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Hollow Earth Expedition

Innerer Kern, Äußerer Kern, Unterer Mantel, Oberer Mantel … Schon klar. Was uns Erdkundelehrer seit jeher als den inneren Aufbau unseres Planeten verkaufen wollen, ist natürlich völliger Kappes. In Wahrheit ist die Erde selbstverständlich hohl, und in ihr verbirgt sich eine eigene Welt. Überzogen von dichten Urwäldern und bevölkert von auf der oberirdischen Welt längst ausgestorbenen Tieren und Kulturen wartet in ihr noch so manches Geheimnis auf seine Entdeckung.

von Bastian Ludwig

Das Abenteuer-Rollenspiel „Hollow Earth Expedition“, kurz „HEX“ genannt, orientiert sich an den Pulp-Geschichten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenso wie an den Romanen von Autoren wie Jules Verne oder Arthur Conan Doyle. Führt man sich Doyles „Die vergessene Welt“, Vernes „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“, „King Kong“ oder auch die „Indiana Jones“-Filme – Nazis inklusive – vor Augen, dann hat man ein recht gutes Bild der Szenerie und Atmosphäre von „HEX“. Ausgeschmückt wird das Ganze dann mit allem, was das Genre hergibt, von den primitivsten Kulturen bis hin zu Technologien jenseits unserer Vorstellungskraft.

Und bei „HEX“ steckt diese ganze Welt nun also im Inneren unserer Erde. Innerhalb der Realität des Rollenspiels wird die Hohlwelt am Ende des 19. Jahrhunderts von einer kleinen Expedition eher durch Zufall entdeckt. Das Wissen darum geht allerdings verloren, bevor es in den 1930er Jahren im wahrsten Sinne des Wortes wieder an die Oberfläche kommt und ein Wettlauf um die Ressourcen und Geheimnisse der Welt unter unseren Füßen beginnt.

Diese bietet den perfekten Raum für ein spannendes Rollenspiel. Die Hohlwelt ist der sprichwörtliche Weiße Fleck auf der Landkarte, ausgedehnt ins Gigantische. Hier kann praktisch alles existieren. Sie bietet alle Möglichkeiten eines fremden Planeten oder einer High-Fantasy-Welt, aber mit dem großen Vorteil, dass man sie auch plausibel mit allerlei Mythen, Kulturen und Lebewesen der Erdgeschichte ausstatten kann – ganz abgesehen davon, dass Geschichten auch auf der Oberflächenwelt angesiedelt sein können –, was der Spielgruppe die Identifikation mit der Spielwelt sehr leicht macht.

Zur Ausstattung

„HEX“ kommt in einem ausgesprochen schmucken Buch daher. Sehr gutes Papier, stabiler Umschlag und als i-Tüpfelchen noch ein Lesebändchen.

Der Band ist größtenteils in Schwarz-Weiß und geschmückt mit zahlreichen wirklich dynamischen und atmosphärischen Bleistiftzeichnungen. Nur einige Seiten mit Beispielcharakteren sind vierfarbig – keine Ahnung, warum man sich ausgerechnet für diese Seiten entschieden hat – und auch hier sind die Zeichnungen der Figuren wirklich toll gelungen.

Das Buch lässt sich dank des klaren, übersichtlichen Layouts gut lesen und ist verständlich geschrieben. Leider haben sich auch einige Fehler in die Texte geschlichen. Ein paar davon sind Fehler, die schlicht beim Gegenlesen durchgerutscht sind. Wie heißen beispielsweise die beiden berühmten Autoren, deren Werke als Vorlage für „HEX“ dienten? Genau: Vules Verne und Arthus Conan Doyle.

Leider finden sich Schnitzer auch bei der redaktionellen Arbeit. Dem hiesigen Leser mag dabei gleich der erste Satz der Beschreibung von Deutschland auffallen, laut der 1933 das Deutsche Reich ins Leben gerufen wurde. Die US-Version von „HEX“ berichtet an dieser Stelle übrigens, dass in diesem Jahr die Weimarer Republik begründet wurde, was natürlich nicht weniger falsch ist. Ob sich ähnliche Fehler auch in die anderen Länderbeschreibungen eingeschlichen haben, kann ich nicht sagen. Zu eng sehen sollte man das alles aber auch nicht, denn immerhin hat man hier ja kein Geschichtsbuch vor sich.

Das Innenleben

Der Band startet mit einem kurzen Erzähltext, in dem die die Entdeckung der Hohlwelt durch eine schwedische Expedition geschildert wird. Nach einer kurzen, allgemeinen Einleitung folgt dann in Kapitel 1 die Erklärung der Spielwelt, wobei zunächst viel Platz dafür verwendet wird, nicht etwa die Hohlwelt zu beschreiben, sondern unsere Welt in der Mitte der 1930er Jahre. Man will ja wissen, woher man kommt, bevor einem beschrieben wird, wohin man ins Abenteuer zieht.

Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Charaktererschaffung, wobei hier auch alle Informationen über Fertigkeiten, Talente und Ähnliches untergebracht sind. Die Charaktererschaffung, wie auch die spätere Steigerung, kommt in Form eines Kaufsystems daher. Klassen oder etwas Ähnliches gibt es bei „HEX“ nicht. Theoretisch lässt sich jeder Charakter beliebig zusammenbasteln, wobei aber zu Beginn ein Archetyp ausgewählt wird, der eine grobe Richtung für die Charaktererschaffung vorgibt. An ihm kann man sich dann zunächst bei der Verteilung von Punkten auf sechs Primärattribute orientieren. Ebenso viele Sekundärattribute leiten sich dann aus diesen ab. Zur Verfeinerung des Charakters stehen 30 Fertigkeiten mit jeweils fünf Spezialisierungen zur Verfügung. Auf Fertigkeiten werden später Würfelproben abgelegt, nicht so auf die 70 Talente, die Werte des Charakters verändern oder ihm in bestimmten Situationen Boni geben. Schließlich gibt es noch Ressourcen, also etwa Freunde, Eigentum oder Ansehen, die der Charakter besitzt.

Es macht wirklich Spaß, sich auf diese Weise einen Charakter zusammenzubauen. Das freie Generierungssystem sorgt dafür, dass man ihn wirklich individuell gestalten kann, und doch ist die Anzahl der Fertigkeiten und Talente überschaubar genug, damit man nicht völlig den Überblick verliert.

Das folgende dritte Kapitel ist etwas übermütig mit „Die Regeln“ betitelt. Tatsächlich enthält es zwar die Kernregeln – also hauptsächlich, wie Proben ausgewürfelt werden –, allerdings finden sich viele Regeln auch bei der Charaktererschaffung und im folgenden Kapitel, in dem es um den Kampf geht.

„HEX“ bedient sich des Ubiquity-Systems. Bei diesem System zählt nicht der Wert eines Würfelwurfs, der dann noch durch diverse Modifikationen erhöht oder gesenkt wird und mit dem man einen bestimmten Schwellenwert erreichen muss. Stattdessen wird eine von den Fähigkeiten des Charakters abhängige Anzahl an Würfeln geworfen, wobei jede gerade Augenzahl als Erfolg, jede ungerade als Misserfolg gewertet wird und je nach Schwierigkeit der Probe eine andere Anzahl an Erfolgen erwürfelt werden muss.

Ziel dieses Systems ist es – so der Verlag – den Würfelanteil des Rollenspiels möglichst schnell und unkompliziert abzuhandeln, um so den Fluss und Spannungsbogen der Geschichte nicht zu gefährden. Tatsächlich funktioniert es aber auch nicht schneller oder langsamer als bei anderen Würfelsystemen; man muss genauso Boni und Mali berechnen, genauso würfeln und genauso gucken, ob man Erfolg gehabt hat oder nicht.

Die besondere Würze in den Regeln von „HEX“ wird durch die „Stilpunkte“ hinzugegeben. Stilpunkte sind wahre Alleskönner. Mit ihnen können für eine Probe zusätzliche Würfel erkauft, Talente kurzzeitig erhöht oder erlittener Schaden reduziert werden; auch Hausregeln für andere Einsatzmöglichkeiten von Stilpunkten sind denkbar. Stilpunkte können vor allem durch gutes und charaktergerechtes Spiel verdient werden. Sie unterstützen damit also die Konzentration der Spielgruppe auf die Narrative und nicht nur auf das Überwinden von Hindernissen mittels erfolgreichen Würfelns. Aber auch für unkonventionellere Leistungen bis hin zu Outgame-Ereignissen wie dem Bereitstellen der Räume für die Spielsitzung kann man sie bekommen.

Nach den Regeln folgen zwei Kapitel mit Ausrüstungsgegenständen und Tipps für den Spielleiter.

Anschließend setzt sich das Buch genauer mit der Hohlwelt selbst auseinander, und in Kapitel 8 „Freund oder Feind“ sowie Kapitel 9 „Bestiarium“ finden sich die Beschreibungen der NPCs sowie einiger Gruppierungen und Tiere, auf welche die Helden treffen können, wobei die Grenze zwischen Mensch und Tier in der Hohlwelt durchaus fließend sein kann.

Schließlich folgen das Einsteigerabenteuer „Die Hohlwelt-Expedition“ und ein Anhang mit Glossar, ausführlichem Index, der Kopiervorlagen des Charakterbogens und einer umfangreichen Liste mit Büchern und anderen Medien, aus denen man sich Anregungen für die Ausgestaltung der Welt von „HEX“ holen kann.

Der Aufbau des Bandes ist manchmal etwas verwirrend. Weswegen zum Beispiel die Beschreibung der Oberflächenwelt ziemlich am Anfang, die Hohlweltbeschreibung dann aber am Ende ist, will mir nicht so recht einleuchten. Auch die Zuordnung mancher Inhalte zu den Kapiteln erscheint unintuitiv. So finden sich zum Beispiel die Hinweise über die Vergabe von Erfahrungspunkten im Kapitel über die Regeln und nicht etwa in dem mit Hinweisen für den Spielleiter; Informationen über Krankheiten und andere Natureinflüsse, die den Abenteurern das Leben schwer machen können, muss man im Kapitel „Kampf“ nachschlagen.

Das ist aber alles halb so schlimm, denn die Navigation durch das Buch ist insgesamt sehr leicht. Durch eine Kopfzeile weiß man immer, in welchem Kapitel man ist, und das Stichwortverzeichnis ist wirklich sehr umfangreich.

Fazit: „Hollow Earth Expedition“ macht richtig Lust aufs Losspielen. Das System hält eine gute Balance zwischen der Narrative und den Regeln, und die Szenerie ist bestens für ein Rollenspiel geeignet und bietet ein frisches Umfeld für alle, die zwar gerne Abenteuer in einer phantastischen Welt erleben wollen, aber mal etwas anderes als High Fantasy und Science-Fiction ausprobieren möchten.


Hollow Earth Expedition
Grundregelwerk
Jeff Combos
Uhrwerk-Verlag 2009
ISBN: 978-3-942012-02-7
256 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 39,95

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