Otherland: Der glücklichste tote Junge der Welt

Orlando Gardiner ist tot – doch dafür geht es ihm eigentlich ganz gut. Sein Bewusstsein lebt frei von allen körperlichen Gebrechen, unter denen er als todkranker Junge zu leiden hatte, im Otherland-Netzwerk weiter, jenem gewaltigen Verbund virtueller Welten, in dem eigentlich ein Zirkel Superreicher, die Gralsbruderschaft, zu Unsterblichkeit finden wollte. Diese war darin gescheitert, aber Orlando lebt – obwohl er tot ist – und ist glücklich. Mehr oder weniger…

von Bernd Perplies

 

Es ist schon eine unglaubliche Entwicklung. Eben noch war man ein Junge, dessen Lebenszeit durch beschleunigtes Altern auf einige wenige mühselige Jahre beschränkt war, auf einmal ist man ein unsterblicher Avatar seiner selbst, ein in virtuelle Welten transferiertes Bewusstsein, das gottähnliche Fähigkeiten besitzt. Orlando Gardiner hat das Beste aus den Unbillen gemacht, die das Schicksal für ihn bereithielt. Am Ende der unglaublichen Abenteuer, die er gemeinsam mit seinen Freunden Fredericks und Renie und !Xabbu (und wie sie alle hießen) im Otherland-Netzwerk erlebt hatte, war sein geschwächter Körper zwar gestorben, doch er selbst lebt als digitales Bewusstsein weiter.

Seitdem dient er Herrn Sellars und dem Milliardär Kunohara, den beiden Bewahrern und Erforschern des Netzwerks, als ausführende Instanz und Wächter innerhalb der virtuellen Welten. Er residiert in Tolkiens Bruchtal, nimmt an Sitzungen von weltenreisenden „Schatten“ der einstigen Gralsbruderschaft teil – virtuellen Duplikaten der Mitglieder des elitären Zirkels, die mittels Gateways zwischen den einzelnen Welten zu reisen vermögen, ansonsten aber harmlos sind – und gelegentlich trifft sich Orlando auch mit Freunden und seinen Eltern, um zu hören, was in der Wirklichkeit so passiert.

Diese Treffen gestalten sich mitunter etwas anstrengend. Sam Fredericks beispielsweise entwickelt sich langsam zu einer Frau, und die Freundschaft der beiden wird auf die Probe gestellt. Und Orlandos Eltern versuchen auf Gedeih und Verderb ihrem Sohn eine Art von Rückkehr in die Realität zu ermöglichen – was auch zu eher befremdlichen Momenten führt. Und obendrein entwickelt Beezle Bug, sein treuer Datenagent in Käferform, immer mehr Eigenheiten und absonderliche Wünsche. Doch dann nimmt Orlandos Un-Leben, das so glücklich nun auch wieder nicht ist – eine unerwartete Wende, als ein „Schatten“ von Avialle, der Tochter des einstigen Gralsherren Felix Jongleur, auftaucht und dem Jungen eröffnet, sie sei von ihm schwanger.

„Der glücklichste tote Junge der Welt“ ist eine Kurzgeschichte aus der Feder von Tad Williams und spielt einige Zeit nach den Ereignissen seiner monumentalen „Otherland“-Tetralogie. Auf zwei randvollen CDs als vollständige Lesung beim Hörverlag erschienen, bietet sie einen interessanten neuen Einblick in die Funktionsweise des superkomplexen virtuellen Weltenverbunds. Der Schwerpunkt liegt dabei allerdings vor allem auf dem Leben, das Orlando Gardiner „nach seinem Tod“ im Otherland-Netzwerk führt – wobei so banale Dinge wie stressigen Elternbesuchen und einer Geburtstagsfeier an Elronds Tafel durchaus Erzählzeit eingeräumt wird. Dann aber entspinnt sich ein filigranes Geflecht aus mysteriösen Begebenheiten, das am Ende zu einer zwar recht plötzlichen, aber dennoch faszinierenden Auflösung führt.

Gelesen wird die Geschichte von Matthias Koeberlin, der durchaus gekonnt seine Rolle des Orlando Gardiner wieder aufnimmt, den er bereits in dem kongenialen „Otherland“-Hörspiel gemimt hatte. Den anderen Figuren verleiht er mehr oder weniger prägnant Stimme und dadurch Gestalt. Er ist vielleicht nicht der größte Stimmenkünstler vor dem Herrn, aber man hört ihm auf jeden Fall gerne zu.

Das einzige echte Manko der Geschichte ist die für die tatsächlich präsentierte Handlung eigentlich etwas zu lange Spieldauer – ein paar der eher nebensächlichen Begebenheiten aus Orlandos Leben hätten knapper abgehandelt werden können. Aber jeder, der Tad Williams mal gelesen hat, weiß, dass ausschweifendes Erzählen geradezu sein Markenzeichen ist, sodass dies weniger der Hörspielproduktion als dem Autor angelastet werden muss. Die beste Herangehensweise ist hier wie immer: Nicht auf eine Auflösung hin die Geschichte konsumieren, sondern sich freuen, eine Zeit lang mit den Figuren Seite an Seite durch Williams Weltenschöpfung streifen zu dürfen.

Fazit: Die „Otherland“-Kurzgeschichte „Der glücklichste tote Junge der Welt“ erzählt auf detailfreudige, wenngleich stellenweise etwas langatmige Art und Weise vom Leben nach dem Tod des Orlando Gardiner und bietet streift dabei auch einige faszinierende Aspekte der Funktionsweise des unglaublichen Otherland-Netzwerks. Die Lesung von Matthias Koeberlin, die beim Hörverlag erschienen ist, lässt sich angenehm konsumieren und weckt Lust, gelegentlich mal wieder in das Mammutwerk „Otherland“ hineinzuschmökern oder hineinzuhören.


Otherland: Der glücklichste tote Junge der Welt
Hörbuch nach einer Kurzgeschichte von Tad Williams
Marlene Breuer
Hörverlag 2007
ISBN: 978-3-86717-056-7
2 CDs, 140 min., deutsch
Preis: EUR 19,95

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