Wildwechsel – Das Critterdossier

Wenn man an die Welt „Shadowrun“ denkt, kommen einem für gewöhnlich nicht primär Tiere in den Sinn – vom berüchtigten Schreckhahn, dem urigen Sasquatch oder den omnipräsenten Drachen einmal abgesehen. Mit dem Erscheinen des Quellenbuchs „Wildwechsel“ könnte sich das ändern. Gewöhnliche, paranormale, mutierte, toxische, geisterhafte und digitale Wesenheiten geben sich hier die Klinke in die Hand und erweitern die Welt der Zukunft um eine ganz neue und in ihrem Storypotenzial oft unterschätzte Facette.

von Bernd Perplies

Der schmucke, blaue Hardcoverband mit Lesebändchen, der auf das „Critter“-Kapitel im Grundregelwerk aufbaut und dieses spektakulär erweitert, zeigt mit einem Rudel Feuer speiender, gepanzerter Wölfe gleich auf dem Titelbild, was Sache ist. Tiere, denen man im Rahmen eines Runs, in einer dunklen Gasse oder während einer Überlandfahrt begegnet, sind in der Welt der 2070er keinen Deut ungefährlicher, als ihre metamenschlichen Pendants. Meist sind Begegnungen mit den animalischen Auswüchsen dieser düsteren Zukunft sogar schlimmer, denn niemand weiß genau, was Umweltgifte, Strahlung, Magie und Matrix für Ungeheuer und Kuriositäten geboren haben. Entsprechend finden sich auf den 232 Seiten, die im bekannten Schwarz-Weiß-Layout gehalten sind – und leider die farbigen Crittertafeln vermissen lassen, die man aus älteren „Shadowrun“-Grundregelwerken kennt –, Geschöpfe, die einen Spielleiter an die Grenze dessen führen mögen, was er in seiner Kampagne an Monstren zuzulassen bereit ist.

Das an Informationsmaterial weiß Gott nicht arme Werk ist in elf Kapitel unterteilt. Das Innenlayout kennt man schon aus zahlreichen vorherigen Publikationen. Informationsblöcke wechseln sich mit Regeltext ab und werden immer wieder von mehr oder minder eigenwilligen Kommentaren der virtuellen JackPoint-Community gewürzt, deren Betreiber Fastjack wie so oft als Urheber beziehungsweise Initiator für das Quellenbuch gilt. Die Illustrationen sind solider Rollenspielstandard, ohne besonders herauszuragen, und ein hilfreicher Index am Ende erleichtert das Auffinden von einzelnen Wesen, von Kräften und Schwächen.

Das Buch beginnt mit „Das Königreich der Tiere“, einem langen Überblick zum Stand der Fauna in der Erwachten Welt. Verfasst von einem User namens Ecotope ist der Artikel natürlich von persönlicher Anklage gegenüber der Ausnutzung der Natur gefärbt, gibt aber dennoch einen guten Eindruck davon, wie der Wert und Stand der Tiere im Jahr 2072 irgendwo zwischen maßgezüchteten Gengeschöpfen und vom Aussterben bedrohten Wildrassen so aussieht. Als spezieller Ort wird zudem Hagenbecks Tierpark in Hamburg von einem User namens Deichbrecher beschrieben. Es werden sowohl Gelände als auch Agenda vorgestellt und einige denkbare Runs aufgeführt.

Das Kapitel „Erweiterte Critterregeln“ beginnt mit einigen Tipps von DangerSensei zur Haltung und dem Einsatz von mundanen und paranormalen Crittern. Dabei werden nicht nur Gedanken zur Nutzung von Crittern in der Konzernsicherheit formuliert, sondern auch zu ihrer Rolle in der Öffentlichkeitsarbeit (Rettungsdienste etc.) und als Haustiere. Im Abschnitt Spielinformationen wird es dann ernster. Definitionen, Regelmechanismen (unter anderem zu Schwärmen und Rotten sowie Crittermodifikationen), das Konzept der Biodrohnen sowie der Einsatz von Crittern im Spiel (inklusive ihrer Ausbildung) werden hier beschrieben.

„Willkommen in der Wildnis“ ist insofern ein kurioses Kapitel, weil es von sapienten nicht-metamenschlichen Wesen handelt, also im Grunde mutierten Tieren, die ein menschenähnliches Bewusstsein entwickelt haben. So wird die an Fantasy-Wesen ohnehin schon reiche „Shadowrun“-Welt nach Elfen, Zwergen, Trollen, Drachen etc. nun um die schlangenartigen Naga, die pferdeähnlichen Zentauren und Gestaltwandler ergänzt. Das Kapitel wird leider fast komplett in Tagebuchform einer Biologin abgeliefert, wodurch die Informationen eher willkürlich präsentiert werden, aber dennoch eine nette Ergänzung zu den Spielinformationen im „Monsterteil“ des Grundregelwerks darstellen.

„Die Infizierten“ stehen im Fokus des vierten Kapitels. Damit sind diejenigen gemeint, die am MMVV, dem höchst seltenen Menschlich-Metamenschlichen Vampirischen Virus, erkrankt sind und sich daraufhin in eine neue Monsterart verwandelt haben. So verwandeln sich Zwerge beispielsweise unter Einfluss des MMVV I zu Goblins und Elfen werden zu Banshees. Der MMVV II macht etwa Menschen zu Werwölfen und Orks zu Grendeln. Alles in allem wird hier erneut eine ganze Riege fantastischer Wesen ins Spiel gebracht, die am Ende auch mit Spielinformationen noch einmal kurz unterfüttert werden. Darunter finden sich auch Kuriositäten wie der zum Fallbär mutierte Koala oder der reptiloide Chupacabras. Für meinen Geschmack ist da alles ein bisschen zu viel des Guten, aber manche Gruppe mag ihre „Shadowrun“-Welt vielleicht durchaus fantastisch.

Das Kapitel „Drachen“ nutzt User WyrmWatcher, um ein paar Informationen zu den Ledergeflügelten zu bieten. Dabei werden sowohl Biologie als auch Kultur beleuchtet. Hier kommt das Konzept des Buches, vieles aus Usersicht zu präsentieren, dem Spielsystem besonders zu Gute, denn um den Drachen als ominösen Herrschern der Erwachten Welt nicht ihren Nimbus zu nehmen, wird natürlich vor allem spekuliert. Das mag dem Regel-und-Fakten-Fan gegen den Strich gehen, andererseits lässt es Spielleitern viel Raum, auf den Hinweisen, Gerüchten und Halbwahrheiten, die hier zu lesen sind und durchaus interessante Details bieten, aufzubauen. Zum Abschluss werden die 17 bekannten Großen Drachen in kurzen Abschnitten vorgestellt sowie zehn Drakoformen und Drakomorphe mit Spielinformationen gelistet.

Im Anschluss beginnt ein „Tabellenblock“ des Buches, der vor allem aus Spielinformationen besteht. „Mundane Critter“ listet auf 15 Seiten die Spielwerte von gewöhnlichen Tieren auf, wobei vom Blauwal bis zur Feuerameise eine bunte Mischung aller erdenklichen Land-, Luft- und Wasserbewohner geboten wird.

Anschließend werden „Paranormale Critter“ vorgestellt, wobei diese zumindest jeweils einen beschreibenden Text von einem längeren Absatz erhalten und nicht bloß einen Kasten mit Zahlen. Zur Auswahl stehen unter anderem Greifen, Harpyien, Säbelzahntiger, Einhörner, Schreckhähne, Riesenkraken, Monsterspinnen, Grottenschrate, Minotauren und vieles (und zum Teil deutlich exotischeres) mehr. Besonders hervorzuheben ist der Munchkin (!), ein 90 cm großer, aufrecht gehender Hominide, der bevorzugt in Nordamerika zu finden ist und in kleinen Stämmen von bis zu zwölf Mitgliedern lebt. ;-) Alles in allem ist die Auswahl an Crittern gewaltig und dürfte jedem Spielleiter für lange Zeit genug Material an die Hand geben, um den Runnern ungewöhnliche Begegnungen der tierischen Art zu bescheren.

Als wären paranormale Critter noch nicht schlimm genug, werden im Folgekapitel „Mutanten und toxische Critter“ Regeln geboten, um eigentlich mundanen Kreaturen durch Verseuchung und Verstrahlung zusätzlichen Wumms zu verleihen. Die Illustration eines lastwagengroßen Alligators dürfte dabei plastisch verdeutlichen, welche Späße in manchen Kanalisationen oder Umweltsonderzonen auf glücklose Runner warten könnten. Ein paar beispielhafte Mutanten und toxische Critter werden auch gleich geboten, darunter die allesfressende Höllenkuh, der Neogargyl und die radioaktive Gammaspinne.

In den nächsten drei Kapiteln wird es dann wirklich kurios – und das sage ich im vollen Wissen um die bereits vorgestellten Kuriositäten. „Fremdartige Geister“, „Technocritter“ und „Protosapiens“ stellt jeweils genau das vor, was die Kapitelüberschrift verspricht. Das wären zum einen Geister, die nicht zu den zehn archetypischen Geisterformen zählen, die von den metamenschlichen Traditionen beschworen werden. Kappa, Klopfer, Leprechauns, Phantome, Todesschatten, Kobolde und die ganze Bagage werden daher als wilde Geister behandelt, und man muss entsprechend mit ihnen schachern, wenn man etwas von ihnen will. Regeln hierzu finden sich im Spielinformationen-Teil des Kapitels.

Bei Technocrittern handelt es sich derweil um die animalische Entsprechung von Technomancern, also um emergente Tiere, die sich instinktiv in die Matrix einloggen und in dieser aktiv sein können (wer wollte nicht schon immer mal einer Delphinschule oder einem Bienenschwarm in seinem Heimnetzwerk begegnen). Ob sich diese Tiere abrichten lassen, um sich in auf Technocritter nicht vorbereitete Systeme zu hacken, ist noch ein Teil der vielen Fragen, die diese digital erwachten und weitgehend unerforschten Wesen umgibt. Den Einsatz dieser Tiere im Spiel und beispielhafte Technocritter beschreibt auch hier ein Spielinformationen-Teil.

Protosapiens schließlich lassen sich am einfachsten als wilde KIs beschreiben, die allerdings keine hohe Intelligenz besitzen, sondern eher ein Bewusstsein auf tierischem Niveau aufweisen. Sie entstehen aus der modernen Programmiermethode der Schwarmgenetik (einer Art Algorithmus, der selbstlernende Programme hervorbringt) und ernähren sich durch Datenfraß, wobei unterschiedliche Vorlieben der PsIs (Protosapienten Intelligenzen) bestehen. Wie in den Kapiteln zuvor, werden im Spielinformationen-Teil einige dieser digitalen Geschöpfe vorgestellt (etwa die personafressenden Grue oder die Knotenoperationen störenden Heisenbugs), die regeltechnisch als KIs behandelt werden, allerdings mit einigen, hier gelisteten Ausnahmen.

Zum Abschluss folgt noch ein Regelkapitel, das alle denkbaren „Critterkräfte“ auflistet und näher beschreibt.

Fazit: Mit „Wildwechsel – Das Critterdossier“ liegt ein wirklich spannendes Quellenbuch für „Shadowrun“ vor, dem es gelingt, tierisches Leben in allen erdenklichen und exotischen Variationen vorzustellen. Einsteigern ist das Buch vielleicht nicht zu empfehlen, denn die Welt von „Shadowrun“ ist so schon komplex genug. Spielleitern, denen nach dem x-ten Konzernrun jedoch nach etwas Abwechslung gelüstet, finden hier alles Material, was sie benötigen, um der 6. Welt eine ganz neue Dimension hinzuzufügen. Dabei sind alle Informationen erfreulich optional; man kann sich also leicht heraussuchen, was man nutzen möchte und was nicht (persönlich finde ich Technocritter und Protosapiens zum Beispiel extrem spannend, Kobolde, Feen und Zentauren allerdings eher weniger). Kaufempfehlung!


Wildwechsel – Das Critterdossier
Quellenbuch
John Dunn, Jennifer Harding, Lars Blumenstein u. a.
Pegasus Press 2010
ISBN: 978-3-941976-07-8
232 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 29,95

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