Tsukuyumi – Full Moon Down

Der Mond ist auf die Erde gestürzt, hat Unheil und Chaos gebracht und den Drachen Tsukuyumi geweckt, der vor Jahrtausenden im Erdtrabanten eingesperrt worden war. Nun will er die Welt erobern. Die letzten Reste von Mensch und Tier, zum Teil technologisch erweitert oder mutiert, stellen sich ihm in den Weg, kämpfen aber auch gegeneinander um die Vorherrschaft auf dem Planeten.

von Bastian Ludwig

„Tsukuyumi – Full Moon Down“ ist ein Spiel von Comic-Zeichner Felix Mertikat. Erstmals von sich reden machte der mit seinem Comic-Debüt „Jakob“ im Jahr 2010 (zusammen mit Autor Benjamin Schreuder) und der Steampunk-Comic-Reihe „Steam Noir“ (2011-2015, zusammen mit Schreuder und Autorin Verena Klinke). Zu dieser Zeit widmete er sich auch schon der Brettspielentwicklung. Auf der Spielemesse in Essen 2015 stellte er seinem Erstling „Schäferstündchen“ vor, ein nettes kleines Spiel für zwei Personen, dem im Jahr darauf das Kartenspiel „Alle Mann an Deck“ folgte. Parallel dazu gründete Mertikat den Verlag King Racoon Games, um sich an sein nächstes, ungleich größeres Projekt zu machen, das nach einer immens erfolgreichen Kickstarter-Kampagne im Sommer 2018 erschien.

Das Ergebnis ist „Tsukuyumi“, ein asymmetrisches Strategiespiel vor postapokalyptischer Science-Fantasy-Kulisse, in dem verschiedene Fraktionen um die Vorherrschaft auf einer nach einem Kataklysmus verheerten Erde kämpfen. Die Eckpunkte der Mechanik sind damit gesetzt: Man bringt Einheiten ins Spiel, bewegt sie über eine für jede Partie aus Hexfeldern zusammengestellte Karte, nutzt Sonderfertigkeiten und Ereigniskarten, kämpft und erobert. Das Ziel sind Siegpunkte, die man vor allem am Spielende für eroberte Gebiete bekommt, die man aber auch durch erfolgreich absolvierte Mission sammeln kann.

Die grundsätzlichen Regeln sind dabei nicht allzu schwer zu lernen. Vor jeder Runde wählt jeder Spieler eine sogenannte Aktionskarte aus, die in unterschiedlicher Kombination und aufgeteilt in bis zu vier Phasen Aktionen wie Bewegung, Angriff, Produktion oder den Einsatz von Ereigniskarten ermöglicht. Anschließend werden die Aktionskarten Phase für Phase reihum abgearbeitet. Das ist eingängig und in den Grundzügen recht schnell zu verstehen, auch weil es sich in genretypischen Bahnen bewegt. Die verlässt „Tsukuyumi“ hier und da aber auch mal gerne. Von der Vorstellung, in ein Gebiet zu gehen, alle gegnerischen Einheiten zu erledigen und das Gebiet damit eingenommen zu haben, muss man sich beispielsweise verabschieden, denn hier sind Gebietseroberung und die Vernichtung des Gegners fast komplett voneinander entkoppelt. Das ist vielleicht im ersten Moment etwas unintuitiv, verändert aber das Spielgefühl merklich und führt zu ganz neuen Strategien, weil nicht jede Eroberung automatisch eine schwerwiegende, weil mit schweren Opfern für den Gegner verbundene Aggression darstellt.


 Sechs Fraktionen kämpfen um die Vorherrschaft auf der verheerten Erde.

Das alles würde theoretisch schon ein rundes, angemessen vielschichtiges Strategiespiel ergeben. Hohe Komplexität erlangt „Tsukuyumi“ aber vor allem durch sein herausstechendstes Merkmal: die unterschiedlichen Fraktionen. Davon gibt es fünf plus eine, nämlich die fünf spielbaren Fraktionen namens Cybersamurai, Dark Seed, Kampftruppe 03, Nomads und Boarlords, außerdem noch die Oni, die Armee Tsukuyumis, die von allen Spielern gemeinsam geführt wird. Diese Fraktionen sind vollkommen unterschiedlich in Ausstattung und Fähigkeiten, was zu einem sehr individuellen Spielgefühl führt und ganz eigene Strategien fordert.

Da wäre zum Beispiel das Insektenvolk der Dark Seed, das mit Masse und Reproduktionsgeschwindigkeit wie eine Seuche die Karte überrollt, dessen Einheiten aber auch tot umfallen, wenn man sie nur zu stark anhustet. Der Gegenentwurf ist die Kampftruppe 03, die in der Spitze über sage und schreibe fünf Einheiten verfügt, jede davon dafür ein hochgerüsteter Moloch. Während die Dark Seed also durchaus in die Fläche gehen kann, hat die Kampftruppe 03 schlicht nicht genug Personal, um ein größeres Territorium längerfristig zu halten. Dafür hat sie aber ihre Waffen, im extremsten Fall sogar eine Atombombe, mit der sie die Gegner in Angst und Schrecken versetzen kann, wobei die Dark Seed aber dank überall verteilter Eier quer über das Spielbrett Einheiten einsetzen darf, wo andere Fraktionen auf bestimmte Spawn-Felder beschränkt sind und so weiter und so fort. Es würde jeden Rahmen sprengen, alle Feinheiten auch nur von zwei, geschweige denn von allen sechs Fraktionen aufzuzählen. Um es deswegen kurz zu halten: „Tsukuyumi“ glänzt durch wahre Asymmetrie.

Die ist ja aber nur etwas wert, wenn sie ihren besten Freund, das Balancing, mit an den Spieltisch bringt. Und auch hier haben sich die, wie man mir auf der letztjährigen Spielemesse in Essen erzählte, Hunderte von Probespielen während der Entwicklung gelohnt. Die Fraktionen haben unterschiedliche Stärken und Schwächen, haben in einer Phase die Oberhand, müssen in einer anderen dafür zurückstecken, sodass unterm Strich jede Fraktion die Gelegenheit hat, zu punkten, so man sie denn richtig ausspielt. Das Zusammenspiel von Asymmetrie und Balance ist es, in dem „Tsukuyumi“ seine volle Stärke entfaltet.


 Lasst uns Freunde sein: Treffen sich mehrere Fraktionen, muss es nicht zum Kampf kommen.

Unerwähnt bleiben darf dabei auch nicht die Fraktion der Oni, der Schergen von Tsukuyumi höchstselbst. Sie werden von allen Spielern gemeinsam gespielt, wobei jeder Spieler während seines Zuges in den meisten Fällen auch ein oder zwei Aktionen mit den Oni machen muss. So werden die Oni zum weiteren strategischen Faktor und beleben zugleich die Spielwelt und deren Hintergrund, da sie Tsukuyumis Wirken für die Spieler sichtbar machen.

Wichtig war den Machern neben den Fraktionen, so wurde mir in Essen gesagt, den Glücksfaktor den Spiels möglichst gering zu halten. Und tatsächlich: Die Kampfwerte eingesetzter Einheiten liegen jederzeit offen, man kann stets sagen, ob man eine Konfrontation gewinnt oder nicht. Und auch die Konsequenzen eines Kampfes sind vorhersehbar. Nach Angriffen oder Gebietseroberungen dürfen die unterlegenen Fraktionen die nämlich anhand einer Liste mit maximal fünf Möglichkeiten bestimmen. Diese Liste wählt der Angreifer selbst aus seinen sogenannten Kampfkarten aus. Auch wenn man also nie ganz genau weiß, welche Konsequenz der Gegner wählen wird, kann man doch sehr genau sagen, was man zu erwarten hat. Blindes Vorstürmen gibt es nicht, „Tsukuyumi“ kann also zu Recht von sich behaupten, ein waschechtes Strategiespiel zu sein.

Vieles, was ich im bisherigen Text als Vorteile von „Tsukuyumi“ aufgezählt habe, muss sich das Spiel leider durch Nachteile erkaufen. So wunderbar die verschiedenen asymmetrischen Fraktionen auch sind, sie blähen das Spiel ungemein auf, da man für eine gute Strategie die unterschiedlichen Fähigkeiten aller Fraktionen im Auge behalten und in ihren Wechselwirkungen bedenken muss. Das ist oft knifflig, was bei einem Strategiespiel ja eher ein positives Attribut ist, leider zu häufig aber auch schwer zu überblicken. An vielen Zügen kann man so lange herumtüfteln, dass man nicht unbedingt von der perfekten Lösung gestoppt wird, sondern von den ungeduldig auf die Tischplatte klopfenden Fingernägeln der Mitspieler. Da hilft es auch nicht, dass das Spielfeld gerne mal unübersichtlich wird, wenn da dutzende Figuren herumstehen und dazu noch Marker, mit denen die Fraktionen die Gebiete im Verlauf des Spiels zupflastern, und dass man dann von all dem auch noch die Kampfwerte miteinander verrechnen muss.


 Aktionskarten (li.) legen Spieler-Aktionen fest, Kampfkarten (re.) die Folgen einer Konfrontation.

Abgemildert würde das, wenn man die Spielzeit der Mitspieler nutzen könnte, um an der eigenen Strategie zu feilen, aber so richtig funktioniert das auch nicht, denn die Vielzahl der Spielelemente sorgt dafür, dass man nie vorhersagen kann, wie genau das Spielfeld aussehen wird, wenn man selbst an der Reihe ist. Zwar kann man sich oft schon eine grobe Strategie zurechtlegen, mit der Feinplanung des eigenen Zuges kann man aber im Grunde erst beginnen, wenn der Vorspieler seinen beendet hat. Lange Wartezeiten gehören bei „Tsukuyumi“ also dazu.
Die fallen auch deswegen besonders ins Gewicht, weil man als Spieler, der gerade nicht an der Reihe ist, kaum ins Spielgeschehen involviert ist; hier und da nach einem Kampf eine Konsequenz heraussuchen, ansonsten werden alle Handlungen vom aktiven Spieler übernommen.

Keine Abstriche machen muss man bei der Präsentation. Man merkt „Tsukuyumi“ an jeder Stelle an, dass es mit viel Liebe zum Detail und einem Willen zur Erschaffung einer eigenen Welt entwickelt wurde. Das beginnt bei den vielfältigen Fraktionen, die nicht nur in ihrer Mechanik aufwendig gestaltet sind, sondern auch in ihrem Design, das ihre jeweiligen Eigenarten deutlich erkennen lässt. Dazu ist die Spielanleitung hervorragend verfasst; es ist erstaunlich, wie viele Detailfragen, die während des Spiels auftauchen können, darin beantwortet werden – auch hier scheinen sich die Probespiele ausgezahlt zu haben. Nicht nur in diesen Pflichtdisziplinen besticht „Tsukuyumi“, sondern auch in der Kür. Kurze Comics und Hintergrundinformationen zu den Fraktionen sorgen dafür, sodass die kein gesichtsloses Kanonenfutter bleiben müssen.

Und das ist nur das, was man in der tatsächlichen Spielschachtel findet. Zu kaufen gibt es auch noch einen Comic-Sammelband mit weiteren Kurzgeschichten aus der Welt von „Tsukuyumi“ und ein Artbook. Eine Erweiterung ist ebenfalls erhältlich und für März 2019 ist eine neue Kickstarter-Kampagne angekündigt, an deren Ende eine „Tsukuyumi“-Edition mit Miniaturfiguren stehen soll. King Racoon Games arbeitet hier also an einem echten kleinen Franchise.


 Das Spiel in seiner ganzen Pracht - ein großer Spieltisch ist Pflicht.

Fazit: „Tsukuyumi – Full Moon Down“ ist ein komplexes und mit sehr viel Liebe zum Detail entwickeltes Strategiespiel mit hervorragend ausbalancierter Asymmetrie, das sich seine Komplexität mit Unübersichtlichkeit und einem gebremsten Spielfluss erkauft. Ein echter Tipp für alle, die sich gerne tief in ein Spiel hineinfuchsen, auch mal ein paar Gedanken mehr in einen Zug investieren und kein Problem mit längeren Wartezeiten haben.

Tsukuyumi – Full Moon Down
Brettspiel für 3 bis 5 Spieler ab 12 Jahren
Felix Mertikat u. a.
King Racoon Games 2018
Sprache: Deutsch
EAN: 4260445160035
Preis: EUR 77,95

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