Ausbauregeln VI: Klassen

Zu den elf Charakterklassen im Grundregelwerk von „Pathfinder“ haben sich im Laufe der Zeit in diversen Regelbüchern zehn weitere gesellt. Daneben gibt es durch unzählige Archetypen die Möglichkeit, die bestehenden Klassen auf vielfältige Art und Weise den eigenen Bedürfnissen anzupassen. Und wem das immer noch nicht reicht, der kann einen Blick in die jüngsten Ausbauregeln werden. Band 6 verspricht weitere neue Klassen.

von Tobias Dworschak

 

 

Das Werk kommt mit 258 vollfarbigen Seiten, die in Sachen Layout und Gestaltung dem bekannten hohen Standard entsprechen. Gelungene Zeichnungen lockern den Text auf, insgesamt hätten es aber gerne mehr sein dürfen. Wie bei Regelwerken typisch, haben auch an diesem eine ganz Reihe Autoren mitgeschrieben. Verantwortlicher Designer ist Jason Buhlman.

Traditionell unterziehe ich jedes Werk, das ich rezensieren möchte, einem ersten Durchblättern, um einen generellen Eindruck zu gewinnen. Das vorliegende Regelwerk hat mich auf den ersten Blick in das Inhaltsverzeichnis abgeschreckt: 10 neue Klassen, 50 Seiten neue Archetypen und Klassenoptionen, gefolgt von Talenten, Zaubern und Ausrüstungsgegenständen. Meiner Meinung nach gibt es von all dem schon mehr als genug in „Pathfinder“. In dem Wunsch, gleichwohl eine möglichst objektive Rezension zu verfassen, musste ich das Buch erst einmal eine Weile liegen lassen.

Die Grundidee aller in dem Regelwerk vorgestellten Klassen ist die Mischung aus bekannten Grundklassen. Verkürzt gesagt, nehmen die Autoren die spannendsten Klassenmerkmale zweier Klassen und machen daraus eine neue – ohne die Nachteile der bisherigen Klassen. Und um der neuen Klasse einen individuellen Anstrich zu geben, bekommt sie noch ein neues, einzigartiges Merkmal spendiert.

Da haben wir zum Beispiel den Arkanisten (Hexenmeister und Magier), der das Zauberbuch des Magiers mit dem spontanen Zaubern des Hexenmeisters in der Form mischt, dass es zwar eine bestimmte Anzahl Zauber am Tag vorbereitet, diese aber in beliebiger Kombination zaubern kann, also auch dreimal den gleichen Zauber, den er nur einmal vorbereitet hat. Das gab es als alternative Zauberregel schon in „D&D 3.5“ und war damals meine bevorzugte Form. Weil das aber nicht reicht, bekommt der Arkanist noch ein arkanes Reservoir, also Punkte, die er für unterschiedliche Dinge ausgeben kann. Neben dem Verstärken von Zaubern gehören die Effekte einer Blutlinie, ein Vertrauter oder andere magische Effekte (Feuerstrahlen oder Geschosse) zu den Optionen.

Der Kriegspriester kombiniert den Kleriker mit dem Kämpfer, der zwar nur Zauber bis zum 6. Grad wirken kann und nicht so viele Bonustalente wie ein Kämpfer bekommt, dies aber mit Segnungen (einem Ersatz für Domänen und kämpferischer orientiert), einer geweihten Waffe und später geweihter Rüstung sowie einem neuen Mechanismus zum Heilen und Spontanzaubern (genannt Eifer) wieder wettmacht. Der Kleriker entfernt sich also weg von einem Zauberer hin zu einem Kämpfer – also in eine Richtung, wie sie früher in vielen Rollenspielen vertreten war.

Der Blutwüter ist ein Barbar mit einer Blutlinie wie ein Hexenmeister, der immer noch kämpfen kann wie ein Barbar, dafür aber noch Zauber lernt (und diese in der Raserei einsetzen kann). Je nach Blutlinie kommen noch andere Fähigkeiten hinzu. Zwar verliert er die Blutrauschkräfte, diese erschienen mir persönlich aber ohnehin immer etwas schwach. Aus meiner Sicht gibt der Blutwüter nichts auf. Ebensowenig der Attentäter, der den Schurken mit dem Waldläufer kombiniert. Dadurch wird der Schurke besser im Kampf (volle Progression im Grundangriffsbonus) und kann einen Feind studieren, um weitere Vorteile zu erreichen. Das Gefühl eines richtigen Attentäters stellt sich nicht ein (kaum hinterhältig und verborgen, auch nicht von den Fähigkeiten), aber die Werte der Klasse überzeugen.

So geht es munter weiter. In den Testspielen erschienen meinen Spielern und mir die neuen Klassen deutlich stärker als die bisherigen, was vor allem daran lag, dass „alte“ Nachteile oder schwierige Entscheidungen aufgehoben wurden, ohne durch adäquate neue ersetzt zu werden. Nach unserer Einschätzung entfernen sich diese neuen Klassen mehr von der Vielseitigkeit hin zu einem klar auf die Kampfsimulation hin ausgelegten Spielstil. Das ist sehr schade, denn die neuen Klassen bieten von ihren Ideen sehr gelungene Ansätze. Arkanisten und Kriegspriester sind Klassen, die ich unbedingt spielen wollen würde. Und doch stören Sie mich in ihrer konkreten Ausgestaltung zu sehr. Bei der Lektüre habe ich mir außerdem wiederholt die Frage gestellt, ob man all diese Konzepte und Ideen über neue Klassen lösen musste oder dies nicht über Archetypen oder alternative Regeln möglich gewesen wäre.

Die Archetypen in dem Regelwerk beschäftigen sich wiederholt damit, die neuen Konzepte aus den Hybridklassen auf die alten Klassen zu übertragen (zum Beispiel die Fähigkeit Inspiration des Ermittlers auf den Alchemisten). Auch die neuen Hybridklassen bekommen gleich ein ganzes Bündel Archetyp spendiert, die vielfach auf die Herstellung eines „ursprünglichen“ Klassenmerkmals abzielen, zum Beispiel die Blutlinie beim Arkanisten. Immerhin gibt es am Ende einen Index der neuen Archetypen.

Die Regeln erschlagen allein durch ihre Flut und machen es aus meiner Sicht so gut wie unmöglich, in vernünftiger Zeit einen Charakter zu erschaffen. Stattdessen führen sie eher dazu, dass ich mich in all den Optionen verliere und mir immer wieder die Frage stelle, ob es nicht besser gewesen wäre, Talent A oder Archetyp X zu wählen. Immerhin finde ich zwischen all den Regeln gelungene Illustrationen.

Vielleicht ist es eine persönliche Vorliebe von mir, aber ich brauche diese Seiten um Seiten an neuen Regeln nicht und ich habe das Gefühl, Paizo/Ulisses übertreiben es mit diesen Ausbauregeln. Den „Völkern“ könnte ich ja noch etwas abgewinnen, die „Kampagnen“ haben selten genutzte Konzepte gesammelt und „Legenden“ etablieren eine neue Art von Spiel. Aber das hier? Das ist für mich genau das, was mich an „D&D 3.5“ gestört hat: noch ein Talent, noch ein Zauber, noch eine Klasse, die immer spezialisierter werden, genau ein oder zwei Dinge (häufig natürlich im Kampf) richtig, richtig gut können und damit alle anderen überstrahlen, sonst aber zu kaum etwas zu gebrauchen sind. Und damit überstrahlen sie dann die anderen Charaktere, deren Spieler nicht dem Optimierungs-Wahn verfallen sind.

Die neuen Talente machen Klassenfähigkeiten der Hybridklassen anderen Klassen zugänglich oder verbessern sie. Etwas richtig Originelles, was ich bisher vermisste habe, finde ich darunter nicht. Gleiches gilt für die neuen Zauber, die ich allerdings nur noch in den Tabellen überflogen habe. In dem letzten Kapitel über Ausrüstung und magische Gegenstände finde ich tatsächlich ein paar Dinge, die den Rucksack eines Abenteurers bereichern. Aber dann finde ich auch so etwas wie Blutlinienamulette, die dem Träger Fähigkeiten der Blutlinien der Hexenmeister verleihen. Oder Totemamulette? Oder neue Verzauberungen für Waffen, die den Schaden gegen bestimmte Blutlinien erhöhen?

Das letzte Kapitel führt ein wenig in die Kunst des Designs neuer Klassen ein, bleibt dabei aber sehr allgemein. Das ist insofern gut, als dass ich es nicht mit Punkten oder Tabellen wie bei den „Völkern“ zu tun habe. Die Ausführungen sind daher eher grobe Ideen und Wegweiser, aber insgesamt gut zu lesen, zeigen sie doch, welche Gedanken sich Paizo bei der Entwicklung neuer Klassen macht – so bleibt jedenfalls mit einem skeptischen Blick auf die ersten Seiten des Bandes die Hoffnung.

Fazit:
Ich brauche den „Ausbauregeln VI: Klassen“ nicht. Und ich bin mir nicht sicher, ob nicht inzwischen ein Punkt erreicht ist, an dem auch Spieler, die gerne und lange an Charakteren basteln und optimieren, den Überblick verlieren. Mit den Ausbauregeln bekomme ich ein Buch, das neue Klassen vorstellt – die meiner Einschätzung nach im Durchschnitt deutlich stärker sind als die alten Klassen, an sich aber zum Teil spannende Konzepte mitbringen. Wer eine Gruppe aus Hybridklassen in die Spielwelt entsenden will, kann damit eine Menge Spaß haben. Bei der Mischung mit alten Grundklassen rate ich zur Vorsicht.

Das Buch ist in englischer Sprache Teil der Open Gaming Licence und deshalb kostenlos verfügbar. Auch wenn ich ein Fan des gedruckten Werkes bin, macht es zur besseren Durchsuchbarkeit hier Sinn, auf die Online-Ressourcen zurückzugreifen, wenn ich unbedingt einen Charakter aus dem Buch bauen will.


Ausbauregeln VI: Klassen
Regelwerk
Jason Buhlmann u.a.
Ulisses Spiele 2015
ISBN: 978-3-95752-4-850
256 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 39,95

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