Shadowrun Grundregelwerk – 4. Edition (überarbeitete Auflage)

Was würde passieren, wenn in unserer zunehmend technisierten und vernetzten Welt, in der das Geld regiert und die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht, plötzlich die längst abgetane Magie wieder erwachen würde? Das ist die Grundprämisse der Welt von „Shadowrun“ – einer faszinierenden Verschmelzung von Cyberpunk und Fantasy. Und das scheine nicht nur ich so zu sehen, denn sonst hätte ich hier wohl nicht die Jubiläumsausgabe der inzwischen 4. Version zum 20. Geburtstag von „Shadowrun“ in den Händen ...

von Daniel Urban

Wir schreiben das Jahr 2072. Die Regierungen sind nicht mehr die eigentlichen Machtfaktoren. Viele der großen Nationen, einschließlich Länder wie die USA und Deutschland, sind in viele kleinere und meist zerstrittene Staaten zerfallen. Aber damit nicht genug: Die großen internationalen Konzerne habe sich einen „exterritorialen“ Status erkämpft und unterliegen somit nicht mehr den Regeln und Gesetzen einzelner Nationen. Ebenfalls sehr mächtig sind diverse politische, magische und religiöse Gruppierungen.

Vor allem Stammeskulturen und Naturvölker – die großen Verlierer des 19. und 20. Jahrhunderts – haben durch das Wiederaufleben der Magie erneut an Einfluss und Unabhängigkeit gewonnen. Doch dies ist nicht die einzige Auswirkung der Magie. Das Erstarken magischer Kräfte führte auch dazu, dass zahlreiche Menschen – plötzlich und auch für sie selbst unerwartet – ihre wahre Gestalt zeigten und zu Orks, Zwergen, Elfen und Trollen mutierten.

Auch die Technologie hat Fortschritte gemacht. Das Internet (die „Matrix“) ist gewachsen und umspannt fast jeden Flecken auf dem Globus. Dabei ist beinah jedes elektronische Gerät schnurlos daran angeschlossen und lässt sich ebenfalls per Funk bedienen. Als Schnittstelle dient dabei das persönliche Kommlink – eine Mischung aus Taschencomputer, Handy, elektronischem Personalausweis und EC/Kreditkarte. Diese kleinen Geräte stehen in ständigem Informationsaustausch mit allen umliegenden an die Matrix angeschlossenen Geräten (also fast allen) und stellen dem Benutzer die erhaltenen Informationen über Displays, Spezialbrillen oder spezielle Kontaktlinsen dar. So nimmt der Benutzer nicht nur die bekannte physische Welt war, sondern auch die „erweiterte“ elektronische Realität („Augmented Reality“).

Wem das nicht reicht, der kann sich ein solches Kommlink auch direkt in den Schädel implantieren und neuronal mit dem Hirn verknüpft lassen. Dieser direkte Austausch per Gedanken bietet ganz neue Möglichkeiten, aber natürlich auch neue Gefahren. Nicht nur die Sinne der Menschen werden auf diese Weise erweitert, die Limitierungen des menschlichen Körpers werden ebenfalls durch elektronische (Cyberware) oder genetische (Bioware) Implantate aufgehoben.

Am extremsten ist die gesellschaftliche Lage in den großen Metropolen. Hier liegen die glitzernden Türme der Konzerne, die grünen Villenenklaven der Reichen und die heruntergekommenen Slums der Mittellosen oft nur wenige Hundert Meter auseinander. In diesen Städten findet man alles – jedes Vergnügen, jeden Luxus und jede Ware – legal oder illegal. Natürlich nur, wenn man dafür zahlen kann. Und auf diejenigen, die nicht zahlen können, lauert stattdessen an jeder Ecke, Gewalt, Hunger und Tod – und nach (oder auch vor) letzterem meist der Organhändler ...

Doch auch in dieser Welt gibt es Spielregeln, an die sich die Mächtigen halten müssen, um den Ausbruch des absoluten Chaos zu verhindern – zumindest nach außen hin. Deshalb entstand eine neue „Profession“: Shadowrunner. Diese Söldner, Hacker, freischaffenden Zauberer und sonstige Spezialisten verkaufen ihre Talente an die Mächtigen (meist Konzerne) und erledigen für diese die schmutzige (und illegale) Drecksarbeit. Wie ihr wahrscheinlich schon erraten habt, übernehmen die Spieler bei „Shadowrun“ die Rolle solcher Shadowrunner. Das heißt natürlich nicht, dass alle Shadowrunner skrupellose Söldner sind – viele versuchen, sich in diesem harten und brutalen Umfeld einen eigenen Ehren- und Moralcodex zu erhalten. Und so reicht denn auch die Spanne von gewissenlosen Killern bis hin zu modernen Robin Hoods. Dies wird übrigens auch von offizieller Seite unterstützt – zumindest in den Kaufabenteuern führt Moral zwar meist zu zusätzlichen Schwierigkeiten und dem Verlust von Geld, wird aber eigentlich immer mit zusätzlichen Erfahrungspunkten belohnt.

Der Fokus auf Shadowrunner stellt dabei nur auf den ersten Blick eine Beschränkung dar. Er gibt dem Spiel nicht nur ein gewisses Grundthema, sondern lässt auch noch mehr als genügend Freiraum für unterschiedlichste Spielrichtungen – egal ob Polit-Thriller, Krimi, Intrige, Mystery, Gangster oder Action...

Der äußere Eindruck

Das gebundene Buch umfasst 408 Seiten und weist neben einer stabil wirkenden Bindung auch ein sehr praktisches Lesebändchen auf. Insgesamt wirkt es robust und gut verarbeitet. Die Illustrationen sind wie das Titelbild farbig – auch wenn passend zur Atmosphäre des Szenarios dunkle Töne vorherrschen. Die Qualität der Illustrationen reicht dabei von „na ja“ bis hin zu „exzellent“ – ist aber natürlich immer Geschmackssache. Die meisten Illustrationen sind jedoch in meinen Augen durchaus gelungen und passen meist auch zum jeweiligen Kapitel. Einige der Bilder kenne ich aus der ursprünglichen Fassung von „Shadowrun 4.0“ oder aus noch älteren Publikationen, viele sind jedoch auch komplett neu.

Der Text ist klar strukturiert, mit gut abgegrenzten Kapitelüberschriften. Ebenfalls deutlich abgegrenzt sind die zahlreichen Kästchen mit praktischen und hilfreichen „Randnotizen“. Sehr störend (aber leider dem allgemeinen Trend folgend) finde ich die recht kleine Schriftgröße. Zugegeben, meine Augen sind nicht die besten, aber auch Normalsichtige dürften Schwierigkeiten haben, hier auf die Schnelle den gesuchten Abschnitt zu finden – besonders in einem atmosphärisch abgedunkelten Raum.

Was hat sich geändert?

Die Regeln basieren auf den Regeln der ursprünglichen „Shadowrun 4.0“-Ausgabe. Dabei wurden jedoch die bekannten Fehler korrigiert und die zahlreichen kleineren Regeländerungen/-ergänzungen aus den Errata-Dokumenten eingearbeitet. Außerdem wurden an einigen Stellen neue Regeloptionen eingefügt. Ebenfalls hinzugekommen sind einige Regeln aus alten Erweiterungsbänden (vor allem „Straßenmagie“), und einige problematische Abschnitte wurden hinsichtlich besserer Verständlichkeit überarbeitet. Zumindest gelten diese Unterschiede gegenüber meiner englischen „Shadowrun 4.0“-Version (1. Druckauflage), das Gesagte dürfte aber auch für die „alte“ deutsche „Shadowrun 4.0“-Version gelten.

Wer „Shadowrun 4.0“ schon besitzt, braucht das neue jedenfalls nicht zu kaufen. In diesem Fall reicht das kostenlose Update von der (englischen) „Shadowrun“-Internetseite. Das soll aber niemanden davon abhalten, sich trotzdem das neue Buch zuzulegen.

Charaktere

Für alle, die „Shadowrun 4.0“ noch nicht kennen, hier eine kurze Regelzusammenfassung:

Jeder Charakter verfügt über acht (selbsterklärende) Grundattribute: Konstitution, Geschicklichkeit, Reaktion, Stärke, Charisma, Intuition, Logik und Willenskraft. Hinzu kommen spezielle Attribute wie Edge (Glück/Heldenpotenzial) Initiative, Magie und Resonanz. Die letzten beiden werden nur für Charaktere mit speziellen Begabungen benötigt. Ein weiteres besonderes Attribut ist Essenz. Es gibt an, wie „natürlich“ der Charakter noch ist, und limitiert den Einbau von Cyberware. Essenzverlust reduziert zudem das magische Potenzial, was auch spieltechnisch allmächtige Cyber-Magier verhindert.

Gaben und Handicaps repräsentieren die üblichen Vor- und Nachteile. Bei den Fertigkeiten wird zwischen Aktionsfertigkeiten und Wissensfertigkeiten unterschieden. Erstere ermöglichen die Durchführung konkreter Handlungen/Aktionen, letztere dienen eher als Charakterhintergrund (und sind deshalb auch deutlich billiger). Besonders gelungen finde ich, dass Fertigkeiten entweder einzeln oder als Fertigkeitsgruppe gelernt werden können. Will man einfach nur klettern können, nimmt man die Fertigkeit Klettern – will man dagegen auch akrobatisch sein, gut Laufen und Schwimmen können, dann nimmt man die Athletik-Gruppe. Das ist zwar teurer als eine Fertigkeit zu nehmen, aber deutlich günstiger, als vier Fertigkeiten zu erlernen. So können auch „Allrounder“ erschaffen werden. Für echte Spezialisten gibt es dagegen Spezialisierungen – diese gewähren dem SC einen Bonus auf ein kleines Anwendungsgebiet der Fertigkeit, etwa „Wald“ für die Survival-Fertigkeit.

Ebenfalls sehr gelungen finde ich das System für Connections. Für Shadowrunner ist ein gutes Netzwerk von Connections unerlässlich – sie müssen immer am Puls des Geschehens bleiben, um erfolgreich zu sein (oder auch um einfach nur zu überleben). Jede Connection stellt ein Individuum dar und verfügt über zwei sehr wichtige Werte: Loyalität und Connection. Ersterer gibt an, wie loyal und zuverlässig die Connection gegenüber dem Charakter ist, letzteres wie gut verbunden und einflussreich die Connection ist. Für die Nutzung von Connections gibt es auch ein sehr gutes Regelsystem – vergleichsweise einfach und schnell und trotzdem sehr flexibel, ohne dem Spiel dabei im Weg zu sein.

Das System

Attribute und Fertigkeiten gehen bei Menschen jeweils von 1 bis 6, für Metamenschen (Orks, Elfen, Zwerge und Trolle) sind auch höhere Attribute möglich. Bei Proben wird meist ein Attribut mit einer Fertigkeit kombiniert und eine Anzahl Würfel gleich der Summe der beiden gewürfelt. Dabei kommen ausschließlich W6 zum Einsatz und jede gewürfelte 5 oder 6 ist ein Erfolg. Die Anzahl der Erfolge gibt an, wie gut die Aktion gelungen ist. Der Schwierigkeitsgrad einer Probe ist zum einen durch situationsabhängige Anpassungen des Würfelpools, zum anderen auch durch eine variable Anzahl benötigter Erfolge gegeben. Das ist zwar grundsätzlich okay, meiner Meinung nach hätte man sich hier aber auch auf ein Vorgehen beschränken können.

Sehr witzig sind die Patzer. Sobald mehr als die Hälfte der Würfel eine 1 zeigt, resultiert aus der Aktion ein Patzer. Das heißt nicht, dass diese nicht gelungen ist – es geht eben nur irgendetwas dabei schief. So könnte einem etwa beim Sprung von einem Dach auf ein anderes ein Gegenstand aus der Jackentasche des Charakters in den Abgrund fallen. Hier gibt es für den SL viel kreativen Spielraum für kleine Gemeinheiten...

Dieses eigentlich recht einfache Grundsystem bildet die Basis für die zahlreichen Untersysteme des Spiels, die natürlich alle vorhanden sind – egal ob Kampf, Schaden und Heilung, Magie, Matrix, Fahrzeuge und Drohnen, Sicherheitssysteme, Drogen und Gifte, Connections, Lebensstandard und Reputation – für alles gibt es entsprechende Regeln. Diese halten sich recht gut an das Basissystem und sind für sich gesehen nicht unnötig komplex – allerdings fällt doch eine gewisse Liebe zum Detail auf. Dies gilt insbesondere für die umfangreichen Ausrüstungslisten am Ende des Buches.

Die Magieregeln enthalten nicht nur die „klassische“ Spruchzauberei, sondern auch Regeln für das Beschwören von Natur- und Elementargeistern, für Adepten – die Kraft der Magie ihre körperlichen Fähigkeiten verbessern – und für den Astralraum. Letzteres ist eine eigene „Dimension“, die sich mit der physischen Welt überlappt und in der alles aus unserer Welt einen Schatten wirft – die allerdings auch noch deutlich über diese hinausgeht. Dies ist die Welt der Geister und der Magie.

Das Kapitel zur Matrix enthält umfassende Regeln für Augmented Reality, Virtual Reality und Hacking. Durch das Prinzip der Augmented Reality überlappen sich – im Gegensatz zu den Versionen 1 bis 3 von „Shadowrun“ – die physische Welt und die Matrix. Deshalb sind Hacker jetzt durchaus spielbare Charaktere, während zuvor immer zwischen dem eigentlichen Run und dem Matrix-Hack hin- und hergewechselt werden musste (oder der Hacker nur ein NSC war). Allerdings ist die Matrix durch ihre Allgegenwärtigkeit jetzt nicht nur für Hacker interessant – wie bereits heute mit dem Internet sollte sich eigentlich jeder ein wenig damit auskennen...

Fazit: Diese scheinbar widersprüchliche Verbindung von Cyberpunk, Fantasy und Realismus ist bestimmt nicht jedermanns Sache – wenn man sich jedoch darauf einlässt, wird man mit einem faszinierenden, vielschichtigen Setting belohnt. An der neusten Version gefällt mir dabei besonders, dass sie den Fokus etwas mehr auf den Aspekt Realismus legt – allerdings wird das Szenario dadurch nicht eben einfacher und überschaubarer.

Das Buch selbst ist solide, wenn auch nicht außergewöhnlich. Wirklich gestört hat mich eigentlich nur die winzige Schriftgröße. Dadurch bekommt man zwar mehr Inhalt fürs Geld, aber dafür wird das Lesen auch deutlich weniger entspannt.

Die Regeln sind eigentlich recht elegant, durch den Detailreichtum und die Komplexität des Settings gibt es jedoch einfach ziemlich viele davon. Wen das nicht abschreckt, der kann beruhigt zugreifen und erhält das meiner Meinung nach beste, ausgereifteste und umfassendste „Shadowrun“-Regelwerk aller Zeiten – des 20. Geburtstages würdig! Herzlichen Glückwunsch „Shadowrun“!


Shadowrun Grundregelwerk – 4. Edition (überarbeitete Auflage)
Grundregelwerk
Rob Boyle, Elissa Carey, Brian Cross u.a.
Pegasus Press 2009
ISBN 978-3-939794-82-0
408 Seiten, Hardcover, deutsch
Preis: EUR 39,95

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