Shadowrun 72: Kellan Colt 3: Fallen Angels

Wir kennen die junge Kellan Colt und ihre Leute – den Ork G-Dogg, den Trollmagier Lothan, den elfischen Straßensamurai Orion usw. – schon aus den Shadowrun-Romanen „Born to Run“ und „Giftmischer“. In diesen hatte sich Kellan, von Kansas City nach Seattle kommend, langsam einen Ruf als Runnerin erarbeitet, während sie gleichzeitig nach Spuren ihrer verschwundenen Mutter suchte. In „Fallen Angels“ begegnet Kellan ihrer Nemesis und bekommt endlich Antworten auf all ihre Fragen.

von Bernd Perplies

 

Der Deal klingt simpel und ist auch fast zu einfach durchgezogen: Die Straßenmagierin Kellan Colt und ihre Runnerkollegin Midnight, eine elfische Extraktionsspezialistin, brechen in eine Cyberklinik ein, um die Daten eines gewissen Toshiro Akimura zu löschen, der hier eine ganze Weile Kunde gewesen war. Der Mann soll einst ein großes Tier unter den Schiebern gewesen sein, der sogar für den Drachen Dunkelzahn gearbeitet hat. Doch dem scheint die ganze Aktion nicht so gefallen zu haben, denn plötzlich ist eine Bande Schlägertypen hinter Kellan her.

Um sich aus der Schusslinie zu bringen, nimmt Kellan gemeinsam mit dem Elf Orion, einem Ex-Mitglied der Seattler Straßengang „Ancients“ und zunehmend engen Freund der Magierin, das Angebot von Midnight an, einen Run im Elfenstaat Tir Tairngire durchzuziehen. Doch hier entwickeln sich die Dinge überhaupt nicht so, wie gedacht. Auf einmal suchen Kellan die Schatten der Vergangenheit heim und sie muss feststellen, dass Freundschaft in der Welt der Shadowrunner ein rares Gut ist.

An den ersten beiden Romanen von Stephen Kenson um die aufstrebende „Magieschleuder“ Kellan Colt hatten mich vor allem zwei Dinge gestört: die unglaubliche Naivität, mit der Landpommeranze Kellan die Dinge in Seattle anging, und, schlimmer noch, die Tatsache, dass sie damit ständig irgendwie durchkam. Die Schatten werden immer wieder als Asphaltdschungel beschrieben, in denen das Recht des Stärkeren herrscht. In Kellans Orbit jedoch kreisten stets eine ganze Riege gestandener Runner, die zwar, so argwöhnt man, jeder für sich mindestens ein bis zwei Klassen über ihr spielen, aber dennoch allzeit bereit und zur Stelle waren, der kleinen Kopf-durch-die-Wand-es-wird-schon-schiefgehen-Lady helfend zur Seite zu stehen. Das weckt natürlich ein warmes Gefühl im Leser – ah, Freundschaft zählt doch noch was –, aber auf der anderen Seite hatte man als Rollenspieler den Eindruck, eine arg romantisierte und verharmloste Version der Welt von 2063 vorgesetzt zu bekommen.

In „Fallen Angels“ ist das deutlich besser geworden. Es wirkt zwar noch immer so, als wäre Kellan – die schon ganz stolz auf sich ist, weil sie in einem Club mit dem Trollrausschmeißer per Du ist – der Spielball höherer Mächte in den Schatten (soll heißen, erfahrenerer Spieler im Geschäft um Geld, Wissen, Macht und Tod), und es wirkt zwar noch immer so, als würde mancher ihrer Runnerkollegen nach einem kleinen Nebengeschäft allzu schnell von einem schlechten Gewissen geplagt, das man doch tunlichst ablegen sollte, wenn man in den Schatten überleben will, aber alles in allem hat Kenson hier eine bessere Balance gefunden zwischen Verrat und Egoismus auf der einen Seite und Treue und Uneigennützigkeit auf der anderen.

Auch das Abenteuer selbst fesselt stärker als seine beiden Vorgänger. Häufiger als zuvor löst sich Kenson von seiner Protagonistin und verfolgt auch die Ränkespiele anderer Figuren in Hinterzimmern, schmutzigen Seitengassen und der virtuellen Welt der Matrix. Man hat nicht mehr nur das Gefühl, alles aus der Sicht Kellans zu erleben, sondern es deuten sich die komplexen Verstrickungen geschäftlicher und persönlicher Natur an, die hinter der Fassade aus Neonreklamen, Technomusik und Dauerregen existieren. Dadurch wird die Geschichte spannend, gegen Ende regelrecht dramatisch – nur der Epilog... na ja... da geht mit dem Autor wieder der Heile-Welt-Beschwörer durch.

Wie auch in den Romane zuvor basieren die Figuren auf dem „Shadowrun“-Großfigurenspiel „Shadowrun Duels“, das eine Weile von WizKids herausgegeben wurde, aber nach zwei Waves und vielleicht einem Dutzend Kämpfern wieder eingestellt wurde. Als bekanntes Gesicht taucht diesmal neu der „Street Deacon“ auf, eine Gestalt, die an die Cyborg-Version von Clint Eastwoods namenslosen Revolverhelden erinnert (zumindest im Figurenspiel). Im Roman entpuppt sie sich leider als erheblich weniger ominös und bedrohlich, eine kleine Enttäuschung – allerdings nur für Leute, die auch mit „Shadowrun Duels“ vertraut sind.

Fazit: „Fallen Angels“ ist ohne Zweifel der beste der bislang erschienen Romane um die Runnerin Kellan Colt. Man hat das Gefühl, als sei Autor Stephen Kenson nach zwei Abenteuern zu der Einsicht gelangt, dass Neulinge in die Welt von „Shadowrun“ – denn vor allem die erste Geschichte um Kellan Colt hatte deutlichen Einführungscharakter, inklusive Beschreibungen der Magie und Matrix – sich mittlerweile schon ganz gut eingelebt haben und langsam bereit sind für das „große Spiel“ – genau wie seine Romanheldin. Entsprechend wird die Welt diesmal schon härter und komplizierter präsentiert, auch wenn sich Kellan auf wahre Freunde nach wie vor verlassen kann. Ein Roman für „Runner“, für die selbst in der Welt von 2064 ein Glas eher halb voll als halb leer ist. ;-)
 
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Kellan Colt 3: Fallen Angels (Shadowrun-Roman Nr. 72)
Rollenspiel-Roman
Stephen Kenson
Fantasy Productions 2006
ISBN: 3-89064-549-6
351 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: EUR 9,00

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