Gruselkabinett 42: Der Sandmann

„Es ist 9 Uhr. Schnell, Kinder, geht zu Bett. Beeilt Euch, ihr seid müde!“ – „Ja, schnell, ich höre schon die Schritte auf der Treppe. Der Sandmann, der Sandmann kommt! Er darf uns nicht sehen. Sonst streut er uns Sand in die Augen, bis sie blutig aus den Augenhöhlen springen.“

von Uwe Weingärtner

 

Eine zufällige Begegnung des Studenten Nathanael mit einem italienischen Wetterglashändler namens Coppola weckt alte, vergrabene Kindheitserinnerungen, Erinnerungen an den Sandmann, der so oft abends um 9 Uhr die Treppe heraufpolterte, genau zu der Zeit, wenn müde Kinder ins Bett gesteckt werden. Der Sandmann, der unartigen Kindern Sand in die Augen streut, bis sie bluten. Aber wer ist der Sandmann? Und warum besucht er den Vater regelmäßig in seinem Studierzimmer? Nur wer neugierig ist, kann es herausfinden. Und Nathanael ist neugierig, auch wenn es ihn die Augen kosten könnte …

Es sind Erinnerungen an das vermeintliche Ebenbild Coppolas, den verhassten Advokaten Coppelius, der in Nathanaels Haus einst ein und aus ging. Der hässliche Coppelius, der ihn und seine Schwester bei seinen Besuchen verängstigte und jede Freude verdarb. Coppelius, der mit seinem Vater teuflische Experimente durchführte, deren Zeuge Nathanael wurde. Coppelius, der seinen Vater schließlich ermordete. Der hässliche und dämonische Coppelius; der Kinder quälende Sandmann.

Diese verdrängten, nicht aufgearbeiteten und nun erneut aufbrechenden Kindheitserfahrungen verstören Natahnael in seinem geregelten Studienalltag und lassen ihn fortan nicht mehr los. Coppelius will nach all den Jahren sein Leben zerstören, seine Freundschaft mit dem Stiefbruder Lothar und seine Liebe zur Stiefschwester Clara. Zumindest glaubt Nathanael das. Ein Besuch bei seiner Familie soll Beruhigung bringen, doch auch dort lässt Coppelius ihn nicht los. Nur schwer gelingt es Clara und Lothar, ihn von seinen Ängsten abzubringen und Coppola nicht als den verhassten Coppelius anzusehen. Es scheint so, als könne er sein Kindheitstrauma überwinden und zu einem geregelten Studienleben zurückfinden. Eine erneute Begegnung mit Coppola, eine von Coppola erstandene Brille, die schöne Tochter des gegenüber wohnenden Professor Spalanzani und ein verhängnisvoller Streit setzen jedoch Ereignisse in Gang, die unweigerlich auf ein verhängnisvolles Ende zulaufen.

„Gruselkabinett 42: Der Sandmann“ greift eine der bekanntesten Erzählungen E.T.A. Hoffmanns auf und schafft es, den 1816 entstandenen Text in ein rundum gelungenes Hörspiel zu verwandeln. Die Erzählung wurde von Marc Gruppe in ein moderneres Deutsch überführt, das auf einige der im Ausgangstext enthaltenen und für jüngere Menschen eventuell unbekannten Vokabeln verzichtet. Auch wenn es sich nicht um eine typische Gruselgeschichte handelt, sondern vielmehr die Darstellung eines tragischen Schicksals vermixt mit zeittypischen Themen, schafft es das Hörspiel, die schaurigen Momente der Erzählung auszukosten und Spannung aufzubauen. Das liegt nicht zuletzt an den durchweg sehr guten Sprechern, wobei insbesondere Roland Hemmo die Rolle des bösartigen Coppelius sehr spannungsvoll und drastisch vermittelt. Die eher zurückhaltende und sparsam angewandte Hintergrundmusik unterstützt die düstere und unheimliche Atmosphäre dabei sehr gut.

Während sich die Geschichte über die fast 70 Minuten hinweg gemächlich entwickelt, kommt der Schluss sehr schnell und überraschend und lässt den einen oder anderen Hörer bestimmt unbefriedigt zurück. Vielleicht wollte Marc Gruppe aber auch gezielt das tragische Ende um ein zusätzliches verstörendes Element ergänzen, das den Hörer sprachlos und nach Antworten um die Zukunft der Protagonisten ringend zurücklässt.

Fazit: Das Hörbuch ist eine gelungene Umsetzung der fast 200 Jahre alten Erzählung, deren Inhalte auch heute noch modern sind. Es macht Spaß, den Sprechern zuzuhören und immer tiefer in den Strudel von Nathanaels Abgründen hineingezogen zu werden. Mir persönlich hatte der abrupte Schluss anfangs etwas den Spaß genommen, da die originäre Erzählung zumindest für Clara ein befriedigenderes Ende aufzeigt. Nach mehrmaligem Hören bin ich aber zu dem Schluss gekommen, dass das von Marc Gruppe inszenierte Ende seinen Reiz hat und dem Fatalismus der Geschichte eine zusätzliche Facette hinzufügt.


Gruselkabinett Folge 42: Der Sandmann
Hörspiel nach einer Kurzgeschichte von E. T. A. Hoffmann
Marc Gruppe
Titania Medien 2010
ISBN: 978-3-7857-4269-3
1 CD, 69 min., deutsch
Preis: EUR 8,99

bei amazon.de bestellen