Android: Netrunner – Das Kartenspiel

Wir befinden uns in einer düsteren Zukunft. Die Menschheit hat den Orbit, den Mond und den Mars kolonisiert. Ein Weltraumlift verbindet Erde und All. Konzerne haben die Welt unter sich aufgeteilt. Und die Neurobiologie wurde dermaßen weit entwickelt, dass man ein menschliches Bewusstsein auf einem Chip speichern kann. Die Städte sind gewaltige High-Tech-Molochs. Und ohne das Netz, die virtuelle Welt, würde überhaupt nichts mehr funktionieren. In den digitalen Weiten treiben sich auch Individualisten und Anarchisten herum, die sich aus Spaß oder Gier mit den Konzernen anlegen. Um diesen Krieg im Cyberspace geht es bei „Android: Netrunner“.

von Bernd Perplies

Im Jahr 2008 kam bei Fantasy Flight Games ein futuristisches Brettspiel heraus, bei dem jeder Spieler einen mehr oder minder kaputten Detective verkörperte, der versuchte, hinter einen Mordfall und eine Intrige – die bei jeder Partie etwas anders ausfiel – zu kommen. „Android“ hieß das Spiel, und offenbar war den Machern diese Welt, eine Mischung aus Ridley Scotts Film „Blade Runner“ und William Gibsons Roman „Neuromancer“, so lieb, dass sie mit leichter Verzögerung ein Franchise daraus gemacht haben. Mittlerweile existieren vier Romane, das Kartenspiel „Infiltration“ und nun eben das Living Card Game – oder zu gut Deutsch: sammelbare Deckbauspiel – „Netrunner“. Dabei ist das Spiel nicht komplett neu, sondern eine optisch komplett und regeltechnisch behutsam überarbeitete Version des „Netrunner“-Sammelkartenspiels von Richard Garfield aus dem Jahr 1996 – das seinerseits damals übrigens stark von dem Rollenspiel „Cyberpunk 2020“ inspiriert war.

„Netrunner“ ist ein Spiel für zwei Personen, das sich dadurch von vielen Kartenspielen unterscheidet, dass es asymmetrisch funktioniert, das heißt die beiden Spieler haben unterschiedliche Ziele und gehen bei einer Partie entsprechend unterschiedlich vor. Der eine Spieler übernimmt einen der vier Konzerne der Grundbox – Haas-Bioroid, Jinteki, NBN und Weyland (hallo, „Aliens“-Franchise). Sein Kartendeck wird aus 28 individuellen Konzernkarten und 22 neutralen Konzernkarten gemischt. Das Ziel für den Konzernspieler besteht darin, in seinem, als Computersystem deklarierten Spielbereich heimlich sogenannte Agendas zu entwickeln, die ihm jeweils ein bis drei Siegpunkte einbringen. Sieben werden benötigt, um zu gewinnen. Um seine Systembereiche zu schützen – und dazu zählen auch Zugstapel, Ablagestapel und Kartenhand – setzt er ICE (= Intrusion Countermeasures Electronics) ein, Schutzprogramme, die Hacker abwehren sollen.

Solch einen Hacker – oder um im Jargon zu bleiben: Runner – übernimmt der zweite Spieler. Er hat die Wahl zwischen den drei Fraktionen Anarchos, Kriminelle und Gestalter, und sein Deck wird aus 33 individuellen Runnerkarten und 15 neutralen Runnerkarten gemischt. Das Ziel des Runners besteht darin, die Agendas des Konzerns zu stehlen, um damit beispielsweise Geld zu verdienen oder die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Agenads im Wert von sieben Punkten muss er klauen, um zu siegen. Hierzu schraubt er sich in einem dreireihigen Spielbereich ein Deck aus starker Hardware (mittlere Reihe), Ressourcen (hintere Reihe) und – besonders wichtig – kampfstarken Programmen (vordere Reihe) zusammen. Die Programme, die in Wettstreit mit dem ICE treten, stellen dabei das Kernelement von „Netrunner“ dar.

Ein Spielzug besteht für beide Spieler aus jeweils vier Aktionen, die frei gewählt werden können (wobei eine Aktion des Konzernspielers verbindlich das Ziehen einer Karte vom Zugstapel erfordert). Aktionen sind etwa eine Karte ziehen oder einen Credit verdienen (das Geld wird zum Nutzen der Programme gebraucht). Man kann eine Karte ausspielen, der Konzernspieler kann eine Agenda entwickeln, der Runner einen Run starten, usw. Die perfekte Vorgehensweise gibt es nicht. Gefühlt ist man nie so gut auf eine Konfrontation mit dem Gegner vorbereitet, wie man es gerne wäre. Vor allem Geld ist, wenn man nicht zufällig die richtige Karte zieht, ständig knapp, ein Umstand, der sich natürlich beheben lässt, wenn man von den Sets der Grundbox weggeht und anfängt, eigene Kartendecks zusammenzustellen – was ja genau dem Prinzip eines LCG entspricht.

Ein Run besteht im Wesentlichen darin, dass der Runner sich an das System des Konzerns anpirscht, sich den mitunter mehreren Reihen aus ICE widmet und dann, sofern es ihm gelungen ist, dieses mit seinen Angriffsprogrammen zu überwinden, auf die Karten des Konzernspielers zugreift, um dort Diebstahl und Zerstörung zu betreiben. Das klingt leichter als es ist, denn im Gegensatz zum Runner legt der Konzernspieler fast all seine Karten verdeckt aus, das heißt der Runner kann nur schwer abschätzen, wie stark das ICE sein wird, dem er sich stellen muss, und ob die Karte, auf die er am Ende zugreift, nicht vielleicht sogar eine Falle ist, die bösen Schaden anrichtet, indem sie ihm Handkarten wegnimmt. Da ist Vorsicht angesagt, denn der Konzern gewinnt auch, wenn der Runner keine Karten mehr auf der Hand hat (denn diese Karten sind zugleich seine Lebenspunkte). Alternativ gewinnt der Runner, wenn der Konzernspieler keine Karten mehr im Zugstapel aufweisen kann.

Vielleicht abschließend noch ein Wort zur Aufmachung: Einmal mehr liefert Fantasy Flight Games einen Leckerbissen für Genre-Fans ab. Das „Android“-Universum hat eine tolle Optik, in der Schatten und Neonlicht dominieren, in der schäbiges Industrial-Design, glänzendes Chrom und schimmernde Hologramme nebeneinander stehen und beste Cyberpunk-Atmosphäre verbreiten. Entsprechend sehen die meisten Karten wirklich gut aus. Im Vergleich zum ursprünglichen Artwork von „Netrunner“ ein Quantensprung. Auch das übrige Material – hübsch aussehende Marker auf fester Pappe und eine schicke Midsize-Spielbox, in der noch Raum für kommende Erweiterungen ist – weiß zu gefallen. Hier haben FFG und der deutsche Partner Heidelberger Spieleverlag schon lange ihren hohen Standard gefunden.

Fazit: Man kann FFG nur zu der Idee gratulieren, sein „Android“-Universum auszubauen. Denn so wurde einer seinerzeit wenig beachteten Kartenspielperle im neuen Gewand zu späten Ehren verholfen. Das atmosphärische Spielkonzept von Richard Garfield, welches Glück mit Ressourcenmanagement und Psychospielchen mit dem Gegner paart, trifft auf das tolle Artwork der Macher bei FFG. Herausgekommen ist ein Spiel, das wirklich jedem, der auf Kartentaktierereien und dystopische Zukunftsentwürfe steht, wärmstens zu empfehlen ist. Ein einziger kleiner Kritikpunkt ist die Spielanleitung, die durch viele fremde Begriffe – Karten werden nicht ausgespielt, sondern installiert, nicht aufgedeckt, sondern geladen, und Zugstapel, Ablage und Hand heißen z.B. F&E, Archiv und HQ – den Einstieg etwas erschwert. Aber das ist eine Hürde, die man schon nach einer Partie genommen hat.


Android: Netrunner – Das Kartenspiel
Kartenspiel für 2 Spieler
Richard Garfield, Lukas Litzsinger u.a.
Fantasy Flight Games / Heidelberger Spieleverlag 2013
EAN: 4015566012509
Grundspiel mit 252 Karten, 102 Spielmarker, Spielanleitung, deutsch
Preis: ca. EUR 29,95

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