Classic Hârnmaster

Dieses Fantasy-Rollenspiel ist ein wahres Highlight der „Classic“-Reihe von Ulisses Spiele. Endlich ist dieser Klassiker unter den Rollenspielen wieder auf Deutsch erhältlich. Er ist bekannt für seinen relativ hohen Realismus in Regeln und Weltbeschreibung und wird deshalb auch geschätzt. Hier sind erstmal das Regelwerk samt einem Abenteuer abgedruckt. Wie sehr wird das Rollenspiel den an den Realismus gestellten Ansprüchen gerecht oder artet es zu sehr in eine Simulation der Wirklichkeit aus?

von Markus Kolbeck

„Classic Hârnmaster – Das Rollenspielsystem“ ist 2023 bei Ulisses Spiele als edles Hardcover erschienen und begeistert Rollenspieler*innen seit 1983. Es umfasst 216 Seiten und ist vereinzelt mit kleineren Schwarz-Weiß-Zeichnungen illustriert. Es gibt auch drei ganzseitige, ebenfalls schwarz-weiße Illustrationen. Autoren des Regelwerks sind N. Robin Crossby, Tom Dalgliesh und Edwin King. Als Autoren des Abenteuers „Die Toten des Winters“ zeichnen sich Frank Bohnsack und Oliver Kapp verantwortlich. Das Universum von „Hârn“ heißt Kelestia, die Welt Kethira, einer der Schauplätze ist der Kontinent Lythia, und Hârn ist eine Insel.

Inhalt

Bei diesem Fantasy-Rollenspiel hat ein Charakter sieben Schlüsseltattribute, ähnlich wie man sie von anderen Rollenspielen her kennt: Intelligenz, Aura, Wille, Stärke, Ausdauer, Geschicklichkeit und Ausdauer. Deren Bandbreite beläuft sich normalerweise auf Spielwerte zwischen 3 und 18 Punkten. Aura gibt Auskunft über Magie- und Psi-Talent eines Charakters. Man kann Menschen, Elfen, Zwerge und Gargun als Völker wählen. Die Gargun sind Orks, die noch einmal in fünf Unterarten unterteilt werden. Das Geburtsdatum spielt bei der Charaktererschaffung auch eine Rolle, da sich daraus das persönliche Sternzeichen ergibt, das einen Einfluss auf die Fertigkeitswerte hat. „Hârnmaster“ kennt keine Charakterklassen, dafür kann der*die Spieler*in frei einen Beruf wählen wie Arzt, Kartograph, Shek-Pvar (Magier), Rechtskundiger, Lia-Kavair (Dieb) und Gladiator. Die Berufswahl wird durch den auszuwürfelnden Beruf der Eltern etwas eingeschränkt, so kann etwa ein Kind von Dienstboten-Eltern nicht vom Start weg Baron werden. Hierzu gibt es keine starren Regeln, es gilt den gesunden Menschenverstand anzuwenden. Insgesamt stehen 98 Berufe aus allen gesellschaftlichen Schichten zur Auswahl!

Das Rollenspiel ist fertigkeitsbasiert, es kennt keine Charakterstufen. Jede*r kann praktisch jede Fertigkeit nach Verfügbarkeit erlernen und steigern. Es unterscheidet zwischen automatischen Fertigkeiten (etwa Muttersprache), Familienfertigkeiten (Berufsfertigkeiten werden dem Kind vermittelt), Berufsfertigkeiten (wie zum Beispiel Alchimie, Navigation oder Spurensuche) und Optionsfertigkeiten (erlernen weitere Fertigkeiten beziehungsweise deren Steigerung). Unter den Berufsfertigkeiten werden noch zwischen körperlichen (wie Schleichen), Kommunikationsfertigkeiten (wie Intrigen), Handwerksfertigkeiten (wie Schauspiel), Psi-Talenten (wie Heilung) und Kampffertigkeiten (wie Bastardschwert) unterschieden. Die Fertigkeitswerte, benannt als Meisterschaftsstufen, werden als Prozentwerte dargestellt. Das Ergebnis wird nach Erfolgsstufen unterteilt: entscheidender Fehlschlag, Fehlschlag, Erfolg und entscheidender Erfolg. Das Spiel kennt Boni und Mali, Abzüge kann es bei den körperlichen Abzügen etwa durch Verletzungen geben. Steigern lässt sich die Meisterschaftsstufe einer Fertigkeit durch Übung, Studien und Ausbildung. Außerdem kann der*die Spielleiter*in Bonussteigerungen bei in der Situation herausragenden Fertigkeitsproben vergeben.

Das Kampfsystem beruht auch auf Prozentwürfen. Die Chance, einen Treffer zu landen, wird durch körperliche Abzüge durch Traglast, Erschöpfung und Verletzung gemindert. Bei den Waffen gibt es drei Schadensarten: Stumpf / Scharf / Spitz. Rüstung, die selbst Schaden nehmen kann, reduziert den erhaltenen Waffenschaden, zusätzlich auch gegen  Schaden durch Feuer / Frost, Druck und Biss / Krallen. Als Aktion während er laufenden Runde gibt es Ausruhen, Bewegung, Kampfaufnahme, Kampfabbruch, Aufstehen, Griff (beruht auf manueller Geschicklichkeit, sofern es sich nicht um einen Angriff handelt), Auf- / Absteigen von einem Reittier, Ringkampfangriff, Nahkampfangriff, Schuss- / Wurfangriff und esoterische Aktion (Magie, Psi oder Erflehen göttlicher Intervention). Neben vielen weiteren Aspekten kennt das Rollenspiel-System auch Parade, Patzer, Gegenschlag, zerstörte Waffen und Trefferpartien. Bei Verletzungen wird unterschieden zwischen Schaden, der (nur) Wundpunkte, sofortigen Tod, Amputation, Blutung, Gliedmaßen-Treffer und Schock verursacht. Es gibt Regeln für berittenen Kampf, Moral, Waffen- und Rüstungsschmiede, Genesung und Heilung.

Neben dem Kampf- und Fertigkeitensystem gibt es noch das Magiesystem. Der*die Zauberanwender*in wird auf der Welt von „Hârn“ Shek-Pvar genannt, und man kann in Stiften vom Lehrling bis zum Meister aufsteigen. Zaubersprüche werden in sechs Konvokationen unterteilt (mit jeweils spezifischen Zaubern), zusätzlich gibt es noch neutrale und gemeinsame Zaubersprüche. Man muss sich für eine Konvokation entscheiden und sich auf sie einstimmen.. Diese ist dann die primäre. Je weiter die Konvokationen (sekundäre, tertiäre und konträre) anderer Zauber von der primären entfernt sind, desto schwieriger wird das Zaubern. Zaubersprüche verbrauchen Erschöpfungspunkte und werden ähnlich wie Fertigkeiten gesteigert, aber nur durch Anwendung. Nach der Erstausstattung mit erlernten Zaubern zum Spielstart, kann der*die Magier*in neue Sprüche nur noch durch Erforschung erlernen. Intelligenz und vor allem Aura sind wichtig für das Zaubern. In diesem Kapitel werden auch die Zaubersprüche der verschiedenen Konvokationen beschrieben. Regeln für Kleriker*innen gibt es hier nicht; sie werden in dem in „Classic Hârnworld“ enthaltenen „Buch der Götter“ aufgeführt. Kleriker*innen wirken keine Zaubersprüche, sondern Wunder beziehungsweise erflehen göttliche Interventionen.

Ein eigenes, kurzes Kapitel wird dem Handel gewidmet. Ja, Charaktere werden ermuntert, durch Handel zu Geld zu kommen. Danach findet man auch die übrigen Preislisten (die für Waffen und Rüstungen stehen in den betreffenden Kapiteln) für allerlei Gegenstände und Dienstleistungen. Im Kapitel „Kampagne“ wird auf den Kalender, Zeitfluss, Wetter, Begegnungen, Bewegung und Kartenzeichnen eingegangen. Zum Thema der Bewegung gibt es auch Tipps und Regeln für Gewaltmärsche, Lastentransporte, Karawanen und (Armee-)Trosse. Ein eigenes, wenn auch kurzes Kapitel erhalten Begegnungen; es werden ausführliche Begegnungstabellen für verschiedene Gegenden wie Stadt, Land, offene See etc. geboten und Untertabellen mit sehr spezifischen Einträgen wie Bettelmönch in der Untertabelle „Klerus“ oder Schmuggel in der Untertabelle „Kriminelle Aktivitäten“. Im elfseitigen Bestiarium findet man unter anderem Einträge für Pferde, den Drachen, den Greif, die fünf Unterarten der Orks (Gargun) (falls man sie als NSC einsetzten will), den Hru (Felsenriese) und die Yelgri (Harpyie). Es folgt ein Kapitel über Schätze, weltlicher oder magischer Natur. Hier lassen sich anhand von Tabellen der persönliche Besitz von Begegnungen und die Merkmale wie Zustand, Alter, Verzierungen etc. bestimmen. In der Liste der besonderen Schätze lassen sich magische Gegenstände wie Amulette, Schriftstücke, Rüstungen, Waffen, Stiefel usw. finden.

Es gibt noch einen Index und Kopiervorlagen für ein Charakterblatt samt Kampfprofil und ein Hexblatt. Auf einem separaten Handout aus Karton sind noch neun Kampfsystemtabellen abgedruckt und zwar in Farbe – den einzigen Farbtupfern im ganzen Band.

Die Schauplatzbeschreibung „Chendy“ behandelt die Lokalitäten, an denen das ebenfalls enthaltene Abenteuer „Die Toten des Winters“ spielt. Chendy heißt ein kleines Dorf im Königreich Kanday auf der Insel Hârn und gleichfalls das in der Nähe gelegene Kloster der Larani (eine gutmütige Göttin, die in diesem Königreich verehrt wird). Die Schauplatzbeschreibung fokussiert sich auf die Örtlichkeiten und Persönlichkeiten, insbesondere im Kloster samt Spielwerten, einer Übersichtskarte und Karten wie der des Klosters. Es wird besonders viel Wert auf die Beschreibung der Geschichte des Klosters, der politischen und kriegerischen Machtkämpfe der laranischen Kirche beziehungsweise Kandays mit verfeindeten Kirchen in den Nachbarländern gelegt. Das Abenteuer spielt im Winter des Jahres 720 TR (Tuzyn-Rechnung) und spielt vor allem im und um das Kloster Chendy. Mehrere Ritter sind anlässlich einer Messe angereist, und es kommt zu Todesfällen. Macht der Mörder auch nicht vor den Charakteren halt? Was hat es mit den bedrohlichen Visionen eines der Geistlichen auf sich? Mehr sei hier aufgrund der Vermeidung von Spoilern nicht erwähnt!

Kritik

Wie eingangs bereits erwähnt, strebt „Hârnmaster“ einen recht hohen Grad des Realismus an. Da man es der Spielbarkeit wegen nicht damit übertreiben sollte, muss man auf diesen Aspekt einen genaueren Blick werfen. Das Rollenspiel bringt auf alle Fälle einen gehörigen Grad an Realismus mit sich; man denke da nur an Wundinfektionen oder Waffen- und Rüstungsbeschädigungen, die das Regelwerk vorsieht. Doch ist manches davon nur optional, das heißt wer mehr Wert auf ein schnelles und flüssiges Spiel legt, kann auch das ein oder andere Regeldetail weglassen. Wer einen hohen Realismusgrad bevorzugt, wird sich hier aber wohlfühlen! Von einem regelrechten Versuch der Simulation unserer Wirklichkeit kann man aber nicht sprechen, unter anderem deshalb, weil sich Modifikatoren in Form von Boni und Mali doch in Grenzen halten. So ist die Spielbarkeit auch gegeben, und Spielgruppen, die häufiges Würfeln und Nachschlagen im Regelwerk in Kauf nehmen, um diesen Realismus zu erreichen, werden auf ihre Kosten kommen.

Nicht nur das Kampfsystem ist komplex, auch das Magiesystem weis mit Komplexität aufzuwarten; so verwundert es nicht, dass beide Systeme respektive jeweils 35 beziehungsweise 36 Seiten des Regelbandes in Anspruch nehmen, was als recht umfangreich gelten kann. Flüssiges Spiel ist auch für Magier*innen eigentlich nur dann gegeben, wenn man sehr vertraut mit dem Charakter, seinen Fertigkeiten und den Regeln ist. Die Anzahl der Zaubersprüche ist nicht ganz so hoch, wie etwa bei „Dungeons & Dragons 5“, aber ausreichend. Der Variantenreichtum und die Einsatzmöglichkeiten stimmen auch. Ganz mächtige Zaubersprüche gibt es aber eher nicht. Verwunderlich ist, dass es für Kleriker*innen im Regelband keine eigene Regeln gibt. Man muss daher auf „Classic Hârnworld“ zurückgreifen, will man diese in Szene setzten beziehungsweise auch Wunder und Interventionen bewirken lassen, da diese dort beschrieben werden.

Dass man auch Handel treiben kann, ist hier erwähnenswert. Spielgruppen, die nicht nur durch Hack’n’Slay zu Besitztümern kommen wollen, können mit Investitionen in Handelsgütern auf überwiegend (wenn die Händler*innen sich nicht gerade gegen Räuber oder Piraten zur Wehr setzten müssen) friedlichem Wege oftmals ordentliche Profite machen. Begegnungen sind eines der Kernelemente eines Rollenspiels, so gibt es sie auch bei „Hârnmaster“. Die Regeln und Anzahl der aufgelisteten Begegnungen ist ausreichend, um eigene Entwicklungen in eine Kampagne einfließen zu lassen. Von zu viel Monsterbegegnungen sollte man laut Regelwerk absehen, da man sonst immer gefährlichere Kreaturen einführen muss. So sollte es bei gelegentlichen Monsterbegegnungen bleiben, um die Welt nicht unbewohnbar durch eine zu hohe Dichte an Wesen für gewöhnliche Personen zu machen. Ich halte das für recht vernünftig! Hack’n’Slay könnte auch schnell langweilig werden. Ein weiteres Kernelement sind Schätze, die auch ausreichend aufgelistet werden. Die Regeln erlauben auch das Entwerfen eigener Schätze, wie etwa ein magisches Schwert mit Ego, wobei man zum Teil auf die Regeln für Verzauberungen der Shek-Pvar zurückgreifen muss. So macht das Regelwerk doch insgesamt einen kompletten Eindruck (bis auf das Fehlen von Regeln für Kleriker*innen)!

Dass die ausführliche Schauplatzbeschreibung „Chendy“ eingefügt wurde, ist löblich, da man diese auch für weitere, eigene Abenteuer benutzen kann. So befindet sich im Kloster eine geheimnisvolle Bibliothek, die vielleicht sogar Zaubersprüche beherbergen könnte. Die Lagekarten und zugehörigen Beschreibungen sind für mich manchmal verwirrend gewesen, da ich nicht immer die Nummerierungen in den Beschreibungen auf den Lageplänen wiederfinden konnte. Der Fokus auf Machtspiele und Mordermittlungen im Abenteuer „Die Toten des Winters“ schließt weitgehend Action aus, das heißt man muss schon sein Köpfchen etwas anstrengen, um hinter verborgene Geheimnisse zu kommen. Vielleicht kommt es gerade deshalb einer Startergruppe auf Hârn entgegen, da es – mit etwas Glück – keine Opfer unter den Spieler*innenfiguren fordert. Es ist somit als Einstiegsabenteuer geeignet, allerdings muss der*die Spielleiter*in Einiges rund um Politik, Kriege und Kirchen erläutern, damit die Spieler*innen auch durchblicken. Die Isoliertheit des Schauplatzes prädestiniert es ebenfalls als Einstiegsabenteuer. Großer Nachteil der „Classic“-Reihe ist, dass keine weiteren Abenteuer oder auch Kampagnen für „Classic Hârnmaster“ erscheinen, was aufgrund des Zeit- und Arbeitsaufwands für die Erstellung eigener Abenteuer nicht jedermanns Sache ist.

Das Weltsetting

„Classic Hârnworld“ ist bereits erschienen und beinhaltet das eigentliche Modul „Hârnworld“ mit einer detaillierten Beschreibung vor allem der Insel Hârn, das „Buch der Burgen“ und das bereits erwähnte „Buch der Götter“ samt den Regeln für Kleriker*innen. Außerdem ist separat eine zweiseitige, großformatige Farblandkarte, unter anderem mit Abbildungen des Kontinents Lythia und von Hârn, beigelegt.

Fazit: Die Beherrschung der Regeln bleibt Voraussetzung für ein flüssiges Spiel, und dies dürfte für die ein oder andere Spielgruppe ein Hindernis sein, da das Rollenspiel nicht leicht zu erlernen ist. Für Einsteiger ins Rollenspiel ist es also eher nicht geeignet! Um sich als zukünftige*r Spielleiter*in einer „Hârn“-Kampagne das Leben einfacher zu machen, sollte man das Spiel bei einem*r erfahrenen Spielleiter*in öfters gespielt haben, um sich mit den Grundprinzipien und Abläufen vertraut zu machen. „Classic Hârnmaster“ ist ein tolles Fantasy-Rollenspiel mit intelligenten Spielmechanismen, spricht aber nur ein eingegrenztes Klientel mit Faible für Realismus im Spiel an, und das auch wahrscheinlich nur als Zweitrollenspiel. Ein gewisser Nachteil ist auch, dass man – wenn man Kleriker*innen spielen will – noch „Classic Hârnworld“ erwerben muss. Aber die Sammler*innen unter den Rollenspieler*innen werden da nicht lange zögern wollen! Für das Klientel der Realismusbegeisterten ist es trotz der genannten Nachteile empfehlenswert!

Classic Hârnmaster
Fantasy-Rollenspiel
N. Robin Crossby, Tom Dalgliesh, Edwin King u. a.
Ulisses Spiele 2023
ISBN: 978-3-98732-053-8
216 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 49,95

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