen Nähe bei einem gleichzeitigen Reservoir an Ungesagtem knüpfen auch die „Death“-Graphic Novels an, die zu den besten Erzählungen des „Sandman“-Kosmos zählen.

Der Point-of-View konzentriert sich gerade nicht auf Death, sondern in der ersten Geschichte auf den depressiven Jugendlichen Sexton Furnival, der düsteren Gedanken an seinen geplanten Selbstmord nachhängt und unter heutigen popkulturellen Koordinaten einen perfekten Emo abgeben würde, und in der zweiten Graphic Novel auf das lesbische Paar Foxglove und Hazel, die das Leben ihres Adoptivkindes retten wollen. Sexton begegnet Death, die sich gerade nicht im Dienst befindet, auf einer Müllkippe. Die Situation des potenziellen Selbstmörders, der nach einer abenteuerlichen Nacht mit dem Tod einen neuen Sinn in seinem Leben entdeckt, hört sich in der dramaturgischen Konstruktion nach der perfekten Grundlage für postmoderne ironische Brechungen an. Doch die Finesse von Neil Gaiman besteht darin, dass er die starren Zuschreibungen und Ikonographien tradierter Fantasy nur so weit relativiert, dass wieder ein emotionaler Bezug zu den Charakteren ermöglicht wird, der nicht in die affirmative Kitschfalle gerät. Das Verhältnis zwischen Death und Sexton gestaltet sich nach den anfänglichen ironischen Brechungen gänzlich unironisch. Die Ironie dient lediglich dazu, die Absurdität des Szenarios vollkommen plausibel erscheinen zu lassen.

Mit ihrem verspielten, aber nicht wirklich gruftigen Goth-Outfit entspricht Death den Dress-Codes der New-Wave-Szene, wahrscheinlich zieht es sie deshalb in „The High Cost of Living“ auf das Konzert der angehenden Indie-Songwriterin Foxglove, die als Nebenfigur bereits in der „Sandman“-Saga auftrat. Deren Zerrissenheit zwischen den Früchten ihres nach Jahren endlich eingetretenen Ruhms und ihrer Beziehung zu ihrer geheim gehaltenen Partnerin Hazel, mit der sie gemeinsam ein Kind groß zieht, steht im Mittelpunkt der zweiten in dem Band enthaltenen Graphic Novel „The Time of Your Life“. Diese begibt sich neben einer Aufbereitung gängiger Rock-Topoi in surreale Gefilde, die aus einem frühen Tim-Burton-Film stammen könnten.

In ihrem dramaturgischen Aufbau sind beide Erzählungen in sich geschlossen und verzichten glücklicherweise auf jene Querverweis-Exzesse, die andere Spin-Offs zu bekannten Comic-Serien häufig ermüdend erscheinen lassen. Im Prinzip geht es trotz aller postmoderner Reflexivität dann doch wieder um die ersten und letzten Dinge des Lebens, allerdings mit einer Leichtigkeit, die eindrucksvoll beweist, dass Neil Gaiman Phantastik als kreativen Impuls und nicht als Totentanz erstarrter Konventionen begreift.

Die Kurzgeschichten „Eine Wintergeschichte“, in der Death beschließt, ihre ursprüngliche Bergmansche Persona hinter sich zu lassen (der bedauernswerte Ritter aus dem „Siebten Siegel“ wird auf Grund seiner fehlenden Schachpartnerin in Zukunft Patiencen legen müssen), und „Das Rad“, einem Stimmungsbild nach dem 11. September, runden den durchgehend empfehlenswerten Sammelband ab.

Fazit: Die beiden in diesem Band versammelten Graphic Novels über die lebensbejahendste Figur aus Neil Gaimans „Sandman“-Zyklus bilden keine einfache Spin-Off-Erzählung zum postmodernen Comic-Epos. Sowohl „The High Cost of Living“, als auch „The Time of Your Life” entwickeln eigenständige Erzählungen um Einsamkeit, Verzweiflung und Entfremdung. Die vermeintlichen ironischen Umkehrungen resultieren in einer dem Charakter von Death entsprechenden einfühlsamen Erzählhaltung. Pointierte Feel-Good-Geschichten über eine Verkörperung des Todes, die dem Leben neuen Sinn verleiht.


Death
Comic
Neil Gaiman, Chris Bachalo, Mark Buckingham, Dave McKean
Panini Comicy / Vertigo 2010
ISBN: 978-3-86607-931-1
224 Seiten, Softcover, deutsch
Preis: EUR 19,95

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