von Bernd Perplies
Was ein bisschen klingt, wie ein Steven-Spielberg-Film der frühen 80er, ist ganz sicher zumindest von selbigen inspiriert. Der schwedische Künstler Simon Stålenhag (geboren 1984) begann zunächst damit, lokale Landschaften zu zeichnen. Nachdem er über Künstler wie Ralph McQuarrie (bekannt für seine „Star Wars“-Bilder) und Syd Mead (bekannt für seine Arbeit an dem Film „Blade Runner“) gestolpert war, ergänzte er seine Motive um Roboter und futuristische, aber verfallen wirkende Bauwerke und Apparate. Aus dieser ganz speziellen Optik, einer Welt der „80er, die es nie gab“ (so sein Slogan) wurde nach einem Crowdfunding im Jahr 2014 sein erstes Buch mit dem Titel „Tales from the Loop“. Das Setting schlug so ein, dass mittlerweile drei Bände folgten. In Folge erschien bei Amazon Prime eine achtteilige Streaming-TV-Serie. Außerdem entwickelten die ebenfalls schwedischen Gamer von Fria Ligan/Free League nicht nur ein Rollenspiel auf Basis dieses Settings, sondern eben auch dieses Brettspiel.
Das Brettspiel, das im Frühjahr 2020 durch ein Crowdfunding das Licht der Welt erblickte und dann 2022 endgültig im Handel erschien, begeistert schon vor dem Öffnen der Box durch seine wunderschöne Optik. Zwei Jungs laufen mit einem Lenkschlitten durch den Schnee auf drei geheimnisvoll glühende Türme zu. Die Nostalgie der 80er trifft auf futuristische Mystery und feuert sofort die Fantasie an. Dieser Eindruck setzt sich im Inneren fort. Die Kids, die man spielen kann – vom Nerd über den Rowdy bis zum Emo und der Tussi –, ihre Ausrüstung – Lowrider Bike, MS DOS Computer oder Butterfly-Messer –, die Farbpalette und (genau genommen) sogar der Umstand, dass man mit Papp-Standees statt mit den bei Crowdfundings so gern angebotenen Plastik-Miniaturen spielt: Das alles trägt zur Atmosphäre und Tischpräsenz bei. Der Spielplan zeigt dabei ein schwedisches Setting mit für Uneingeweihte unaussprechlichen Ortnamen wie Sånga-Säby, aber das passt natürlich alles, denn „Tales from the Loop“ ist einfach im Kern ein schwedisches Projekt (auch wenn für das Rollenspiel zusätzlich ein amerikanisches und ein deutsches Setting erfunden wurden). Einzig die von Paolo Parentes Dust Studio beigesteuerten Roboter-Miniaturen wirken neben den Papp-Figuren der Kinder etwas seltsam und stechen hervor, egal ob in Grau oder bemalt. Wie es zu dieser Kooperation kam, weiß ich nicht, aber offenbar wollte jemand gern Plastik-Roboter im Spiel haben.
Das Regelwerk von 22 Seiten ist nicht sonderlich umfangreich, zumal am Anfang 7 Seiten mit Einführung, Komponenten und Aufbau gefüllt werden. Leider macht es den Einstieg nicht ganz leicht. Grundsätzlich ist schon alles an Erklärungen drin, was man braucht, um das Spiel zu spielen. Aber einige Regeln bleiben vage, dabei hätte oft auch nur ein Satz der Klarstellung geholfen. So heißt es beispielsweise, dass die Kinder während der Adventure Phase ihre Zeit-Marker nutzen, um Aktionen durchzuführen. Doch obwohl es einen „First Player“ gibt, steht nirgendwo, ob man reihum im Uhrzeigersinn, in beliebiger Reihenfolge oder gar völlig frei und durcheinander seine Aktionen nehmen darf. Letzteres ist richtig, aber das kann man sich nur im Ausschlussverfahren erschließen. Eben weil nirgendwo etwas von „reihum“ oder „ein Kind muss alle Aktionen nehmen, bevor das nächste dran ist“ steht, muss wohl „alle dürfen durcheinander“ richtig sein. Gleiches gilt etwas bei den Regeln für das Helfen bei Tests. Oft muss ein Kind einen Test auf ein Eigenschaft durchführen. Dabei können bis zu zwei helfen. Müssen die dafür Zeit aufwenden? Nein, sonst würde es dort ja stehen. Bekommen die dafür auch eine Belohnung? Nein, sonst würde es ja da stehen. Ähnlich vermag die Einheit „Enigma“, die zusammen mit „Insight“ während einer Partie mithilfe eines Drehrads am Spielbrett hochgezählt wird, verwirren. Insight ist grundsätzlich gut, Enigma schlecht. Aber was passiert eigentlich, wenn Enigma die letzte Ziffer 18 erreicht hat? Offenbar nichts, sonst würde es ja irgendwo stehen. Und wieso hat Enigma in manchen Szenarien überhaupt keine Folgen, obwohl es hochgezählt wird? Ist einfach so, vielleicht soll man als Spieler Angst haben, dass was passieren könnte. Ihr seht, worauf ich hinaus will: Auch Negativerklärungen, also „kostet nichts, bringt nichts, spielt manchmal keine Rolle“, sind mitunter hilfreich zum Spielverständnis. Hier fehlen sie praktisch völlig. Das mag ökonomisch sein, aber man muss sich erstmal reinfinden.
Dabei sind die Regeln gar nicht so schwierig. Zuerst wählt man sich je eins von acht spielbaren Kindern. Dann gemeinsam eins von sieben Szenarios. Das bestimmt die „Diary Cards“, welche nach und nach die Geschichte erzählen werden, außerdem einen Teil der „Rumor Cars“, die unvorhergesehene Ereignisse repräsentieren. „Item Cards“ und „Anomaly Card“, die man als Belohnung erhalten kann, werden gemischt, dann die Figuren platziert sowie die sich zufällig übers Spielbrett bewegenden Bots. Danach bekommt noch jedes Kind sechs „Time Cubes“ (die Währung, um Aktionen durchzuführen), einen „Favor Cube“ (wie gut steht man bei seinen Alten da) und eine Hausaufgabe („Chores“) für die erste Spielwoche. Die „School Cards“ werden gemischt – und los geht’s.
Eine Partie dauert – je nach Szenario – ein bis zwei Spielwochen, die aus jeweils fünf Schultagen und einer langen Wochenendrunde bestehen (Achtung! Die zwei Tage werden nicht einzeln abgehandelt. Auch so ein Fall, der nirgendwo explizit steht, aber man erkennt es, trotz Markierungen für Samstag und Sonntag, an dem einen, ununterbrochenen Wochenendfeld und dem Nebensatz „The weekend is a special round.“) Gespielt wird in Runden, die aus drei Phasen bestehen: der „School Phase“, der „Adventure Phase“ und der „End Phase“. In der School Phase wird die aktuelle Diary Card auf mögliche Effekte überprüft, die Time Cubes werden aus dem Feld auf der Charakterkarte für genutzte Actions entfernt und wieder in den eigenen Pool „freier Zeit“ gelegt. Außerdem werden alle Rumor Cards so weit wie möglich nach rechts auf der Rumor-Leiste verschoben, um Platz für neue zu schaffen. Ist zufällig Montag der zweiten Woche, bekommt jedes Kind eine neue Aufgabe („Chores“).
Dann wird eine School Card gezogen, die den Schultag abhandelt. Die bewirkt ein kleines Event, beispielsweise kann man den Vertretungslehrer bequatschen, früher aus der Schule zu kommen, oder ein Trödler verkauft Flohmarktwaren am Schulhofrand. Außerdem werden neue Rumor Cards gezogen und platziert, wodurch gegebenenfalls alte von der Leiste geschoben werden, was das Enigma-Rad hochdreht. Schließlich bewegen sich die Bots nach bestimmtem Muster oder kehren aufs Spielbrett zurück, wenn sie zuvor kaputt waren oder ein Firmware-Upgrade abgeschlossen haben.
Dann ist endlich Nachmittag und die Kids gehen auf Tour. Alle Spielenden können völlig durcheinander Time Cubes einsetzen, um Aktionen durchzuführen. So kann man zum Beispiel zur Nachbar-Location laufen, man kann mit dem Bus fahren, sich von den Eltern irgendwohin kutschieren lassen (was den Wert „Favor“ senkt), man kann Bots und Rumor Cards auskundschaften und so erfahren, welche Firewalls sie haben beziehungsweise was einen bei dem Gerücht erwartet. Man kann ermitteln und so eine Rumor Card abhandeln, was meist mit einem Test verbunden ist, der im Erfolgsfall gern ein Item abwirft und im Fall eines Versagens negative Zustände („Exhausted“, „Upset“, „Scared“ oder gar „Injured“) zur Folge hat. Man kann untereinander handeln, Bots hacken (elend schwer) und Spezialaktionen durchführen, die womöglich auf Karten stehen.
Proben werden auf eine von fünf Eigenschaften ausgeführt: brave, clever, charming, quick und tough. Der Grundwert sind drei sechsseitige Würfel. Jedes Kind hat eine Stärke und eine Schwäche unter diesen Eigenschaften, die – je nach Spielerzahl – ein bis zwei Würfel addieren oder abziehen. Helfende Freunde und passende Gegenstände addieren auch jeweils einen Würfel. So wirft man am Ende zwischen einem und acht Würfeln und muss eine 6 erreichen. Damit ist die Probe erfolgreich gewesen. Versagt man, kann man eine Time Cube einsetzen, um die Probe zu „pushen“. Der kommt auf die nächste freie „Condition“, also den negativen Zustand, danach darf man den kompletten Wurf wiederholen. Sich anzustrengen, kann also erschöpfen, verärgern, verängstigen und sogar verletzen!
Das Hacken von Bots ist eine Mini-Spiel für sich. Jeder Bot hat zwei bis vier Hacking Slot, auf die zufällig gezogene Hack Tokens platziert werden (entweder durch die „Scout“-Aktion oder durch „Investigate“). Diese haben zwei Effekte, je nachdem, ob die Maschine entspannt ist oder im Alarmzustand. Alle Proben und Effekte der Hack Tokens müssen von links nach rechts bestanden oder überwunden werden, bevor ein Bot gehackt ist. Das ist heftig und lohnt sich „aus Spaß“ eigentlich nie, zumal die Reaktionen der Maschinen auf einen fehlgeschlagenen Hack immer deutlich sind. Es kann sein, dass ein Szenario einen dazu zwingt, ansonsten fährt man in der Regel besser, Bots zu meiden. Ein gehackter Bot wird vom Lead Hacker (also dem, der alle Proben durchgeführt hat) übernommen und wie ein Gefährte mitgeführt. Er kann Kinder tragen und hilft durch ein spezielles Keyword bei Proben. Allerdings findet in gefühlt jeder zweiten bis dritten School Phase ein Reboot der Bots statt, dann ist man ihn wieder los. Viel Aufwand für vergleichsweise wenig Effekt also.
In der „End Phase“ heißt es, „home for dinner“ zu sein, sonst gibt’s Ärger mit den Eltern, was im schlimmsten Fall zu Hausarrest führen kann, was zwei Time Cubes abzieht, bis man wieder gelernt hat, sich zu benehmen. Außerdem heilen Verletzungen langsam.
So spielt man von Runde zu Runde, löst Rätsel, findet Gegenstände und folgt der sukzessive erzählten Geschichte bis zu einem guten oder einem mäßig guten Ende. Sterben können die Kids aber nicht. Man kriegt schlimmstenfalls Ärger oder landet im Krankenhaus. So viel „Goonies“-Feeling muss sein. Insgesamt trifft das ganze Spiel seine gewünschte Atmosphäre außerordentlich gut. Man fühlt sich wirklich in die Rolle von Kindern versetzt, die Ärger mit der Schule haben, Abenteuer erleben wollen und am Ende des Tages hektisch in die Pedale treten, um noch pünktlich zuhause zu sein. Das macht Spaß – wenn man mal all die Verständnisfragen am Anfang bewältigt hat.
Das Spiel ist allerdings recht glückslastig. Zufällig gezogene Rumor und School Cards können Probleme bereiten, zufällige Items nicht den gewünschten Nutzen bringen. Zufällige Hack Tokens mögen das Hacken eines Bots schier unmöglich erscheinen lassen. Zudem wird sehr viel gewürfelt. Auf dem Papier stehen bei jeder Probe die Erfolgschancen zwischen 17 und 93%, aber ihr wisst ja, wie das ist. Ein mieser Wurf kommt immer dann, wenn man ihn gar nicht brauchen kann, auch wenn man sieben Würfel hatte und die Probe gepusht hat. Da zudem die Spielzeit eher knapp bemessen ist, kann man auch nicht immer auf helfende Freunde warten und die richtigen Gegenstände ertauschen. Das Abenteurerleben ist eben kein Ponyhof und aufgeschürfte Knie gehören ebenso dazu wie nächtliche Albträume.
Fazit: „Tales from the Loop – The Boardgame“ fängt seine Atmosphäre perfekt ein. Die Optik, die Storys, die Spielmechanismen … man fühlt sich wie in seinem eigenen Spielberg-Film der 80er, wenn man nach der Schule mit dem Rad oder Bus loszieht, um unheimlichen Gerüchten oder geheimnisvollen Rätseln auf den Grund zu gehen. Das Regelwerk ist leider nicht frei von Unklarheiten und man muss mit dem hohen Glücksfaktor leben können. Für Fans von 80er-Jahre-Mysterys ist das Spiel dennoch absolut zu empfehlen.
Tales from the Loop – The Boardgame
Brettspiel für 1 bis 5 Spieler ab 12 Jahren
Martin Takaichi, Rickard Antroia, Simon Stålenhag
Free League 2022
EAN: 7350105220371
Sprache: Englisch
Preis: EUR 69,99
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