von Bernd Perplies
„Dunkle Fluten“ erscheint in der klassischen Standard-Box mit den Maßen 30 x 30 x 7 cm. Auf dem Cover ist ein Fischerboot in peitschender See zu sehen, auf dem sich drei Gestalten verzweifelt gegen Fischungeheuer wehren, derweil im Hintergrund ein gewaltiges maritimes Monstrum aus den Fluten aufsteigt. Kenner könnten meinen, es handle sich um Dagon, aber das stimmt nicht. (Der schwimmt aber auch da unter den Wellen umher.)
Im Boxeninneren befinden sich zwei neue, doppelseitig bedruckte Stadtviertel-Spielplanteile (die eine Seite zeigt Schauplätze in Innsmouth, die andere in Kingsport), außerdem Reiserouten-Spielplanteile, ein Mysterium-Spielplanteil, acht neue Ermittler, vier Szenariobögen, ein guter Stapel Karten (Ereignisse, Begegnungen, Monster, Ausrüstung, Archivkarten etc.) und ein paar Pappmarker. Die Qualität ist wie gehabt sehr gut. Die Marker sind stabil, die Karten lassen sich gut mischen und viele gelungene Illustrationen sorgen für Atmosphäre am Spieltisch.
Allerdings fliegt das Ganze – man kennt das leider von Spielen von Fantasy Flight Games (auf Deutsch bei Asmodeee erschienen) – erneut mehr oder weniger lose in der Box herum. Mehr als ein weitgehend nutzloses Papp-Inlay ist nicht enthalten. Ich weiß nicht, ob sich hier bei FFG noch einmal etwas zum Besseren wendet. Eigentlich sind solche rudimentären Sortierlösungen nicht mehr ganz zeitgemäß. Kenner behelfen sich entweder mit einer (teuren) Profi-Sortierlösung von beispielsweise Feldherr oder E-Raptor, ansonsten tun es natürlich auch ein paar Ziplock-Beutel und ein Kleinteilemagazin aus dem Baumarkt.
„Dunkle Fluten“ bietet im Wesentlichen von allem mehr. Die neuen Begegnungen für bekannte Stadtteile werden beispielsweise ebenso in die jeweiligen Stapel gemischt wie die Schlagzeilen, Verbündeten, Gegenstände, Zauber, Monster und Spezialkarten. Die acht Ermittler erweitern das Angebot für Spieler. Darunter befinden sich etliche bekannte Gesichter des „Arkham Horror“-Universums, etwa der Landstreicher „Ashcan“ Pete mit seiner Gitarre und dem Hund Duke, der vielleicht beste Charakter der Erweiterung, oder auch die fanatisch gläubige Köchin Zoey Samaras und natürlich der gestandene Matrose Silas Marsh. Sie alle sind Veteranen der „Arkham Horror“-Produktfamilie ein Begriff, was für eine nette Geschlossenheit des Kosmos sorgt (manche finden das langweilig, mir gefällt es). Dabei sind fast alle Ermittler gut zu spielen. Allein der Butler Carson Sinclair (kann Fokus ausgeben, damit andere Charaktere bei einer Probe einen Würfel neu werfen können) funktioniert nur in größeren Runden. Die vielleicht schwächste Fähigkeit hat die Geigerin Patrice Hathaway: Sie darf sich fokussieren, wenn Verderben auf den Szenariobogen gelegt wird.
Die vier Szenarien erzählen vier sehr unterschiedliche Geschichten, über die hier nicht zu viel verraten werden soll, um Spoiler zu vermeiden. Kurz gesagt gehen die Ermittler einmal dem ominösen Treiben der gesellschaftlichen Elite im exklusiven Lantern Club in Kingsport nach, einmal droht Innsmouth das Verderben durch den Aufstieg der maritimen Tyrannen von Y’ha-nthlei. In einem weiteren Szenario treiben die Nachkommen des yeti-artigen Wind-Wanderers Ithaqua gleich in Arkham, Kingsport und Innsmouth ihr Unwesen, während ein unnatürlicher Wintereinbruch mitten im Frühling alle Knochen klappern lässt. Und schließlich sucht eine unirdische Musik Arkham heim, die durch die Herbstluft weht und allen Menschen Träume einer versunkenen Stadt bescheren, wobei jene zunehmend dem Wahnsinn verfallen. (Witzig hier, dass zusätzliche Orte später im Spiel hinzukommen, wenn die Ermittler den Spuren nachgehen.) Das alles sind kurzweilige Geschichten, die treffend die Mythos-Atmosphäre transportieren, auch wenn sie in der Regel mehr pulpige Wucht haben als der schleichende Horror H. P. Lovecrafts – hier kann schon mal ein Avatar des Bösen mit Tommy-Gun und Dynamit angegangen werden!
Spielmechanisch wurde nur an feinen Stellschrauben gedreht. So wurden in der Box etwa „Reiserouten“ eingeführt, also Übergänge von Arkham nach Innsmouth und Kingsport (Autostraße, Eisenbahn und Fähre). Diese funktionieren genau wie Straßen, allerdings kostet die Passage 1 Dollar und wird zusätzlich zur Bewegung ausgeführt. „Mysterien“ sind unheimliche Ort – hier das Teufelsriff und ein merkwürdiges Haus auf einer Klippe –, an denen spezielle Begegnungen möglich sind und auf die in Szenarien Bezug genommen wird. Begegnungen können jetzt komplexere Entscheidungen nötig machen als zuvor, außerdem wurden drei neue Schlüsselwörter für Monster eingeführt, und „Verstärkungen“ sind Karten, die an andere angelegt werden und dann einen Effekt haben. Dazu kommen Begegnungsfähigkeiten, die ausgelöst werden können, statt eine normale Begegnung abzuhandeln. Ein neuer Zustand „gezeichnet“ sorgt für Unbill bei den Ermittlern. Schließlich werden ein paar optionale Regeln angeboten, um eine Partie schwerer, leichter oder in einer Art „Serie“ zu spielen. Das sind alles nette kleine Zusätze, die das Spielerleben etwas variabler gestalten, ohne zu viele Detailregeln einzuführen.
Die vielleicht wichtigste Neuerung ist „Terror“, der sich alternativ zu „Verderben“ in den Stadtvierteln ausbreiten kann. Während Verderben Anomalien hervorruft, die recht lästig zu beheben sind, fügt Terror der allgemeinen Atmosphäre „nur“ etwas mehr Verzweiflung hinzu, indem negative Terrorkarten auf die jeweiligen Begegnungsstapel gelegt werden, die zuerst bewältigt werden wollen, bevor die Bürger des Viertels bereit sind, den Ermittlern normal zu begegnen. Außerdem können sich Terrormarker im Viertel ausbreiten, die in Summe für härtere Effekte auf den Terrorkarten sorgen. (Ähnlich wie bei Verderben und den Anomalienbegegnungen). Erfreulicherweise kann man Terror auch bekämpfen – obschon das die Regeln vergessen zu erwähnen; es steht nur auf der begleitenden Archivkarte –, indem man Bürgerwehren mobilisiert. Konkret ist das eine Einflussprobe, die analog zur Wissensprobe beim Bannen von Verderben funktioniert. Das Terror-Element ist sehr gelungen und beschleunigt das Spiel etwas, denn es werden keine Viertel, in denen vielleicht wichtige Hinweise lagen, mehr durch Anomalien blockiert, die zunächst mühsam behoben werden müssen.
Fazit: „Dunkle Fluten“ erfindet „Arkham Horror“ nicht neu, aber es ergänzt das bestehende Spiel auf sehr erfreuliche Art und Weise. Die neuen (bekannten) Ermittler sorgen für Abwechslung, die Szenarien sind spannend zu spielen. Wer also nach dem Grundspiel Lust auf weitere Abenteuer verspürt, der findet hier genug Material für mindestens vier lange und atmosphärisch dichte Spieleabende. Bloß dass man nicht mit dem Boot aufs Meer hinausfahren kann, wie vom Cover suggeriert, hat mich dann doch ein wenig enttäuscht …
Arkham Horror – Dritte Edition: Dunkle Fluten
Brettspiel-Erweiterung für 1 bis 6 Spieler ab 14 Jahren
Philip D. Henry, Daniel Lovat, Tim Uren
Fantasy Flight Games/Asmodee 2020
EAN: 4015566029217
Sprache: Deutsch
Preis: EUR 59,99
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