von Nick
„Vampire – Chapters“ orientiert sich an dem Pen-&-Paper-Rollenspiel „Vampire: Die Maskerade“, das 1991 von White Wolf (und auf Deutsch von Feder&Schwert) herausgebracht und 2011 in einer Jubiläumsedition erneut veröffentlicht wurde. In diesem Rollenspiel übernahmen die Spieler die Rolle von „jungen“ Vampiren, die nicht nur mit ihrer Unsterblichkeit zu hadern haben, sondern auch mit all den politischen Ränkespielen zwischen den verschieden Vampirclans und Fraktionen. Die Camarilla (etablierte Vampirgesellschaft) auf der einen Seite, die versucht, das innere Tier in Schach zu halten und im Schatten zu bleiben, und der Sabbat (wilde Außenseiter), der eher das innere Tier feiert und nicht wirklich versucht, sich zu verstecken.
„Chapters“ setzt als Spiel über zehn Jahre nach der „Nacht der Asche“ ein. Firstlight, eine geheime Gruppierung aus Mitgliedern der U.S. Streitkräfte und der 2. Inquisition vernichteten in einer Nacht in einem koordinierten Angriff alle bekannten Vampir:innen in Montreal. Das brachte hauptsächlich den Sabbat zu Fall, denn wie gesagt: Verstecken ist nicht ihr Ding. Nun hat weitestgehend die Camarilla das Sagen, allerdings gibt es immer noch eine kleine Gruppe Anarchen. Das sind Vampire, die sich zwar an das Gesetz der Maskerade halten (sprich: Verstecken), aber nicht wirklich Fans der Camarilla sind.
In dieses Gewirr werden die Spieler:innen geworfen (auch solo, ist aber nicht empfehlenswert, da sehr schwer), nicht nur um ihrem jeweiligen Clan einen besseren Ruf zu verschaffen, sondern auch um geheimnisvollen Geschehnissen auf den Grund zu gehen.
Der Spielablauf
„Chapters“ ist auch eines dieser Expertenspiele, die mir nicht schwer vorkamen. Allerdings habe ich mittlerweile auch so viele Spiele gespielt, dass Regeln mittlerweile ein großer Brei sind. Aber grundlegend sind die Regeln des Spiels nicht kompliziert. Jede:r Spieler:in sucht sich einen Charakter aus. Dieser hat Werte für Willenskraft, Hunger und Lebenspunkte auf dem Charaktertableau. Auf dem Charakterblatt stehen die Werte und Besonderheiten des Charakters. Sie bestehen aus 3 Attributen (Körperlich, Gesellschaftlich und Geistig). Dieser Wert gibt an, mit wie vielen zehnseitigen Würfeln (W10) ein Fähigkeits-Check gewürfelt wird. Die zwölf zugeordneten Fähigkeiten (etwa Sportlichkeit, Menschenkenntnis oder Suchen; jeweils vier gehören zu einem Attribut), beziehungsweise die Kreuzchen, die man dort gesetzt hat, geben an, wie viele automatische Erfolge der Charakter hat. Ein Fähigkeits-Check sieht also in der Regel dann so aus: Attributswert in Würfeln (jeder kann 0 bis 2 Erfolge erzielen) + Fähigkeitswert als Auto-Erfolge müssen größer/gleich Zielwert sein. Dazu kommen noch die sogenannten Disziplinen, starke Sonderfähigkeiten, die spezifisch für den jeweiligen Clan sind (etwa Geschwindigkeit, Tierhaftigkeit oder Seelenstärke). Sie können in engen Situationen durchaus das Spielblatt wenden.
Das Spiel beginnt eigentlich mit einem längeren Intro-Text im „Buch der Geschichten“, allerdings gibt es auch die Prologe (kleine Einführungsabenteuer) für die acht Charaktere, die man verkörpern kann. Diese sind optional, erklären aber echt gut die Mechaniken des Spiels und geben auch ein paar Informationen zu den jeweiligen Spielcharakteren. Jeder Charakter hat dabei sein eigenes Szenario, und es ist durchaus empfehlenswert, alle zu spielen. Sie bringen einem nicht nur die Spielmechaniken und Story näher, man kann auch schon im Voraus Erfahrungspunkte und Gegenstände abstauben.
Innerhalb des sehr erzähllastigen Spiels gibt das große „Buch der Geschichten“ die Handlung vor. Man schlägt das entsprechende Szenario auf (und es gibt wirklich viele davon), liest den Intro-Text und sucht das passende Spielmaterial heraus. Das sind meist einer der zahlreichen kleinformatigen Hexfeld-Spielpläne – Wohnungen, Gassen, Fabrikräume etc. – sowie Pappaufsteller der agierenden Personen, vom Penner im Park bis zum Monster in der Kanalisation. Dann versuchen die Spieler gemeinsam das Szenario-Ziel zu erreichen, wobei es immer mehrere Herangehensweisen gibt. Innerhalb der Szenarien gibt es immer Möglichkeiten, Dinge zu untersuchen, oder Leute, mit denen man sprechen kann. Meistens läuft das auf Fähigkeits-Checks heraus, die bei Erfolg weitere Informationen liefern und bei Misserfolg für Komplikationen sorgen.
Manchmal kommt es auch zum Kampf, bei dem natürlich auch entsprechende Checks gewürfelt werden müssen. Hierbei gibt das Charakterblatt Aufschluss darüber, wie gut (oder schlecht) euer Charakter ist. Kämpfe werden in Initiative-Reihenfolge abgehandelt. Hierfür gibt es eine kleine Zeitleiste, an die Marker für die einzelnen Kampfteilnehmer auf der linken Seite angelegt werden. Wurden sie aktiviert, wandert der Marker auf die rechte Seite. So einfach wie übersichtlich.
Jedem Charakter steht ein Kampfdeck aus Handkarten zur Verfügung, das erweitert werden kann, wenn die entsprechende Fähigkeit gesteigert wird. Diese Karten nützen allerdings mitunter nur dann etwas, wenn man einen passenden Gegenstand zur Hand hat. „Gezielter Schuss“ als Karte hilft wenig, wenn man keine Schusswaffe bei sich trägt. Mit der Zeit hat man so einige Optionen, um einen Kampf anzugehen. Nicht wirklich die Qual der Wahl, alles bleibt recht übersichtlich. Trotzdem sollte man einen Kampf taktisch angehen, da man sonst recht schnell in Starre verfallen kann (das passiert, wenn einem die Lebenspunkte ausgehen). Dadurch entfällt der Vampir im aktuellen Szenario und steht erst im nächsten wieder zur Verfügung.
Es gibt außerdem ein Schleichsystem, damit die Vampire sich unerkannt durch die Gegend bewegen können. Dazu muss der sogenannte Heimlichkeitsmodus aktiviert werden. Da alle Figuren auf den Hexfeld-Spielplänen der Szenarien einen festen Sichtkegel haben, kann man so relativ gut umherschleichen.
Bei allem, was man angeht, darf man natürlich nicht zu arg „den Vampir raushängen lassen“, da Zeugen schnell in Panik geraten und flüchten. Sollten sie das schaffen, hat das einen sogenannten „Maskeradenbruch“ zur Folge. Das kann durchaus passieren, aber es sollte nicht zur Gewohnheit werden, da ab bestimmten Punkten zugeklebte Umschläge geöffnet werden müssen, die das Spiel für die Vampire schwerer machen. Der letzte Umschlag wird im Regelwerk erwähnt mit „Viel Glück!“, also seid hiermit gewarnt.
Jeder Vampir hat auch einen Wert an Menschlichkeit, der sinkt, wenn er sich zu monströs verhält. Sinkt der Wert zu sehr, nimmt das Tier in ihm die Überhand und er ist nicht mehr spielbar. Verlorene Menschlichkeit kehrt nicht zurück, also erneut Vorsicht.
Die Entdeckungen, die die Spieler:innen in jedem Szenario machen, führen sie im Anschluss direkt zum nächsten Szenario oder zu einer Auswahl an Szenarien. Das Ganze ergibt dann eine zusammenhängende und sehr atmosphärische Erzählkampagne.
Material
Aber Hallo! Nachdem der fluchende Postbote das Paket abgestellt und ich es schwitzend in die Wohnung getragen hatte, fiel mir auf, dass „Chapters“ a) ein schweres Spiel ist und b) der Karton von der Größe her nicht wirklich zu irgendeinem anderen Spiel in meinem Regal passte. Was soll das immer mit den Sondergrößen? Können Hersteller nicht einfach norm… ich schweife ab. Wo war ich? Ach so, bei Hallo. Beim Öffnen des Kartons sticht einem sofort die Übermenge an Material ins Auge. Tonnenweise Karten, Kapitelbücher, ein großes „Buch der Geschichten“ und die Spielregeln, dazu haufenweise Spielmarken und Aufsteller für NSC sowie Miniaturen für die Spielercharaktere. Das Inlay hat Platz für all diesen Inhalt, und so hat man leicht Zugriff während einer Spielrunde.
Es gibt über 50 Kapitelhefte, die man in einem Spieldurchlauf nicht alle spielen kann, dazu ein rotes „Futter“-Heft, in dem man zwischen Szenarien in kleinen Entscheidungstexten Opfer zum Aussaugen sucht. Dazu kommen Charakterbögen zum Ausfüllen für jeden Clan. Kartenteile stellen, wie erwähnt, die einzelnen Szenarien dar. Hübsche Miniaturen repräsentieren den jeweiligen Charakter und über 100 Pappmarker erwecken NSC zum Leben. Hier wurde echt nicht gespart; die Box ist randvoll mit Spielmaterial.
Meine Meinung
Ich bin hin und hergerissen. „Chapters“ ist Rollenspiel Light. Man hat nicht die Freiheiten eines klassischen Rollenspiels, sondern es läuft in Erzählpassagen meist auf eine A- oder B-Entscheidung hinaus, wenn einem diese Entscheidung nicht sogar abgenommen wird, weil man einen bestimmten Charakter dabei hat. Allerdings hat diese Railroad-Herangehensweise auch etwas ungeheuer Zeitsparendes an sich. Alles geht recht flott voran. Auch wenn manchmal die vorgegebenen Reaktionen und Aussagen etwas seltsam anmuten. In einem echten Rollenspiel hätte man da anders entschieden.
Womit wir bei den Texten wären. Es sind leider viele (zu viele!) Rechtschreibfehler vorhanden, dazu auch mal Fehler bei den Vorgaben, welche Entscheidung auf welches Ergebnis führt. Jedes Kapitelbuch ist sein eigenes, kleines „Choose-your-own-Adventure“-Büchlein, da ist es schon störend, wenn das Ergebnis thematisch nicht zur Entscheidung passt.
Das ist auch ein großes ABER, wenn man überlegt „Chapters“ zu kaufen. Es ist ein Spiel mit unglaublich viel Text, der allen Spieler:innen vorgelesen werden muss. Das zieht sich. Ungeduldige Spieler haben hier wenig Spaß. Das Spiel will Atmosphäre aufbauen (was es auch meistens schafft), das muss allen vorher klar sein. Es ist auch kein actionorientiertes Spiel, obwohl Action vorhanden ist. Es will eher so gespielt werden, wie Vampire sich verhalten würden: Ball flach halten und versuchen, die Situation ruhig unter Kontrolle zu bringen. Wenn alles schief geht, kann man immer noch den inneren Dracula rauslassen.
Die verschiedenen Clans sorgen für Variation beim Spiel, allerdings gibt es Charaktere, die das Spiel eher schwerer machen, und andere, die einen manche Szenarien mehr oder weniger im Spaziergang erledigen lassen. „Vampire: Die Maskerade“-Puristen werden wahrscheinlich die Nase rümpfen, ob des Mangels an Möglichkeiten, allerdings hat „Chapters“ etwas, das viele andere Spiele nicht haben: eine gute Story. Die auch noch spannend erzählt wird. Eine Story, bei der man nach einem beendeten Szenario wissen will, wie es denn weitergeht. Ein gewaltiger Pluspunkt!
Habe ich noch was zu meckern? Ja, die Zahlmarkierungen auf manchen NSC-Markern stimmen auf Vorder- und Rückseite nicht überein. Kleiner Fehler, trotzdem ärgerlich.
Jetzt aber zum letzten großen ABER: der Preis! Bei 250 Euro Liste bleibt einem im ersten Moment schon die Spucke weg. Ich bin sicher, da war ich nicht der einzige. Da muss man schon überlegen, ob man dieses Baby mit heim nimmt. Für den Preis kriegt man auch eine Reihe „Vampire“-Rollenspielbücher. Als kleine Entscheidungshilfe: „Chapters“ ist – bei allen Produktionsmängeln im Detail (ein umfangreiches Errata-Dokument gibt es zum Download bei Flyos) – ein tolles Spiel, mit einem Haufen Material und tollen Miniaturen und einer umfangreichen Story, die spannend erzählt wird und Lust aufs Weiterspielen macht.
Allerdings können die Rechtschreibfehler schon ärgern (ich verweise auf den Preis), und der Wiederspielwert nach Ende der Kampagne scheint eher gering zu sein. Allerdings habe ich die Story noch nicht durchgespielt; ich habe gehört das es multiple Enden gibt, was natürlich toll wäre. Ich weiß allerdings nicht, wer das Ganze Back-to-Back spielen würde, ein Spieldurchlauf ist schon sehr zeitaufwendig.
Fazit: Tolles Spiel? Definitiv! Trotz der Fehler in den Texten. Die gelungene Atmosphäre und Handlung überwiegen einfach. Der Preis allerdings ist abschreckend. Am besten ein paar Freunde überzeugen, die Kosten zu teilen. Oder nach Rabattangeboten schauen. 30% Nachlass sind schon drin. Und dann loslegen, die Nacht wartet …
Vampire: Die Maskerade – Chapters – 1. Montreal
Brettspiel für 1 bis 4 Spieler ab 18 Jahren
Gary Paitre, Thomas Filippi
Flyos/Pegasus 2023
EAN: 4250231733864
Sprache: Deutsch
Preis: 249,99 EUR
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