Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Die Odyssee durch das Otherland-Netzwerk geht weiter für Renie, !Xabbu, Orlando, Fredericks und all die anderen, die der mysteriöse Herr Sellars zu sich gerufen hat, um das Geheimnis der im Koma liegenden Kinder und deren Verbindung zu dem virtuellen Spielplatz der supermächtigen Gralsbruderschaft zu ergründen. Dabei führen alle Wege Richtung Zentrum, zum Berg aus schwarzem Glas, wo der Eine liegt, der anders ist.

von Bernd Perplies

Auch der dritte Teil des vierteiligen Hörspiel-Zyklus nach Tad Williams‘ großartiger Roman-Tetralogie „Otherland“ setzt nahtlos fort, was „Stadt der goldenen Schatten“ begonnen und „Fluss aus blauem Feuer“ weitergesponnen hatte. Renie, !Xabbu und das virtuelle Mädchen Emily aus der Oz-Simulation, das jammernd an ihren Rockschößen hängt, finden in einer seltsam unfertigen Zwischendimension des Netzwerks Martine, Florimel, Sweet William, T4b und Quan Li wieder. Doch Sweet William, der agile Rentner im Gecken-Sim, ist tödlich verletzt, denn das Monster Dread, das einen der Sims der Gruppe übernommen hat, hat sich zu erkennen gegeben. Dread flieht mithilfe eines „Feuerzeugs“ durch ein Gateway, die anderen brauchen ein wenig länger, bevor sie ihm in die nächste Welt folgen können: eine gigantische Architekturfantasie, in der sich bis zum Horizont nahtlos Haus an Haus, Turm an Turm reihen und die gesamte Zivilisation in Hallen, Korridoren und Gewölben lebt. Während sie noch durch die Hauslandschaft wandern, wird Martine, die blinde Netzrechercheurin, entführt und die Gruppe begibt sich auf die Suche nach ihr.

Orlando und Fredericks kämpfen sich indes durch die virtuelle Wüste des alten Ägyptens, in der sie der gefallene, schakalköpfige Gott Upuaut hat sitzen lassen. Dabei entdecken sie eine gigantische, schwarze Pyramide, ein fremdartiges Konstrukt in der Simulation. Nur mit Mühe können sie sich dem unheimlichen Sog des Ortes entziehen und als sie wieder zu sich kommen, befinden sie sich in einer Stadt, in der Upuaut eine Revolution gegen Anubis (und damit Felix Jongleur, den Kopf der Gralsbruderschaft) angezettelt hat. Im Tempel des Re kämpfen sie und einige Angehörige der subversiven Kreis-Gemeinschaft, die ebenfalls gegen die skrupellosen Industriellen vorgehen, gegen Anubis Diener.

Letztendlich führen alle Wege in eine Simulation des mythischen Griechenlands, in der König Agamemnon und sein Heer vor den Mauern von Troja stehen. Hier treffen die Flüchtlinge alle wieder zusammen, wenngleich auch zunächst auf unterschiedlichen Seiten der Konfliktparteien, und hier schließt sich ihnen auch Paul Jonas an, der sich endlich zu erinnern beginnt, wer er einst war, auch wenn ihm nach wie vor unerklärlich ist, wie es ihn nach Otherland verschlagen hat. Inmitten der schlimmsten Schlachtengreuel tritt die Gruppe schließlich ihre finale Reise ins Zentrum des Systems an.

In der wirklichen Welt findet indes die Flucht der kleinen Christabel und ihrer Familie mit dem geheimnisvollen Herrn Sellars ein vergleichsweise rasches Ende, der Detektiv Decatur Ramsey scheint derweil auf wundersame Weise auf gleich mehreren Parties zu tanzen, wenn er mit Orlandos Käferagenten Beezle auf der Suche nach Hinweisen durch Midland streift, gleichzeitig in Kontakt mit der ruhelosen Netzunterhalterin Olga Pirofsky steht und als Anwalt von Christabels Vater, Major Sorenson, auftritt. Renies Vater Long Joseph Sulaweyo kehrt zu dem geheimen Stützpunkt zurück, wo seine Tochter und !Xabbu in Tanks liegend ans Netz angeschlossen sind und muss sich unvermittelt mit dunklen Gestalten am Eingangstor herumschlagen. Und die Cops Calliope Skouros und Stanley Chan verfolgen weiterhin ihren uralten Mordfall, der sie auf die Spur von Dread bringt, der unterdessen nach Mitteln und Wegen sucht, sich Otherland direkt auf der Programmebene untertan machen zu können.

Wie man sieht, büßt „Otherland“ auch im dritten Teil des vierteiligen Mammut-Hörspielprojekts, das Walter Adler im Auftrag des Hessischen Rundfunks und des Hörverlags realisierte, auf keinste Weise an Komplexität ein. Ein Quereinstieg ist praktisch unmöglich, selbst ein Hören in zu großen Etappen führt mitunter dazu, dass man sich am Ende nicht mehr erinnert, was am Anfang passierte – ging mir so, als ich mich dransetzen wollte, für diese Rezension den Inhalt zu rekapitulieren. Man merkt dann doch, dass 3500 Seiten vielschichtige Weltenbeschreibung selbst bei unglaublichen 24 Stunden Gesamtspielzeit nur unter Kürzungen zu adaptieren sind, was widerum zur Folge hat, dass manche Episoden allzu rasch und verknappt erzählt werden müssen. Hier gewinnt deutlich, wer die Roman-Tetralogie noch im Kopf präsent hat.

Das soll hingegen nicht bedeuten, „Otherland“ wäre ein misslungenes Projekt. Im Gegenteil! Die Lobeshymnen auf die technische Umsetzung, die ich bereits auf „Stadt der goldenen Schatten“ und „Fluss aus blauem Feuer“ angestimmt habe, gelten uneingeschränkt auch für „Berg aus schwarzem Glas“. Von wenigen Ausnahmen abgesehen – meiner Meinung nach war etwa Sophie Rois immer etwas zu kratzbürstig für die Figur der Renie Sulaweyo und Sylvester Groth immer etwas zu ausdrucksarm für Paul Jonas – erwecken die Stimmen der Sprecher die Charaktere plastisch zum Leben, die Tonkulisse ist von einer Experimentierfreude und einem akustischen Reichtum, der seinesgleichen sucht und die Musik, wenn auch oft sehr leise, bildet als Untermalung der Szenerie das i-Tüpfelchen der ausgebreiteten Hörlandschaft. Passend zur Buchmesse im Oktober erscheint übrigens das abschließende Kapitel „Meer des silbernen Lichts“ – dann kann es endlich losgehen mit „Otherland“-Hörmarathons einmal rund um die Uhr.

Fazit: „Otherland“ ist und bleibt auch im dritten Teil der vierteiligen Hörspielreihe eine außerordentlich komplexe und gleichzeitig außerordentlich beeindruckende Geschichtencollage fürs Ohr, die Tad Williams fantasievollen Genremix aus Science-Fiction, Fantasy, Mythos, Thriller und Groteske vortrefflich umsetzt und den Hörer für Stunden vor den CD-Spieler zu bannen vermag. Wer sich von den Vorstellungen einer gradlinigen Story zu verabschieden vermag und bereit ist, es tapfer auch mit zehn Parallelhandlungen aufzunehmen, der wird mit einem spannenden Hörerleben belohnt.


Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
Hörspiel nach dem Roman von Tad Williams
Walter Adler
Hörverlag 2005
ISBN: 3-89940-115-8
6 CDs, 330 min., deutsch
Preis: EUR 29,95

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