Gruselkabinett 91: Mary Rose

Mit seiner 91. Episode begibt sich das „Gruselkabinett“ ins Großbritannien des frühen 20. Jahrhunderts und verarbeitet eine Vorlage von niemand Geringerem als dem Peter-Pan-Schöpfer James Matthew Barrie.

von Bastian Ludwig

Auf einer kleinen Insel inmitten eines schottischen Sees verschwindet die elfjährige Mary Rose. Als sie drei Wochen später wieder auftaucht, scheint für sie keine Zeit vergangen zu sein, sie kann sich auch nicht daran erinnern, überhaupt verschwunden gewesen zu sein. Dieses Mysterium wird die Familie von Mary Rose noch für Jahre begleiten.

„Gruselkabinett 91: Mary Rose“ basiert auf dem gleichnamigen Theaterstück von Peter-Pan-Erfinder James Matthew Barrie aus dem Jahr 1920. Auf den ersten Blick kommt die Erzählung im Gewand klassischer Schauerliteratur samt alten Herrenhäusern, aus dem Nichts erklingenden Stimmen, Geistern und einem vom Nebel verhangenen See daher. Misst man das Hörspiel allerdings allein an diesem Genre, macht es eine schlechte Figur. Man könnte darüber diskutieren, ob das zeitweise Verschwinden eines Kindes, gerade für die Eltern, schon als Horror gewertet werden kann, unterm Strich ist die Geschichte aber zu keiner Zeit schaurig, weder auf einer psychologischen Ebene, noch auf einer, die mit Schockeffekten und Action arbeitet.

Das liegt daran, dass „Mary Rose“ die Versatzstücke von Schauergeschichten nur nutzt, um ein tieftrauriges, sehr melancholisches Drama über den Verlust, das Vergessen und das (Nicht-)Erwachsenwerden zu erzählen; Letzteres ein Thema, für das ja auch „Peter Pan“ berühmt ist. Wir begegnen einer Familie, die durch den Verlust in unterschiedlicher Gestalt – den Verlust des eigenen Kindes, den der Kindheit, der Erinnerung, gar der Zeit selbst – in ihren Grundfesten erschüttert wird. Was dies für die Charaktere bedeutet, wie sie damit umgehen, macht den eigentlichen Kern der Geschichte aus.

Die Zerrüttung des familiären Alltags, das permanente Unbehagen, das Mary Rose und ihre Familie überkommt, die Verwirrung in einer Welt, in der man sich nicht einmal mehr auf die Zeit verlassen kann, überträgt sich hervorragend auf uns Hörer. Auf der Ebene der Handlung liegt das an der permanenten Ungewissheit, der wir uns durch das Geheimnis um Mary Rose und die Insel gegenübersehen. Zu dieser Ungewissheit trägt auch bei, dass die Geschichte nicht chronologisch erzählt wird und sich auf drei Zeitebenen abspielt. Jeder muss für sich selbst entscheiden, ob es unter diesem Blickwinkel, quasi als Verstärker der Irritation, zu begrüßen ist, dass wir nie wirklich erfahren, was mit Mary Rose geschehen ist, und dass einige der Mystery-Elemente, die hier nicht verraten werden sollen, nicht ganz ineinanderzugreifen scheinen. Sicherlich ist es auch legitim, die offenen Handlungsfäden als dramaturgischen Patzer zu betrachten.

Die Handlung von „Mary Rose“ ist aber ohnehin auf das Maß reduziert, das nötig ist, um das notwendige Gerüst für die hervorragenden Dialoge, das eigentliche Erzählinstrument des Hörspiels, aufzubauen; die Herkunft aus dem Theater zeigt sich hier deutlich. Die exzellenten Sprecher erwecken ihre Figuren zum Leben und zeigen mit nuancenreicher Intonation die emotionale Palette, die notwendig ist, eine ganz auf Atmosphäre und Drama ausgerichtete Geschichte umzusetzen. Dank der nur rudimentären Handlung kann auf einen Erzähler vollständig verzichtet werden, und auch die Figuren müssen nicht ständig auf unnatürliche Weise das Geschehen für uns Hörer erklären. Das macht das Hörspiel zu einem sehr stimmigen und realistisch wirkenden Hörgenuss. Verzichtet wird außerdem weitestgehend auf Musikuntermalung und Soundeffekte, was die Sprecher noch einmal in den Vordergrund rückt. Erwähnt werden muss hier auch die gute Tonabmischung, die es schafft, das Gefühl zu erwecken, dass die Figuren wirklich miteinander reden; eine Leistung, die bei Weitem nicht jeder Hörspielproduktion gelingt. Insgesamt zeichnet sich „Mary Rose“ durch eine brillante Inszenierung aus.

Fazit: „Gruselkabinett 91: Mary Rose“ ist ein düsteres Familiendrama, auf kluge Weise mit den Mitteln einer Schauergeschichte erzählt, toll inszeniert und von hervorragenden Sprechern umgesetzt.


Gruselkabinett 91: Mary Rose
Hörspiel nach einem Theaterstück von James Matthew Barrie
Marc Gruppe
Titania Medien 2014
ISBN: 978-3-7857-5023-0
1 CD, ca. 64 min., deutsch
Preis: EUR 6,99

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