von Jakob Schwarz
England 1823: Percy Aubrey, der Spross einer noblen englischen Familie, lernt auf einem Ball der gehobenen Gesellschaft den geheimnisvollen Lord Ruthven kennen, dessen Charme alle Frauen erliegen und dem sich auch Percy nicht vollends entziehen kann. Die beiden Männer beschließen, gemeinsam eine Europareise zu den Stätten der Antike zu machen, in deren Verlauf sich Ruthven allerdings als notorischer Verführer herausstellt, dessen Treiben in Percy Abscheu erweckt.
Percy verlässt Ruthven in Italien und reist alleine weiter nach Griechenland. Dort verliebt er sich in die bezaubernde Schankwirtstochter Ianthe. Doch Ianthe erleidet ein furchtbares Schicksal. In einer Gewitternacht wird die Unglückliche, die in steter Angst vor einem Vampir, der vor Jahren in der Gegend sein Unwesen trieb, lebte, ermordet. Percy verfällt vor Trauer dem Fieberwahn, und wird von dem wieder aufgetauchten Ruthven gepflegt. Doch die Absichten des Lords sind keineswegs freundschaftlicher Natur. Vielmehr verwickelt er Percy in ein perfides Spiel, das diesen nach und nach zugrunde richtet.
„Der Vampir“ ist eine dramatisierte und doch erstaunlich werkgetreue Hörspiel-Adaption der gleichnamigen Erzählung von John Polidori, die im Sommer 1816 in der Villa Diodati am Genfersee aus einem dichterischen Wettstreit mit Lord Byron sowie Mary Shelley und Percy Bysshe Shelley entstand (ein weiteres Ergebnis dieses Wettstreits war Mary Shelleys „Frankenstein“). Neu und faszinierend soll damals das Bild des Vampirs als Verführer und Edelmann gewesen sein – im Gegensatz zu seiner Darstellung als animalisches Monstrum. Entsprechend zieht sich das Thema der Verführung durch die ganze Geschichte – und macht bemerkenswerterweise auch nicht vor homoerotischen Avancen Ruthvens gegenüber Percy Aubrey Halt.
Der an sich faszinierenden Geschichte aus Verführung und Abhängigkeit haftet allerdings ein Makel an: Sie hat etwas unangenehm Fragmentarisches an sich. Da sich das Ende des Hörspiels deutlich vom Ende der Erzählung unterscheidet, entsteht hier sogar noch stärker der Eindruck, dass man erst die Hälfte eines Schauerromans in den Händen hält. Protagonist und Antagonist werden etabliert, ein Konflikt entsteht, doch um die Auflösung wird man als Hörer betrogen. (In der literarischen Vorlage ist das Ende zwar weniger offen, aber auch nicht wirklich befriedigend.) So sitzt man am Ende der 65 spannend inszenierten Minuten vor dem CD-Spieler und fragt sich: „Und, und? Wie geht es jetzt weiter?“ Aber es geht gar nicht weiter. Übrig bleibt nur die Moral, dass Frauen, die sich mit düster-charmanten, aber im Herzen diabolischen Männern einlassen, ein ungutes Ende nehmen. (Insofern stellt „Der Vampir“ einen geradezu erfrischenden Gegenentwurf zu all den zahnlosen Blutsaugern der aktueller Vampir-Romantik dar!)
Technisch reiht sich die Produktion von Marc Gruppe und Stephan Bosenius perfekt in die Reihe der anderen Episoden des sehr hörenswerten „Gruselkabinetts“ ein. Die Sprecher, allen voran Patrick Bach als Percy Aubrey und Christian Stark als Lord Ruthven, wissen zu begeistern, auch wenn sie sich mitunter arg theatralisch ausdrücken und gebärden. Das passt natürlich zur schauerromantischen Atmosphäre, doch gelegentlich verführt die gestelzte Ausdrucksweise gerade mancher Nebenfigur zum unbeabsichtigen Schmunzeln. Untermalt wird die Handlung von klassischer Orchestermusik, die sehr stimmungsvoll ins Geschehen eingebunden ist. Allerdings ist die Tonkulisse etwas zurückhaltend und beschränkt sich auf einige prägende Geräusche, um eine Szenerie zu entwerfen.
Fazit: „Der Vampir“ von John Polidori mag ein klassisches Stück Schauerromantik sein. Allerdings haftet ihm spürbar etwas Fragmentarisches an und dieses Fragmentarische wurde in der neuen Episode des „Gruselkabinetts“ sogar noch verstärkt. Das schränkt keinesfalls den Hörgenuss ein, solange er währt, sorgt jedoch dafür, dass man am Ende mit einem Gefühl dasitzt, als sei die Geschichte irgendwie nicht fertig erzählt worden. Daher: technisch einmal mehr sehr gelungen, inhaltlich allerdings leider etwas unbefriedigend.
Gruselkabinett 30: Der Vampir
Hörspiel nach einer Erzählung von John Polidori
Stephan Bosenius & Marc Gruppe
Titania Medien 2008
ISBN: 978-3-7857-3638-8
1 CDs, 65 min., deutsch
Preis: EUR 8,95
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