2086 – Sturz in die Zukunft

Robert A. Heinlein gilt als einer der ganz Großen unter den Science-Fiction-Autoren des letzten Jahrhunderts. „Starship Troopers“, „Fremder in einer fremden Welt“, „Der Mond ist eine herbe Geliebte“, „Segeln im Sonnenwind“, „Tunnel zu den Sternen“ … Von 1939 bis zu seinem Tod 1988 bereicherte er die SF um Dutzende von Romanen und unzählige Kurzgeschichten. Der Mantikore-Verlag wartet nun mit einem speziellen Leckerbissen für Heinlein-Fans auf: dem lange verschollenen, ersten Roman von Heinlein.

von Bernd Perplies

„For Us, The Living – A Comedy of Customs“ wurde in den Jahren 1938 und 1939 geschrieben, aber erstmals 2003 veröffentlicht. Auf Deutsch erschien der Roman erstmals unter dem Titel „Die Nachgeborenen“ bei Shayol im Jahr 2007, allerdings in einer streng limitierten, kostbaren Sammleredition. Hier nun liegt die günstige und vollständig neu übersetzte, aber in meinen Augen kaum weniger schöne Ausgabe vom Mantikore-Verlag vor.   

Schon im Vorwort von Spider Robinson zweifelt der Verfasser den Status des Werks als Roman an. Im Grunde, so sagt er, handelte es sich weniger um einen Roman im klassischen Sinne als um eine Reihe von utopischen Essays, die durch ein paar Figuren zusammengehalten werden. Eine Spannungsdramaturgie gäbe es praktisch nicht und die Protagonisten wären recht eindimensional ausgeführt.

Mit all dem hat er nicht ganz unrecht. Tatsächlich ist die Romanhandlung eher dürftig zu nennen. Im Jahr 1939 erleidet der Pilot Perry Nelson einen furchtbaren Autounfall, als er bei einer Küstentour mit seinem Wagen eine Klippe hinunterstürzt. Als er erwacht, findet er sich im Jahr 2086 wieder, im Körper eines fremden Mannes, der sich für irgendein Bewusstseinsübertragungs-Experiment freiwillig gemeldet hatte. Völlig verwirrt landet er in der Obhut der Ausdruckstänzerin Diana, die natürlich blendend aussieht, bevorzugt nackt herumläuft und sich voller Neugierde und ohne sonderliche Vorbehalte des Mannes aus der Vergangenheit annimmt. (Klingt ein bisschen wie der Traum eines jungen, einsamen Autoren, aber eigentlich war Heinlein zu dem Zeitpunkt schon sechs Jahre mit Leslyn Macdonald verheiratet, die, wenn man den biographischen Notizen am Ende des Romans Glauben schenken darf, alles andere als ein Kind von Traurigkeit war.)

In den Folgekapiteln versucht Diana ihrem Gast die Zukunft zu erklären. In dieser existieren unter anderem so schöne Dinge wie Video-on-Demand, Rohrpost und private Fluggefährte, die stark an Helikopter erinnern. In den Städten bewegen sich Menschen auf riesigen Rollbändern und Bienen stechen nicht mehr. Zusammen mit dem Protagonisten entdeckt der Leser diese neue Welt, was wirklich kurzweilig ist, wenn man solche Entdeckungstouren mag. Etwas anstrengender wird es dann, wenn Heinlein in Gestalt verschiedener Dialogpartner von Perry über abstraktere Konstrukte wie das neue Wirtschaftssystem und die freie Liebe doziert. Besonders das Thema Makroökonomie scheint ihn dabei als Autor enorm zu interessieren und er entwirft wortreich und mit vielen Argumenten ein System, das wohl vor allem als Gegenentwurf zum damals in den USA herrschenden Wirtschaftssystem gedacht ist.

Leider hat der komplette Entwurf eine große Macke: Er geht von einer vernünftigen Welt und von einem regelrecht zentralistisch geführten Staat aus. Die Gier nach Macht und Reichtum, die Lust am Konkurrenzkampf und das nostalgische oder idealistische Festhalten selbst an gescheiterten Projekten – also all die menschlichen Aspekte – blendet Heinlein aus. (Weswegen sein System auch bis heute nirgendwo auf der Welt existiert.) Gerade dieser Teil des Buchs liest sich dann doch etwas zäh, wenn man an solchen Gedankenspielen keine Freude hat.

Das Buch endet mit einem Perry, der endlich zu sich selbst gefunden und eine neue Bestimmung hat. Witzigerweise ist das ausgerechnet der Teil des Buchs, wo sich Heinlein völlig verschätzt hat. Während gerade die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Aspekte auch heute noch größtenteils Utopie sind, sollte er sich, was diese spezielle technischer Errungenschaft angeht, am Ende um knapp 120 Jahre verschätzen. Was einen als Leser zum Schmunzeln bringt.

Ein Anhang zu dem Kapitel mit dem wirtschaftstheoretischen Exkurs sowie ein mehrseitiger biographischer Abriss zu Heinleins Leben vervollständigen das redaktionell sehr schön gemachte Buch.

Fazit: „2086 – Sturz in die Zukunft“ ist, das wird schon im Vorwort gesagt, nichts für Heinlein-Einsteiger. Es ist auch kein Buch für Leser, die ihre Romane gerne actionreich, humorvoll und handlungsorientiert haben. Den meisten Genuss  aus der Entdeckung der Zukunft durch den Protagonisten Perry Nelson dürften Science-Fiction-Fans ziehen, die Spaß an der Entdeckung neuer Welten und neuer Zivilisationen haben, am utopischen Was-Wäre-Wenn. Wer dann noch bereit ist, sich auch komplexen Sachverhalten zu stellen, wird nicht nur mit einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte, sondern auch mit mehr als nur ein paar Einblicken in die Gedankenwelt eines der größten Science-Fiction-Autoren des letzten Jahrhunderts belohnt.


2086 – Sturz in die Zukunft
Science-Fiction-Roman
Robert A. Heinlein
Mantikore 2016
ISBN: 978-3-945493-51-9
344 S., broschiert, deutsch
Preis: EUR 13,95

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