Star Wars Marvel Comics-Kollektion 72: Der Aufstieg Kylo Rens

Er war die vielleicht tragischste Gestalt der Sequel-Trilogie: Kylo Ren, alias Ben Solo, Sohn von Han und Leia, Enkel von Darth Vader, ein Erbe der Macht (im doppelten Wortsinne) und ein zorniger, junger Mann, der verbissen versuchte, die Vergangenheit auszulöschen, um seinen Platz in der Gegenwart zu finden. Doch wie wurde aus Ben eigentlich Kylo? Autor Charles Soule versucht sich in einer Erklärung.

von Frank Stein

Der 72. Band der „Star Wars Marvel Comics-Kollektion“ versammelt die US-Comic-Hefte „The Rise of Kylo Ren #1-#4“, die zwischen Dezember 2019 und März 2020 erschienen sind und eine in sich abgeschlossene Geschichte bilden. Geschrieben wurden die Comics von Charles Soule, die Illustrationen stammen von Will Sliney. Koloriert wurden beide Comics von Guru-EFX. Ein bewährtes Team. Auf Deutsch ist die Sammlung bei Panini bereits im Februar 2021 als Softcover- und limitierter Hardcover-Sonderband herausgekommen.

Inhaltlich ist der Comic gleichzeitig interessant und unbefriedigend. Interessant ist er, weil er eine drängende inhaltliche Lücke schließt. Er beantwortet – zumindest in Teilen – die Frage, wie Ben Solo zu Kylo Ren wurde. Was passierte nach der fatalen Nacht, in der er mit seinem Lehrer Luke zusammenstieß und dabei den Jedi-Tempel niederbrannte? Wie kam er zu den Rittern von Ren und wer sind die überhaupt? Das gut und auch durchaus emotional dargestellt. Man merkt von Anfang an: Ben Solo ist nicht von Grund auf böse. Er ist vielmehr ein innerlich zerrissener junger Mann, der sich von der Last seines Erbes erdrückt fühlt und aufgrund einer ungesunden Fixierung auf seinen Großvater fürchtet, unweigerlich der Dunkelheit verfallen zu müssen. Dass er obendrein eine kurze Zündschnur hat und immer wieder zu gewalttätigen Kurzschlusshandlungen neigt (erinnert auch ein bisschen an Anakin Skywalker vor seinem Fall), trägt das seine zum Erwachen von Kylo Ren bei. Tatsächlich geschieht der finale Übertritt zur Dunklen Seite fast genauso plötzlich und eruptiv wie bei Anakin; das muss irgendwie in der Natur der Sache liegen. Lange Zeit nagt die Finsternis an einem, schließlich – klick – wird brutal ein Schalter umgelegt. Und dann bringt man auch seine ehemaligen Mit-Jedi um, das kennen wir ebenfalls von Anakin. Hier wird es nun im Kleinen wiederholt.

Unbefriedigend ist der Comic für mich auf der anderen Seite, weil er eigentlich zu kurz ist. So hätte ich mir etwas mehr Zeit im Jedi-Tempel gewünscht. Denn wie kommt es eigentlich so weit, dass Luke Skywalker, das Gute in Person, einen schwachen Moment lang glaubt, die Welt von Ben Solo erlösen zu müssen? Wie gestaltet sich Bens Kindheit unter Leia und Han? Ab wann beginnt seine Fixierung auf die von Vader verkörperte Dunkelheit? Ein etwas genauerer Blick in Bens Psyche wäre hier interessant gewesen. So beginnt der Comic quasi schon mit der Katastrophe und zeichnet nur einen relativ kurzen, steilen Weg in die Dunkelheit nach, also wie aus Ben konkret Kylo Ren wurde. Etwas mehr Raum hätten auch die drei Jedi-Schüler verdient, die Ben nach der Zerstörung des Jedi-Tempels nachjagen. Denn obwohl sie rudimentär charakterisiert werden, bleiben sie einem eher fremd und ihr Tod ein nötiges Mittel zum Zweck, Bens Stolpern in Richtung Dunkler Seite zu illustrieren.

Nett für Kenner sind ein paar kleine Verweise an das Großprojekt „Die Hohe Republik“. So versteckt sich Bens (offenbar langjähriger) Mentor Snoke zu der Zeit von Bens Fall in der alten Raumstation der Amaxinen, die in dem Roman „Star Wars – Die Hohe Republik: In die Dunkelheit“ eine wichtige Rolle als Quelle der Drengir-Invasion spielt. Außerdem wird ein Ausflug von Luke Skywalker, Lor San Tekka und dem jungen Ben nach Elpherona erzählt, wo sie einen alten Jedi-Tempel finden, der knapp 300 Jahre früher, in dem Roman „Star Wars – Die Hohe Republik: Das Licht der Jedi“, die Heimat der Jedi  Porter Engle, Loden Greatstorm, Bell Zettifar, und Indeera Stokes ist. Auch der Bergbaumond von Mimban, der Schauplatz des finalen Aufstiegs von Kylo Ren, liegt einer Stätte von historischer Bedeutung zumindest nahe: Der Planet Mimban stammt bereits aus frühen Drehbuchentwürfen von George Lucas für „Star Wars“, und er hatte sein Debüt in dem alten Alan-Dean-Foster-Roman „Splinter of the Mind’s Eye“ von 1978. Später war er unter anderem Kriegsschauplatz in dem Film „Solo: A Star Wars Story“, was irgendwie passend erscheint. Der Ort, an dem Han Solo durch die Hölle ging, wird zum Schauplatz des Sündenfalls für Ben Solo.

Visuell weiß der Comic absolut zu gefallen. Will Sliney trifft die Figuren fast durch die Bank sehr gut und realitätsnah, und die Farben von Guru EFX sind einmal mehr voller Leuchtkraft und atmosphärisch stark. Es mag kein Kunstwerk unter den „Star Wars“-Comics sein – davon gibt es in der Tat nur extrem wenige –, aber das Niveau ist hoch und rundum ansprechend.

Das Drumherum entspricht der „Star Wars Marvel Comics Kollektion“. Das Vorwort erinnert an die Filmmomente, die zu diesem Comic geführt haben. Begleitet wird der Text passend von einem Cover von „The Rise of Kylo Ren #3“. Die Cover-Galerie am Ende bietet alle vier Cover auf vier Einzelseiten. Sehr erfreulich.

Fazit: „Der Aufstieg Kylo Rens“ schließt eine wichtige Lücke, die in der Sequel-Film-Trilogie verblieben war, und gibt ein paar Antworten, nicht zuletzt zu den ominösen Rittern von Ren. Allerdings bleiben durchaus Fragen offen, gerade was die psychologische Entwicklung von Ben Solo angeht. Hier wäre etwas mehr Erzählraum wünschenswert gewesen. Trotzdem ein gelungener Comic, auch visuell, der allen Fans zu empfehlen ist, die an der Sequel-Ära im Allgemeinen und der Figur des Ben Solo alias Kylo Ren im Besonderen interessiert sind.

Star Wars Marvel Comics-Kollektion 72: Der Aufstieg Kylo Rens
Comic
Charles Soule, Will Sliney, Guru EFX
Panini Comics 2024
ISBN: 978-3-7416-3785-8
114 S., Hardcover, deutsch
Preis: 16,99 EUR

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