von LarsB
Nach „Tainted Grail“ und „Etherfields“ hat Awaken Realms das nächste epische Werk über ein mit fast 12 Millionen US-Dollar finanziertes Crowdfunding-Projekt realisiert. „ISS Vanguard“ wurde nun auch dank fleißiger Übersetzungsarbeit bei Pegasus in deutscher Sprache veröffentlicht.
Das Spielmaterial
Die Spieleschachtel von „ISS Vanguard“ ist wirklich riesig – und mit fast 7 kg wirklich schwer. Kein Wunder. Die Schachtel ist randvoll gefüllt. Inlays sorgen für notwendige Ordnung. In meiner Schachtel war leider ein Inlaydeckel beschädigt. Nicht schlimm – es gibt ja Tesafilm. Der Spiele-Ästhet könnte sich aber an Awaken Realms wenden, die meine ins ungarisch übersetzte Sternenkarte übrigens freundlich ausgetauscht haben.
Die ersten Seiten des Regelbuchs beschreiben vorbildlich, wie die Spielkarten in die Kartenboxen einzusortieren sind. Alleine dieses Vorspiel dauert locker ein bis zwei Stunden und gibt einen Ausblick auf das, was da noch kommt. Unglaublich viele Marker, Standees, 75 customized Würfel, Karten-Sleeves und gleich ein ganzer Haufen Hefte liegen bei. Selbst dem hartgesottenen Spieleliebhaber treibt das einen Krug Angstschweiß auf die Stirn. Alle Materialien machen einen sehr guten Eindruck. Die Miniaturen liegen in speziellen Kompartments bei und sind in Ordnung, auch wenn sie nicht ganz mit Miniaturen aus Referenzprodukten (vgl. CMON) mithalten kann. Die Illustrationen auf den Karten sind hervorragend.
Die Anleitung ist so gegliedert, dass der Spieler in einer geskripteten Einführungsmission die ersten Spielregeln erlernt. Das funktioniert ganz gut. In einem weiteren Teil der Anleitung werden dann die in den nächsten Missionen folgenden Spielekonzepte und Regeln Stück für Stück erklärt. Diese Regelabschnitte soll man dann lesen, wenn sie relevant werden. Die nächsten Partien werden so zu einer Mischung aus Lernpartie und Realeinsatz. Schließlich gibt es noch eine ausführliche Symbolerklärung, die im weiteren Verlauf des Spiels Orientierung geben soll. Auch eine Spielhilfe gibt es in Form von Spielkarten in großem Format. Hier wird insbesondere die komplexe Rundenstruktur der Planetenphase dargestellt. Neben der Planetenphase gibt es auch eine Schiffsphase. Hier gibt ein ganzes Ringbuch Orientierung über den Ablauf. Abgefahren!
Der Spielablauf
„ISS Vanguard“ gliedert sich in zwei Phasen: die Planetenphase und die Schiffsphase. Wie man von der einen in die andere Phase navigiert, verrät einem das Ringbuch. Und das zeigt schon, dass es sich hier um sehr vielschichtige und kleinteilige Abläufe handelt. Aber alle Abläufe sind eben auch sehr thematisch.
Haben wir uns für ein Sternensystem entschieden, das wir anfliegen, können wir dort einen Planeten besuchen. Dazu stellen wir eine Crew mit unterschiedlichen Charakteren, Rollen und Befähigungsstufen zusammen. Diese Crew statten wir mit Equipment aus und stecken sie dann in ein Raumschiff, das wir auch ausstatten. Natürlich wählen wir das Raumschiff vorher aus. Anfangs haben wir aber nur einen Lander. Das alles tun wir auf Basis unserer geschehenen Voraberkundung, für die wir in der vorherigen Partie gewonnene Ressourcen ausgeben. Dann spielen wir die Landung und bekommen ein Gefühl dafür, wie passend die Wahl unseres Landegefährts war. Mit entsprechenden Beschädigungen, Beeinträchtigungen und Verletzungen muss unsere Landecrew dann auf dem Planeten umgehen. Damit verändert sich der Schwierigkeitsgrad der Mission.
Die Planeten findet man nicht nur am abendlichen Nachthimmel, sondern auch in der Planetopedia, dem entsprechenden Heft, welches man auf die richtige Seite blättert und auf dem Tisch auslegt. Damit ist die Aufbauzeit für die Planetenerkundungsphase hier beschleunigt. Es sind aber auch hier viele passende Karten aus den gut sortierten Kartenschachteln herauszusuchen und zu platzieren. Durch das Heft und die gute Sortierung in den Trays ist das allerdings wirklich gut gelöst. Zu den Karten zählen etwa die Ziele, die einem Orientierung geben, was auf der Landemission zu erreichen ist. Zusätzliche Sonderziele können dazu kommen. Und das Setting des Planeten ändert sich mit seiner Erkundung. Immer weitere Karten werden aufgedeckt, alte Karten überdeckt, Standees aufgestellt und wieder entfernt. Ich will damit sagen: Die Oberfläche des Planeten entwickelt sich der Story folgend dynamisch – in der Regel auf Basis unserer getroffenen Entscheidungen und erreichten Teil-Ziele.
In der Planetenphase von „ISS Vanguard“ spielen Würfel die Hauptrolle. Die auf den Planten ausliegenden Karten zeigen Aufgaben an. Diese werden durch das Erreichen von Würfelergebnissen gelöst. Dabei gibt es drei verschiedene Würfelfarben und auch die Symbole auf den Würfeln der gleichen Farbe sind in Teilen unterschiedlich. Man braucht also die richtigen Würfel zur richtigen Zeit am richtigen Ort – mit dem richtigen Würfelergebnis. Um letzteres zu erreichen, können die Würfel in gewissem Maß mit Handkarten manipuliert werden. Ereignisse werden manchmal auch erst nach mehreren erfolgreichen Würfelproben ausgelöst. Es gibt auch immer „schlechte“ Seiten auf einem Würfel, die je nach Aufgabe ungünstige Folgen auslösen können. Zu zweit ist man da als Crew solider aufgestellt als allein. Das Spiel bietet die Möglichkeit, sich gegenseitig zu unterstützen. Wie diese Unterstützung aussehen kann, hängt vom Charakter, den man auf die Erkundung geschickt hat, und der ihm zugewiesenen Rolle ab.
Ereignisse durch bestandene oder gescheiterte Würfelprüfungen führen dann zum Voranschreiten der Geschichte. Im Logbuch können bestimmte Abschnitte vom Spieler vorgelesen werden. Für mehr Immersion kann aber auch die zur Verfügung stehende App herangezogen werden, in der die Texte sehr professionell auf Englisch dargeboten werden. Darüber hinaus kann die App auch mit ihrem Soundtrack überzeugen. In den Textpassagen werden von den Spielern thematische Entscheidungen verlangt, die Auswirkungen auf den weiteren Verlauf der Geschichte haben, etwa „Sollen wir die gefundene Maschine zerstören oder versuchen sie abzubauen und mit aufs Schiff zu nehmen? Wir detektieren übrigens erhöhte Strahlenwerte …“ Die hervorragenden Illustrationen zahlen ganz klar ein auf.
Gleichzeitig ist die Anzahl der Würfel aber auch ein gloomhavenesker Timer. Mit jeder Pause, können wir vorher abgelegte Würfel wieder zugänglich machen. Ist die Ressource Proviant aber aufgebraucht, müssen wir dafür auch einen Würfel abgeben. Sind dem Crewmitglied die Würfel ausgegangen, endet die Geschichte für ihn. Dafür sieht das Ringbuch eine Ahnentafel vor.
Ein weiteres Beispiel für die Wandelbarkeit des Spiels sind die Reiseregeln, die je nach Umgebung unterschiedlich sein können. Die Regeln liegen in Form einer Karte auf dem Spielplan aus und beschreiben, was der Spieler tun muss, um auf dem besuchten Planeten von Ort zu Ort zu kommen. Durch Ereignisse oder abgelaufene Timer können sich diese Regeln im Laufe einer Partie ändern. Damit lässt sich eine Partie nie so genau kalkulieren. Ich kann eben nicht fünf Runden vor Ende der Planetenphase sicherstellen, dass mein Crewmitglied auf der letzten Rille beziehungsweise mit dem letzten Würfel noch den Lander erreicht. Das halte ich für sehr thematisch.
Sind die Missionsziele und auch der Lander erreicht, geht es zurück zum Ringbuch – äh – Mutterschiff. Es folgt die Schiffsphase, in der erbeutete Energiemarker zur Verbesserung von Aktionen ausgegeben werden können, das Raumschiff mit gefundenen Entdeckungen technologisch vorangebracht und ausgebaut werden kann. Auf diese Weise ist man dann für folgende Planentenerkundungen besser gewappnet. Das epische Ausmaß dieser Möglichkeiten lässt sich mit einem Blick auf die schiere Anzahl der Karten (über 1000!) erahnen. Die zurückgekehrte Crew muss ihre Verletzungen auf der Krankenstation auskurieren und steht dann erst für die übernächste Mission wieder zur Verfügung. Die Schiffsphase ist im Wesentlichen eine sehr ausgedehnte Verwaltungsphase, angereichert mit ein paar Entscheidungen. Ungeübte Gruppen verbringen allerdings allein damit wesentliche Teile ihres Spieleabends.
Das Spielgefühl
„ISS Vanguard“ möchte viel. Und entsprechend muss der Spieler auch viel investieren. Zunächst monetär bei Kauf dieses Spielegiganten und dann auch Zeit, um das Spiel vorzubereiten, zu erlernen und zu erleben. Gerade der letzte Punkt ist die absolute Stärke dieses Spiels. Die Geschichte, die sich aufbaut, ist ein Leckerbissen für jeden Sci-Fi-Fan. Nur baut sich diese Geschichte eben bloß auf, wenn man das Spiel regelfest und regelmäßig spielt. Die Kleinteiligkeit erschwert es dem Spieler, diesen Zen-Zustand zu erreichen. Ist man allerdings erstmal eins mit dem Spiel, entfaltet sich hier etwas Episches – nicht hinsichtlich der Spielemechanik. Die ist eher ein Vehikel, um die Geschichte zu erleben. Episch ist eben die Welt, falsch, das Universum, das man entdecken kann. Allein das Raumschiff ist so vielschichtig erweiterbar, dass die Raumschiffphase fast ein eigenes Spiel darstellt.
Die Raumschiffphase ist allerdings auch ein Knackpunkt. Planetenerkundung und Raumschiff an einem Spieleabend klappt nur in routinierten Kleingruppen. Ein Spieleabend nur mit der Raumschiffphase fühlt sich nach zu wenig an. Diese Hürde war mein Haupthindernis, um in das Spiel einzutauchen. Ungeübte Gruppen (also die außerhalb des Zen-Zustands) haben das Gefühl, in jeder Planetenphase einmal ein komplettes Regelheft durcharbeiten zu müssen. Das Ringbuch führt die Spielergruppe mit unglaublich viel und kleinem Text durch diesen Spielabschnitt. Eine gute Ikonografie wäre hier sehr hilfreich – eigentlich notwendig – gewesen.
Viel hilft, wenn man das Spiel bis zum nächsten Spieleabend auf dem Tisch liegen lassen kann. Auch das Abhandeln der Schiffsphase in Vorbereitung auf den Spieleabend wäre eine Möglichkeit, eine ganze Partie in einem Spieleabend erleben zu können.
Trägt denn die eigentliche Spielemechanik? Der Eurogamer würde hier wahrscheinlich mit dem Kopf schütteln. Die Mechanik ist per se nicht schlecht. Sie ist aber auf die ausgelegte Dauer der Geschichte zu repetitiv. Die Entscheidungen sind im Wesentlichen das Abwägen von Wahrscheinlichkeiten. Nehme ich einen weiteren Würfel dazu für die Würfelprobe? Warte ich auf ein weiteres Crewmitglied für die Prüfung für eine Unterstützung bei der Würfelprobe? Wann breche ich die Mission ab? Nehme ich mir Kreatur XY noch vor oder riskiere ich, sie bald wiederzusehen in einer noch unerfreulicheren Situation? Lasse ich Teile meiner Crew sterben für das größere Ziel?
Die Spielmechanik ist vielmehr das oben angesprochene Vehikel zum Erfahren der Story. Mit kleiner Spielerzahl (1 oder 2) bekommt man ein besseres Story-zu-Spiel-Verhältnis als mit 3 oder 4 Spielern. Schafft man mehrere Partien in der Woche, kommt man ebenfalls schneller durch das Spiel – einfach, weil man sich auch schnell durch die kleinteilige und kleintextige Schiffsphase bewegen kann.
Fazit: „ISS Vanguard“ kann insbesondere Story-affinen Spielern sehr ans Herz gelegt werden, wenn sie die Lust und die Möglichkeit haben, sich ausgiebig mit dem Spiel zu beschäftigen. Eine gewisse Leidensfähigkeit beziehungsweise Neugierde ist für das Erreichen des notwendigen ISS-Zen-Zustands Voraussetzung. Gerade mit der App entfaltet sich dann ein immenses und immersives Spielgefühl, welches durch die dynamische Spieleumgebung, die unzähligen Möglichkeiten zur Entwicklung des Raumschiffs und der Crew zu einem epischen und wahrhaft cineastischen Erlebnis werden kann. Das kennt man so auch von den anderen Awaken-Realms-Titeln.
ISS Vanguard
Brettspiel für 1 bis 4 Spieler ab 14 Jahren
Andrzej Betkiewicz, Krzysztof Piskorski, Pawe? Samborski, Marcin ?wierkot
Pegasus Spiele 2024
EAN: 5904689270370
Sprache: Deutsch
Preis: 169,90 EUR
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