Vampire: The Requiem

Kinder der Nacht sind sie, Blutsauger, Nachtalbe mit spitzen Fängen und verführerisch glitzernden Augen, einsame Jäger in einer Welt der Dunkelheit – Nosferatu, der Vampyr. Mit Bram Stokers „Dracula“ traten die Vampire in unser kulturelles Bewusstsein (Mythen und Ammenmärchen über namenlose Schrecken mal außen vor belassen), Filme wie Fritz Langs „Nosferatu“ und die Gruselstreifen der Hammer-Studios mit Christopher Lee machten den untoten Grafen und seine Brut populär. Anne Rice begründete in den 1970ern mit ihren Romanen – etwa „Interview mit einem Vampir“ – den modernen Kult um die Vampire, den Höhepunkt schließlich setzte White Wolf mit seinem unglaublich komplexen Modern-Gothic-Rollenspiel „Vampire: The Masquerade“. Mehr als zehn Jahre gingen ins Land, in der die Vampirkultur wuchs und gedieh – dann ging die „World of Darkness“ unter und wurde neu geboren. Das erste der drei aktuell geplanten Campaign-Settings des neuen Regelwerks widmet sich natürlich erneut den Kindred: „Vampire: The Requiem“.

von Bernd Perplies

Das Buch ist rein äußerlich bereits Monstrum und Meisterwerk gleichermaßen. Ein Monstrum, weil es aus ca. 300 dicht beschriebenen Seiten Text besteht, die mehr als beredt davon Zeugnis ablegen, dass hier keine Welt aus dem Nichts heraus geschaffen wurde, sondern dass vielmehr das Beste aus einer Dekade „Vampire“ zusammengefasst, verdichtet und in einen neuen Kontext gebracht wurde. Ein Meisterwerk, weil ich selten bisher einen so wunderschön designten Hardcoverband in den Händen hielt. Hier blickt man nicht einfach auf ein Buch, dessen Zugehörigkeit zum Feld der Rollenspiele schon am Cover eindeutig erkennbar wird – die, machen wir uns nichts vor, oft genug weit hinter dem gestalterischen Spektrum und Reichtum ihrer kleinformatigeren Verwandten aus der Belletristik zurückbleiben –, nein, das rot-marmorierte Buch mit den fallenden Rosenblüten, der erschlafften Hand und dem silbrigen Schriftzug wirkt edel wie ein opulenter Bildband über Untote. Wenn ich zurückblicke, erinnere ich mich nur an ein einziges Spiel, das ein ähnliches Flair verbreitet hat: „Nobilis“ von Hogshead Publishing.

Zwischen den Buchdeckeln relativiert sich dieser Eindruck allerdings wieder ein wenig. Hier herrscht klassischere Rollenspielästhetik vor. Der Druck ist im Prinzip Schwarz-Weiß, dafür aber auf stabiles Glanzpapier und unter geschicktem Einsatz der Extrafarbe Rot für Überschriften und Zierleisten, die gemeinsam mit einer breiten Palette von Grautönen mehr Farbigkeit vorgaukelt, als eigentlich vorhanden ist. Der Textaufbau ist an und für sich sinnvoll, aufgrund der Fülle an Material und Informationen ist man als Spielleiter dennoch sehr dankbar für den Index am Ende des Buches, ansonsten würde man vermutlich die Stellen, die einzelne Begriffe wie Golconda, Diablerie und dergleichen behandeln, in der Hitze einer Spielrunde nur nach langwierigem Blättern finden. Verbessert wird der rasche Zugriff auch nicht unbedingt durch das, was gemeinhin „Bleiwüste“ genannt wird und sich streckenweise durchaus bemerkbar macht. Mich persönlich stört das weniger, denn je mehr Text, desto mehr Informationen bekommt man – normalerweise – für sein Geld. (Das Gegenteil schwungvoller Platzverschwendung aus ästhetischen Gründen stößt mir da meist viel eher auf.) Allerdings könnte an dieser Stelle berechtigte Kritik ansetzen. Die Zeichnungen sind im mittleren bis gehobenen Bereich anzusiedeln (billige Strichmännchen sucht man glücklicherweise vergebens) und sie unterstützen gerade durch ihren Mangel an Farbe die düstere, blutarme Atmosphäre der Welt der Vampire.

„Vampire: The Requiem“ ist in neun Kapitel unterteilt. Der „Prologue: Dance of the Dead“ führt mit kurzen Stimmungstexten, Fragmenten aus dem Beginn verschiedener, persönlicher Chroniken, in die Welt der Vampire und ihre Atmosphäre ein. Es folgt eine kurze „Introduction“, die grob das Setting und die Stimmung, die mit „Vampire: The Requiem“ angestrebt werden, umreißt. Dazu gehören auch ein überblicksartiger Abriss des Vampir-Verständnisses innerhalb des Spiels sowie eine Reihe Tipps hinsichtlich stimmungsvoller Literatur, Filme und Musik.

„Chapter One: Society of the Damned“ ist mit 70 Seiten das erste Monsterkapitel. In einem Detailreichtum, der ganz deutlich als Verdichtung von in mehr als zehn Jahren gesammelten Ideen und Konzepten zum Thema Vampirkultur erkennbar ist, widmet sich das Kapitel allen nur denkbaren gesellschaftlichen Facetten eines Daseins als unsterblicher Blutsauger. Veteranen der alten „Welt der Dunkelheit“ werden viele Begriffe bekannt vorkommen. Einige davon wurden unverändert in das neue Spielsystem übernommen, einige haben eine gewisse Neuinterpretation erfahren. „Die Maskerade“ beispielsweise gehört noch immer zu den elementaren Regeln, wurde allerdings vom Requiem, als grundsätzlicher untoter Existenz im Untertitel des Spiels abgelöst. Nach wie vor existieren Clans, etwa die hässlichen Nosferatu, die naturverbundenen Gangrel und die aristokratischen Ventrue. Andere, wie die Brujah und die Toreador, wurden zu „Blutlinien“, einer Art Subclans, reduziert. Die Tremere als „Magiervampire“ gibt es in dieser Form gar nicht mehr – was nicht heißt, dass nicht trotzdem diverse Clans in arkanen Belangen bewandert sind.

Wichtiger als die Clans erscheinen in der neuen „World of Darkness“ die Covenants, politische Gruppierungen, Orden oder Zirkel (wie man es auch nennen möchte), die das Weltbild der Vampire bestimmen. Die einst allumfassende Camarilla gilt als seit Jahrhunderten zerfallen – ebenso wurde der Monomythos um Kain zugunsten spiritueller Vielfalt gestrichen. Die fünf bedeutendsten heutigen Fraktionen sind „The Carthian Movement“ (eine moderne, progressive Bewegung), „The Circle of the Crone“ (eine Art vampirischer Hexenkreis, der heidnische Gottheiten verehrt), „The Invictus“ (eine konservative Aristokratenriege), „The Lancea Sanctum“ (der christlich-religiöse Arm der Vampirwelt, der Longinus verehrt, den Soldaten, der Jesus am Kreuz mit der Lanze stach) und „The Ordo Dracul“ (eine viktorianisch angehauchte Gruppierung, die sich direkt aus dem mythischen Graf Dracula ableitet). Einige kleinere Covenants und die „Unaligned“ runden das Spektrum der Möglichkeiten für junge Vampire ab.

Bereits hier wird der hohe Komplexitätsgrad deutlich, der das Spiel „Vampire: The Requiem“ durchzieht. Es ist mitnichten damit getan, sich beißen zu lassen und dann als untoter Schrecken durch nächtliche Gassen zu ziehen. Die Vampirgesellschaft ist unglaublich vielschichtig, voller Regeln, Traditionen, Bündnisse und Feindschaften. Die Intrige gehört zur feinen Kunst, die den Unsterblichen die ewig andauernde Verdammnis versüßt. Dieses vielfach verwobene Netz des Spieluniversums, eine Herausforderung sowohl für den Spielleiter als auch seine Spieler, ist zugleich Krux und Stärke des Storytelling-Systems, aber dazu komme ich später noch einmal.

„Chapter Two: Character“ hilft auf 66 Seiten, den eigenen Spielercharakter zu entwickeln. Als Campaign Setting zum „World of Darkness“-Spiel benötigt man natürlich das Grundregelwerk zur Charaktererschaffung, allerdings finden sich zahlreiche Abweichungen, die speziell Vampir-Charaktere betreffen. Zu den wichtigsten gehören – man kennt das – die „Disciplines“, also all die übernatürlichen Kräfte, etwa der Körperbeherrschung, der Geistesbeeinflussung und der Verwandlung, die Vampiren so inne sind. Viele davon sind aus der früheren Edition übernommen: Auspex, Celerity, Dominate, Protean... sie alle wurden exakt oder sehr ähnlich in ihren Wirkungsweisen auch in „Vampire: The Requiem“ aufgenommen. Drei arkane Schulen, die unterschiedlichen Covenants zur Verfügung stehen („Crúac“ für den „Circle of the Crone“, „Theban Sorcery“ für die „Lancea Sanctum“ und „The Coils of the Dragen“ für den „Ordo Dracul“), schließen daran an bzw. bauen darauf auf.

„Chapter Three: Special Rules and Systems“ geht auf ungefähr 40 Seiten auf eine ganze Reihe besonderer Eigenheiten der vampirischen Natur ein, die – im Gegensatz zu den gesellschaftlichen Aspekten, die in Kapitel 1 beschrieben wurden – direkte Regelmechanismen mit sich bringen. Dazu zählen Eigenschaften, Möglichkeiten und Beschränkungen des Blutes (wie viel ein Vampir so braucht und was er damit anstellen kann), Verwundungen, Heilung, das Problem der Raserei und der Reaktion auf Sonnenlicht, das Konzept der Diablerie (dem Blut-Trinken von anderen Vampiren), die Schwierigkeiten mit der eigenen „Menschlichkeit“ sowie Golconda und andere Stadien der Transzendierung des vampirischen Fluches. Gerade in Bezug auf diese letzten, eher spirituellen Themen bleibt das Regelwerk allerdings relativ vage und bezieht sich vor allem auf Gerüchte und Mythen, die der Spielleiter aufgreifen mag, wenn er dies im Rahmen seiner Chronik für angebracht hält.

„Chapter Four: Storytelling and Antagonists“ ist das obligatorische Spielleiterkapitel. Wie beschwöre ich die richtige Atmosphäre herauf? Was muss ich beim Entwickeln von Abenteuern für ein „storytelling game“, insbesondere ein „modern gothic storytelling game“, als das sich „Vampire: The Requiem“ begreift, beachten? Wie entwerfe ich eine lebendige Chronik? Welche Möglichkeiten, Beschränkungen und Probleme haben Vampire, auf die man in einem anderen Rollenspiel vielleicht nicht achten müsste? Dies sind nur einige der Fragen, die auf 36 Seiten wortreich beantwortet werden. Es werden keine Universalrezepte angeboten (wohl aber eine Reihe „Do“s and „Don’t“s), stattdessen wird versucht, den Spielleiter für die Stimmung der Spielwelt als Ganzes zu sensibilisieren. Obwohl für Rollenspiel-Veteranen oft ein eher uninteressantes (weil meist sich wiederholendes) Kapitel, kann aufgrund der hohen erzählerischen Dichte eben dieses Systems ein Blick hinein nicht schaden.

Des Weiteren stellt das Kapitel Regeln auf und gibt Hinweise zur Erstellung von Nichtspieler-Charakteren, ohne die ja kein Rollenspiel auskommt. Entsprechend des Schwerpunktes auf sozialer Interaktion wird den NSC verhältnismäßig viel Platz eingeräumt und ihre Generierung schließt auch Blicke in ihren Background mit ein, der für den gemeinen Prügel-NSC in der Regel ja zu vernachlässigen ist. Für den schnellen Einsatz werden einige universelle NSC angeboten, von „Animals“ wie dem „Hell Hound“ und dem „Gargoyle“ über „Non-Combatants“ wie den „Street Preacher“ bis hin zu „Combatants“ wie dem „Rogue Ghoul“. Eine recht eingeschränkte Auswahl, die nur zum Einstieg in eine Chronik dienen kann.

Der „Appendix One: Bloodlines and Special Disciplines“ kann zur weiteren Ausdifferenzierung der „World of Darkness“ verwendet werden. „Bloodlines“ sind entweder rein soziale Untergruppen existierender Clans oder aber Abspaltungen und/oder exotische Auswüchse, die tatsächlich physische Eigenheiten aufweisen können. Fünf Bloodlines und zwei ihnen zuzuordnende Spezialdisziplinen werden kurz beschrieben, außerdem existieren Regeln zum Einsatz und zur Generierung eigener Subgruppierungen von Vampiren und ihren Fähigkeiten.

„Appendix Two: New Orleans“ entführt uns in die Hitze der Nacht der amerikanischen Südstaatenmetropole. Auf einen kurzen, geschichtlichen Überblick erfolgt ein Abriss des aktuellen Gleichgewichts der Kräfte der ansässigen Vampirgesellschaft. Ein kleiner Stadtführer schließt sich an. Und zum Abschluss werden die namhaften Kindred des dampfenden Großstadtdschungels am Mississippi aufgeführt. Mit 30 Seiten ist dieser Quellenteil natürlich kaum erschöpfend, aber doch hinreichend ausführlich beschrieben, um in der Domäne New Orleans erste Abenteuer als angehender Jäger der Finsternis zu erleben.

„Epilogue: Strings and Piano“ entlässt uns gleitend und in kurzen Visionen der Endlichkeit selbst des unendlich scheinenden Daseins eines Kindes der Nacht aus dem Quellenbuch, ähnlich wie ein offener Satz, der darauf wartet, von Spielleitern und Spielern weitergeführt zu werden...

Fazit: Sowohl von Qualität als auch Quantität her, gehört das Campaign Setting „Vampire: The Requiem“ zum Besten, was mir seit langem untergekommen ist. Die morbige, komplex aufgeladene Atmosphäre des Spiels vermittelt sich praktisch auf den ersten paar Seiten und lässt einen bis zum Ende nicht los. Definitiv ein Rollenspiel für erfahrene Spieler und Spielleiter und für solche, die der Interaktion zwischen Charakteren mehr Bedeutung zumessen als dem tumben Dungeoncrawl.

Allerdings liegt in dem hohen Komplexitätsgrad auch die Krux. Derlei Systeme entwickeln sich nicht aus dem hohlen Bauch heraus, viel wurde von „Vampire: The Masquerade“ übernommen. Entsprechend bietet das Buch kaum zwingende Gründe für eine existierende Vampire-Runde, auf das neue System umzusteigen. Vor allem dann, wenn man im Laufe der Jahre sich auf eben die komplizierten Verflechtungen der Vampirwelt eingelassen hat und nun inmitten einer Chronik steht, die man weder einfach auflösen noch neu starten kann oder will, ohne ungezählte Stunden an investierter Arbeit zu verlieren.

In diesem Sinne hat sich die „World of Darkness“ (und damit auch „Vampire“) selbst ein Bein gestellt. Dadurch, dass nicht einfach nur das Regelsystem gewechselt, sondern gleich die eigene Welt zum Untergang verdammt wurde (nur um dann in einer Art „more of the same“ aus der Asche der Welt wieder aufzusteigen), ist der Widerstand für etablierte Spieler nicht unerheblich, das neue System anzunehmen. Das könnte White Wolf einige Kunden kosten.

Auf der anderen Seite ist „Vampire: The Requiem“ natürlich ein Fest für Neueinsteiger, die nicht auf 20 Sourcebooks zurückgreifen müssen, sondern hier zunächst mit einem, konsequent revidierten und komprimierten Band leben können. Wer jemals mit dem Gedanken spielte, eine Vampir-Chronik anzufangen, für den ist jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen, um edel in der Welt zugrunde zu gehen.


Vampire: The Requiem
Campaign-Setting
Ari Marmell, Dean Shomshak, C.A. Suleiman
White Wolf 2004
ISBN: 1-58846-247-1
306 S., Hardcover, englisch
Preis: $ 34,99

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