von Stefan Koller
Etwa Mitte des letzten Jahres ging der Verlag Wizards of the Coast dazu über, für das Rollenspiel „Dungeons & Dragons“ nicht nur großformatige, gebundene Bücher sondern auch preiswerte Hefte herauszugeben. Neben völkerspezifischen Bänden erschien auch „Hammerfast“, ein 30-seitiges Heft zu einer Zwergenstadt in den Bergen des Nentir-Tales, der Kampagnenwelt von „D&D“. Mit „Vor Rukoth“ geht diese szenarienorientierte Serie in die zweite Runde, und schildert ein Überbleibsel der Tiefling-Zivilisation. Ich beschreibe zunächst mal den geschilderten Ort, und schreite erst anschließend zu einer äußerlichen Produktbeschreibung.
Vor Rukoth ist eine ehemalige Reichsresidenz der Tieflinge, die vor Jahrhunderten zwei Ereignissen zum Opfer fiel: einer Belagerung durch Drachengeborenen vor den Toren der Stadt und einer Invasion von Teufeln aus einem Höllenportal, mithilfe dessen sich die Tieflingherrscher vor dem Ansturm der Drachengeborenen wehren wollten – vergebens. Seither ist viel Zeit vergangen, aber nach wie vor wird das Geschehen in und um die Stadt, von der nur mehr Asche und Ruinen übrig geblieben sind, von diesen Fraktionen bestimmt. Im Innersten Kern der Stadt finden sich die letzten Überbleibsel der Tieflinge, die zum Teil nur mehr als Untote existieren. Etwas außerhalb finden sich versprengte Truppen der Drachengeborenen, die sich jetzt, Generationen nach der großen Belagerung, dazu aufgemacht haben, ihr Werk zu vollenden. Aber auch das Höllenportal ist nicht still geblieben, sondern hat der Stadt eine schöne Zahl streunender Teufel beschert. Nichtsdestotrotz übt Vor Rukoth eine hohe Anziehungskraft auf allerlei abenteuerlustiges wanderndes Volk aus – locken doch Reichtümer und magische Artefakte in den Ruinen, die ihre Besitzer vor Jahrhunderten verloren. So stark ist diese Anziehungskraft, dass außerhalb der Stadt ein Vorlager eingerichtet wurde, in dem Abenteurer ihre letzte Bleibe vor der Expedition in die Ruinen finden. Doch selbst in diesem Lager – „Des Koyoten Refugium“ benannt – ist man vor Gefahren nicht sicher. Denn einige Figuren vor Ort haben so einiges an Vergangenheit zu verbergen und schrecken auch nicht vor mörderischen Absichten zurück, um sich gegen allzu neugierige Neuankömmlingen zu wehren.
Soweit die Grundstimmung der im Produkt geschilderten Stadt. Kommen wir zur Aufmachung. Wir halten ein 32-seitiges Heft in Händen, dem eine sogenannte „Battle-Map“ beigelegt wurde – ein A2-großer Kampfplan, auf dem man Schlüsselbegegnungen des Abenteuers mit Miniaturen nachspielen kann. Beidseitig farbig bedruckt, stellt er den Thronsaal der Tieflinge sowie Straßenruinen dar – und damit sind die zentralen Aspekte des Szenarios auch gut abgedeckt. Das eigentliche Heft befindet sich in einem Papp-„Folder“, auf dessen Innerem noch einmal in Schwarz-Weiß der Stadtplan abgedruckt ist – etwas widersinnig, findet dieser sich doch bereits, in Farbe, auf der Heftrückenseite. (Dies wurde vom Vorgänger „Hammerfast“ besser gelöst, wo man erweiterndes Bildmaterial zur Stadt anbot.) Das Heft selbst ist durchgängig farbig und auf ziemlich dickem Papier gedruckt – kein Vergleich zu dem dünnen Magazinpapier, dass der Verlag noch für die früheren Abenteuer (wie „Shadowfell“) benutzte. Die Qualität der Illustrationen weiß zu überzeugen, und ergänzt das Leseerlebnis ideal, werden doch zentrale Schauorte und neue Monster dargestellt. Insofern erinnert die Darbietung an die von Kaufabenteuern, mit dem gravierenden Unterschied, dass der Band sämtliche vorbereitete Begegnungen ausblendet. Das hat zum Vorteil, dass irrsinnig viel Raum für Ortsbeschreibungen bleibt, Platz, der sonst für Details zu Kampforten und -kontrahenten benötigt würde – aber auch den Nachteil, dass der Spielleiter beim konkreten Vorbereiten des Szenarios viel Eigenarbeit aufwenden muss. Insgesamt versteht sich der Band als Schilderung eines Schauplatzes für Charaktere der Stufen 1 bis 15 – bei dieser Bandbreite ist klar, dass eine stufenbedingte Ausarbeitung einzelner Kontrahenten kontraproduktiv gewesen wäre. Überhaupt charakterisiert den Band durchgehend ein hoher Grad an Andeutung – will sagen, es herrschen Vorschläge statt Ausarbeitungen von Ideen vor.
Der Band selbst ist wie folgt aufgebaut: Nach einem kurzen Abriss zur Hintergrundgeschichte der Stadt und den noch heute dort herrschenden Fraktionen, widmen sich die ersten zehn Seiten dem Leben außerhalb der Stadt im Lager der Abenteurer (dem „Refugium“). Hier werden weitere Fraktionen vorgestellt, die es aus unterschiedlichsten Motivationen in die Stadt zieht, sowie eine Hülle an Nichtspielercharakteren, die allesamt hohes Potenzial für Konflikt- also Charakterspielszenen haben. Nach zwei weiteren Seiten zu szenariogebundenen Ereignissen, die je nach Spielleitergutdünken eintreten können und so die Fraktionen gegenseitig aufbringen (sowie weitere Faktoren und Fraktionen ins Spiel bringen), beginnt auf Seite 11 die Hauptrubrik des Buches – die Beschreibung der einzelnen Orte in der Stadt. In acht Stadtvierteln werden in Summe 36 Lokalitäten beschrieben. Die Beschreibungen zielen immer darauf ab, gleich einen Abenteueraufhänger mitzugeben; auch sind die bereits erwähnten Fraktionen gezielt eingearbeitet. Auf diese Art hat der Band eine hohe Materialdichte auf engem Raum. Wie schon gesagt, ist ausgearbeitetes Regelmaterial die Ausnahmeerscheinung in diesem Format – so finden wir nur eine kleine Handvoll von (Quest-bedeutsamer) magischer Gegenstände und Statblocks zu neuen Monster vor.
Die Beschreibungen der einzelnen Lokalitäten sind größtenteils gelungen und vermitteln die düstere Stimmung vor Ort sehr gut, sind jedoch am Stück nicht unterhaltsam zu lesen, weil sich in Aufbau und Inhalt schnell Parallelen bemerkbar machen. Die Abenteueraufhänger wissen zu überzeugen, aber zwischendurch fragt sich der Leser schon, ob es dem Autor immer ernst mit den Vorschlägen war. Auf Seite 16 etwa finden wir einen Zauberlehrling, der sich vor dem Ansturm der Drachengeborenen in seinem Turm verbarrikadiert hat, und sich zum Zeitvertreib Illusionen erschuf, denen er menschliche Wesenszüge und die Gabe des Sprechens, ja ganze Persönlichkeiten verlieh (Anklänge an die Figur J.F. Sebastians aus dem Film „Blade Runner“ bestehen durchaus). Als Abenteueraufhänger sollen die Spielercharaktere jetzt den Zauberlehrling befreien – denn dieser wird nun von seinen Illusionen im Turm gefangen gehalten. Wie das geht? Ganz einfach: „Er [der Zauberer] hat Kontrolle über eine seiner Illusionen erlangt, einen Hund namens Tick. Dem Hund, der die Gemeinsprache spricht, ist es gelungen, aus dem Turm zu entkommen und sucht jetzt nach Hilfe, um sein Herrchen zu befreien.“ Das ist sicher eine spaßige Sache, wenn der Hund auf die Helden trifft, und wird auch den einen oder anderen Lacher am Spieltisch garantieren: ein Hund, der spricht – und auch noch obendrein eine Illusion ist! Scooby-Doo und Shrek lassen grüssen. Aber wie schon bei anderen „D&D“-Produkten neuerer Zeit darf man sich fragen, ob so ein Klamauk Eigensatire oder mangelndes Handwerkskönnen seitens des Autors darstellt. Zum Glück sind solche Ausreißer eher selten in „Vor Rukoth“.
Die tatsächliche Herausforderung des Produktes ist jedoch anderer Natur – sie besteht darin, aus den verwobenen, aber doch grob gemalten Abenteueraufhängern abendfüllende Szenarien zu schaffen, und den Spielern zu vermitteln, dass sie es hier nicht mit einer sauber vorbereiteten, im Schwierigkeitsgrad penibel an ihr Können angepasste Begegnungsreihe zu tun haben – sondern mit einem äußerst tödlichen Schauplatz, an dem Stufe 1 Monster Tür an Tür mit hochstufigen Teufeln wohnen. Nun, vielleicht nicht Tür an Tür, denn die Einteilung in Stadtviertel entspricht auch ungefähren „Stufenbereichen“ für die Unternehmungen der Spielercharaktere, aber da das Szenario nunmal ortsbasierend aufgebaut ist, sind Begegnungen mit übermächtigen Gegnern vorprogrammiert. Das Leiten des Produktes verlangt also nicht nur hohen Eigenaufwand seitens des Spielleiters bei der Vorbereitung des Szenarios, sondern auch gutes Fingerspitzengefühl beim Leiten desselben. Spielleiter, die nicht die nötige Zeit oder Eigenerfahrung aufbringen können (noch wollen), sollten insofern lieber zu fertig ausgearbeiteten Abenteuermodulen mit einem klar umrissenen Stufenbereich greifen. Ausschlaggebend für die Kaufentscheidung sollte auch der thematische Schwerpunkt von „Vor Rukoth“ sein.
Fazit: „Vor Rukoth“ ist ein Quellenband, der die gleichnamige Ruinenstadt der Tieflinge vorstellt. Als Setting mit Abenteuervorschlägen, aber ohne genaue Ausarbeitung von Begegnungen bietet sich das Buch vor allem für Spielleiter mit Erfahrung an. Für Gruppen mit Tieflingen in der Heldengruppe dürfte der Ausflug in die Ruinenstadt spannend und folgenschwer werden. Und auch Spielleiter, die immer schon auf eine detailliertere Schilderung des Tieflingreiches Bael Turath hofften, dürften hier auf ihre Kosten kommen.
Vor Rukoth
Quellenbuch
Greg Bilsland
Wizards of the Coast 2010
ISBN: 978-0-7869-5549-7
32 S., Softcover, englisch
Preis: $ 14.95
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