Spycraft - d20 System Espionage Role-Playing Game

Der Wettlauf auf die Genres für das d20-System ist voll im Gang. Fantasy, Science Fiction und Wildwest sind bereits mit Spielen wie "Kingdoms of Kalamar", "Sovereign Stone", "Scarred Lands", "Wheel of Time", "Star Wars", "Fading Suns" und "Deadlands" belegt. "Call of Cthulhu" schickt sich an, das führende d20-Horror-Rollenspiel zu werden, da bleibt eigentlich nicht mehr viel übrig, um neue Genres zu erschließen. "Spycraft" füllt nun die Lücke, die bisher beim Agenten-Rollenspiel klaffte und erschließt damit ein Genre, das bislang auf dem Rollenspielmarkt nicht Fuß fassen konnte, was erstaunlich ist. In anderen Medien wie Film, Computer-Spiel und Roman sind Agenten-Stories immerhin sehr beliebt.

von Marcus Johanus

 

Aber AEG wagt den Schritt mit "Spycraft" trotzdem. Mit beiden Füßen springt der Verlag von "Legend of the Five Rings" und "7th Sea" knietief ins Agententhriller- und Action-Genre. "Spycraft" ist kein eigenes, komplettes Rollenspiel, sondern beansprucht, wie "D&D" für Fantasy, ein universelles Regelwerk für Spionagethriller jeder Art zu sein. Deswegen liefert dieses Buch auch keine Weltenbeschreibungen eines konkreten Kampagnenhintergrundes, an dem man sich nur noch bedienen muss. Statt dessen wird auf das Folgeprodukt "Shadowforce Archer" verwiesen.

Bleiben wir aber bei "Spycraft". Das Buch bietet im Prinzip nichts weiter als eine Variante der bekannten "D&D"-Regeln, die speziell auf einen cinematischen, actionreichen Spielstil hin überholt und für ein Spiel ein modernes Setting optimiert wurden. Einige Teile der "D&D"-Regeln werden über Bord geworfen oder stark verändert. Es gibt bei "Spycraft" zwar nach wie vor Klassen und Stufen, aber keine Rassen. An ihre Stelle treten die Departments, die Organisationen, denen man als Agent angehören kann.

Das Trefferpunkte-System von "D&D" wird durch das Vitality-Points/Wound-Points-System aus "Star Wars" ausgetauscht. Eigentlich erstaunlich, denn das Hit-Point-System von "D&D" bringt auf Dauer wesentlich stärkere Charaktere hervor und ist einfacher. Hier zeigt sich bereits, dass "Spycraft" zwar ein cinematisches, aber kein schnelles und einfaches System ist. Spielercharaktere besitzen Vitality-Points, die mit einem bestimmten Würfel je nach Klasse mit Erreichen einer neuen Stufe ansteigen. Normale Treffer werden von diesen Vitality-Points abgezogen. Sinken diese auf Null, stirbt der Charakter nicht, ist aber so erschöpft, dass er nur noch eingeschränkt am Kampf teilnehmen kann. Die Hit-Points eines Spielercharakters entsprechen seiner Constitution und bleiben von Anfang an gleich, können also durch Erfahrung und Stufenanstieg nicht verbessert werden. Sie können nur durch kritische Treffer sinken. Erst wenn diese auf -10 fallen, ist der Charakter tot.

Dieses System ist zwar anschaulicher als das "D&D"-Hit-Point-System, weil man jederzeit genau weiß, ob man nur einen Streifschuss (Vitality-Point-Schaden) oder einen ernsthaften Treffer (Wound-Points-Schaden) hinnehmen musste. Schneller und cinematischer ist es allerdings nicht. Ob diese Regeländerung unbedingt nötig ist, um die "D&D"-Regeln einem modernen Hintergrund anzupassen, ist ebenfalls fragwürdig.

Ähnliches gilt für die neuen Regeln für Rüstungen. Rüstungen erhöhen nicht mehr die Armor-Class eines Charakters und machen ihn schwerer zu treffen, sondern werden vom Schaden abgezogen. Dieses System ist geringfügig komplizierter als das von "D&D". Angesichts der wahren Regelflut von "Spycraft" erscheint diese Neuerung ein wenig übertrieben, da sie keinen besonders großen Einfluss auf den Spielablauf hat, außer, dass es nun noch einen zusätzlichen Modifikator gibt, der im Kampf einbezogen werden muss.

Vollkommen neu für das d20-System sind die beiden Eigenschaften "Inspiration" und "Education". Sie erinnern an den Ideen-Wurf und den Wissen-Wurf bei Cthulhu und dienen dazu, die Spieler mit Ideen und Informationen zu versorgen, falls sie im Abenteuer nicht weiter wissen. Hier wird deutlich, dass "Spycraft" kein Spiel für stundenlanges Rätseln und Ermitteln ist, sondern einen eindeutigen Schwerpunkt auf Action legt. Inspiration und Education können sehr nützliche Werte sein, wenn das Spiel einmal stockt, weil die Spieler wichtige Hinweise nicht mitbekommen oder der entscheidende Einfall im entscheidenden Moment fehlt. Die Eigenschaften werden wie Skills behandelt, was die Frage aufwirft, warum sie keine Skills sind. Interessanterweise hat man "Gather Information" und die vielen speziellen Knowledge-und Profession-Skills beibehalten und noch durch Hobby-Skills ergänzt. In "Spycraft" dürfte den Spielern nun also wirklich kein Hinweis mehr entgehen oder ein Mangel an Einfällen herrschen.

Eine weitere, wichtige Neuerung sind die Action-Dice, die vom Alderac-Spiel "7th Sea" inspiriert wurden. Action-Dice sind eine wahre Bereicherung für das d20-System.

Je nach Stufe besitzt ein Charakter pro Spielabend 3W4, 3W6, 3W8 oder 3W10 Action-Dice. Diese kann er einsetzen, um jegliche Art von Würfelwürfen zu seinen Gunsten zu manipulieren, um zu heilen oder um seine Rüstung zu verstärken. Man kann einen Action-Die auch opfern, um einen Inspiration-Check machen zu dürfen oder um einen Angriff in der Threat-Range einer Waffe zu einem kritischen Treffer zu machen. Der von "D&D" bekannte zweite Angriffs-Wurf entfällt bei "Spycraft". Kritische Treffer lassen sich - auch bei Skill-Checks - nur über Action-Die aktivieren.

Neu sind Critical Failures. Wann immer ein Spieler auf dem W20 eine 1 würfelt, hat er - analog zum Threat beim Critical Success - einen Error gewürfelt. Ob der Error auch zu einem Critical Failure wird, entscheidet der Spielleiter, indem er einen Action-Die ausgeben muss. Auch Spielleiter besitzen in "Spycraft" also Action-Dice. Allerdings verfügen sie immer über W12. Sie können diese genauso einsetzen wie die Spieler und erhalten pro Spielabend so viele Action-Dice wie der Spieler mit den meisten Action-Dice und noch einmal so viele wie es Spielercharaktere gibt. Eine Runde aus vier Spielern, in der ein Spieler vier Action-Dice zu Beginn besitzt, erhält der Spielleiter also acht W12 Action-Dice.

Action-Dice gehen aber nicht einfach so verloren, sondern können vom Spielleiter sozusagen als Zuckerle ausgeteilt werden, falls ihm eine Aktion eines Spielers besonders gut gefällt. Spielleiter werden stets bestrebt sein, viele Action-Dice an ihre Spieler zu verteilen, denn wann immer der Spielleiter einen Action-Die austeilt, darf er sich ebenfalls einen genehmigen. Allerdings kann ein Spieler nie mehr Action-Dice besitzen als am Anfang des Spielabends.

Die Action-Dice dienen ein weiteres Mal dazu, das Spiel in Gang zu halten und den Charakteren aus der Patsche zu helfen. Threats und Failures bringen zusätzliche Spannung und Unterhaltung ins Spiel. Außerdem ist die Möglichkeit, Spieler direkt und sofort im Spiel belohnen zu können, ein sehr gutes Mittel, um den Spielspaß zu fördern. Die Autoren von "Spycraft", haben im sowieso schon spielerorientierten d20-System noch mehr Macht in die Hände der Spieler gelegt. Warum dann allerdings der Spielleiter beispielsweise ebenfalls Action-Dice erhalten muss, ist fragwürdig. Immerhin wird das Spiel für den sowieso schon stark beschäftigten Spielleiter noch ein kleines Stück komplizierter. Zudem führt dieser Mechanismus zum Wettrüsten zwischen NSCs und SCs. Und Spielleiter haben im Zweifelsfall ja sowieso die Möglichkeit, im Sinne des Spielspaßes zu schummeln.

Zusätzlich hält "Spycraft" jede Menge neuer Feats, neue Regeln für Verfolgungsjagden, Kampfregeln und Ausrüstungsgegenstände bereit. Ein Kapitel über das Entwerfen und Leiten von Spionage-Abenteuern und -Kampagnen darf natürlich in einem Buch wie "Spycraft" nicht fehlen. Es fehlt auch nicht, fällt aber extrem dünn aus, sodass man tatsächlich auf "Shadowfist Archer" angewiesen ist, um mehr über die speziellen Gesetzmäßigkeiten des Agentengenres zu erfahren - vorausgesetzt, man hat nicht bereits in anderen Medien genug Erfahrungen gesammelt.

"Spycraft" macht im Prinzip einen sehr guten Eindruck. Die Regelteile sind sehr übersichtlich organisiert, besser als im "D&D"-Spieler-Handbuch. Das sieht man bereits am Charakterblatt, auf dem die wichtigsten Manöver im Kampf noch einmal abgedruckt sind. Das erleichtert das Spiel sehr und unterbindet häufiges Nachschlagen. Auch Mechanismen wie die Action-Dice oder die Eigenschaften Education und Inspiration, die das Spiel am Laufen halten und Langeweile unterbinden, sind gelungene Neuschöpfungen und gute Beiträge zum d20-System. Neue Beiträge wie Feats und die spezielle Ausrüstung für Agenten wirken durchdacht und sind sehr übersichtlich angeordnet. Viele Regeln aus "Spycraft" dürften in Zukunft über das Agenten-Genre hinaus Verwendung finden, denn das Regelbuch lohnt sich als Ideenpool für jeden d20-Spielleiter. Trotzdem kann "Spycraft" nicht ganz begeistern.

Wer bisher aufgrund des d6-Systems von West-End-Games' "Star Wars"-Rollenspiel gedacht hat, cinematisch bedeute auch immer gleich simpel und abstrakt, wird nun spätestens mit "Spycraft" eines besseren belehrt. Trotz gegenteiliger Versprechungen in der Einleitung sind die Regeln nicht einfach und schnell. Gerade die Regeln für Verfolgungsjagden, Autofeuer- oder Streufeuer-Optionen von automatischen Waffen sind zwar gelungen, wenn man komplexe Simulationen mag, aber dennoch alles andere als leicht und einprägsam. Beispielsweise bei der Autofeueroption muss man den genauen Munitionsstand einer Waffe die ganze Zeit im Kopf behalten. Das dient nicht gerade der Übersichtlichkeit des Spiels, zumal es im d20-System vor Modifikatoren, die man sich merken muss, geradezu wimmelt. Für Spieler dürfte sich die Regelflut noch in Grenzen halten, Spielleiter, die ja gerade im Kampf oder bei Verfolgungsjagden mehrere Charaktere verwalten müssen, dürften ohne Notizzettel bei "Spycraft" gar nicht mehr auskommen, wenn sie keine Gedächtniskünstler sind.

Ein bisschen enttäuschend ist auch das Layout. Es ist eher schlicht als überwältigend. Alles glänzt zwar schön, dafür gibt es aber nur Schwarzweiß-Illustrationen und diese sind selten, klein und teilweise eher unterer Standard.

Fazit: Wer das Genre mag und gerne "D&D" spielt, wird von "Spycraft" begeistert sein. Neue Spieler, die bislang kein Interesse am Agenten-Rollenspiel hatten oder die dem d20-System eher skeptisch gegenüberstehen, werden durch "Spycraft" wahrscheinlich auch nicht dazu gebracht, ihre Meinung zu ändern.


Spycraft RPG
Grundregelwerk
Patrick Kapera, Kevin Wilson
Alderac Entertainment 2003
ISBN: 1-887953-43-4
288 S., Hardcover, englisch
Preis: $ 34,95

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