Descent: Journeys in the Dark

Der erste Gedanke, der einem durch den Kopf schießt, wenn man den Karton des Adventure Games "Descent: Journeys in the Dark" in den Händen hält, ist: "Wow, was für ein Monstrum!" 59 x 29 x 9 cm Gardemaß – räumt ein Regalbrett eures Spieleschranks leer, denn "Descent" wird es brauchen. Doch ungeachtet anderer Meinungen kommt es nicht allein auf die Größe an, also erste Ehrfurcht überwunden und einen Blick ins Innere geworfen!

von Bernd Perplies

What’s in the Box?

Im Gegensatz zu manchem Konkurrenzprodukt ist die große Verpackung nicht nur Show, sondern tatsächlich notwendig, denn das Innere des Spielkartons ist nahezu randvoll mit Spielmaterialien. Zunächst wären da 12 sicher 1 mm starke Kartonscheiben, auf denen sich der modulare Spielplan in Form hübsch designter Dungeon-Bodenstücke (die leider nur unter leichter Anwendung von Gewalt zusammenpassen) sowie zahllose Spielmarker, wie Wound-, Fatigue-, Effect-, Treasure-, Training- oder Quest-Tokens, Gold, Hindernisse etc., befinden. Nach einer wahren Ausstanz-Orgie – dankbarerweise lösen sich die Teile gut aus dem Rahmen –, liegt ein beachtlicher Haufen Pappe vor einem.

Einen zweiten Haufen bilden die 80 Plastikminiaturen (20 Helden, 60 Monster), die sich später in unterschiedlichsten Konstellationen innerhalb des Spiel-Dungeons bewegen werden. Die Figürchen sind ziemlich ordentlich gegossen – deutlich besser als bei dem Schwesterspiel "Doom", mit dem "Descent" viele Spielmechanismen teilt – und sehen sicher rattenscharf aus (vor allem die Großfiguren wie der Drache, Riese und Dämon), sollte sich jemand die Mühe machen, sie zu bemalen.

Die 180 schön illustrierten Spielkarten unterteilen sich grob in Skill Cards, die den Helden Boni verleihen, Treasure Cards, die all die Schätze repräsentieren, welche in der Tiefe geborgen werden wollen, Town Store Cards, die normal erwerbbare Ausrüstung darstellen, Overlord Cards, welche der Spielleiter ausspielt, um dadurch den Helden Monster und sonstige Gefahren entgegenzuwerfen, sowie Monster Reference Cards, auf denen die Spielwerte der im Dunkeln lauernden Ungeheuer festgehalten sind. 20 unterschiedliche Heldenbögen – passend zu den Miniaturen –, 12 Spezialwürfel, ein Regelwerk und ein Heft mit unterschiedlichen Questen runden das umfangreiche und qualitativ hochwertige Spielmaterial ab.

Vor dem Spiel

Wie bereits erwähnt, erinnert "Descent" in vielerlei Hinsicht an das ebenfalls von Fantasy Flight Games produzierte "Doom – The Boardgame" – wer letzteres kennt, wird sich in ersteres schnell einfinden. Es handelt sich sozusagen um die Fantasy-Variante der galaktischen Monsterhatz. Gespielt wird mit 1-4 Spielern sowie einem Spielleiter, hier "Overlord" genannt; die Spieldauer variiert stark, ist aber kaum unter zwei Stunden anzusiedeln (nach oben hin offen, je nach Komplexität der Queste). Ziel der Helden ist es, grob gesagt, die Queste mit mindestens einem Quest Token zu bestehen, Ziel des Overlords dagegen, den Heroen den Garaus zu machen. Kooperatives Spiel, wie man es in Rollenspielrunden zwischen Spieler und Erzähler kennt, ist ausdrücklich unerwünscht! :-)

Der Overlord bereitet die Queste vor, indem er sich im entsprechenden Abschnitt des Quest Guide durchliest, wie das Spielbrett sukzessive aufzubauen ist – ja, bei "Descent" entdecken die Helden erst nach und nach das Territorium, wissen also nicht gleich zu Beginn, wo die Monster, die Schätze und ihr Questziel liegen. Er legt seine Monster bereit und mischt seine Overlord-Karten, von denen er jede Runde zwei ziehen darf (bis zu einer Hand von achten Karten) und die er dann für eine bestimmte Anzahl Threat Tokens – die er auf unterschiedliche Arten im Spielverlauf erhält – ausspielen darf. Ein Großteil der Overlord-Karten betrifft das "Spawnen", also Auftreten, von Monstern, die daraufhin zielstrebig über die Helden herfallen. Einige enthalten aber auch Fallen oder dauerhafte Spieleffekte. Im Laufe des Spiels fungiert der Overlord jedoch nicht nur als Meister von Horden garstiger Abscheulichkeiten, sondern auch als Erzähler, der den Spielern gerne wortreich beschreiben darf, was sich ihnen in dem Dungeon, das sie erforschen, zeigt (Hilfestellungen dazu werden im Quest Guide in Form kleiner Textblöcke zu den einzelnen Gebietsabschnitten gegeben).

Die Spieler bereiten sich vor, indem sie entweder einen Helden aussuchen oder zufällig ziehen. 20 stehen zur Verfügung, darunter so unterschiedliche Gestalten wie der "Spiritspeaker Mok", ein Orkschamane, der gehörnte Ramm-Bock "Steelhorns", der galant grinsende "Sir Valadir", die sexy Ninja-Schnecke "Red Scorpion" oder der griesgrämige Zauberer "Mad Marthos". Witzigerweise sind das exakt die Helden, die sich auch in dem FFG-Spiel "Runebound" auf große Abenteuerreise begeben, nur was dort gegeneinander und im größeren oberirdischen Rahmen abgehandelt wird, bewältigt man hier gemeinsam und im kleinen Dungeon-Umfeld.

Das Spielkonzept

Gespielt wird in Runden, wobei zunächst jeder Held nacheinander dran ist, dann der Overlord. Jeder Zug unterteilt sich grob in "Getappte Karten enttappen", "Ausrüstung für die Runde anlegen" (man kann nicht unbegrenzt Waffen und Tränke zur Hand haben, einiges liegt auch im Rucksack) und dann eine kombinierte Aktion von Laufen und Kämpfen vollziehen (oder schnell laufen oder zweimal angreifen oder seine Bewegungspunkte durch Türen öffnen, Trank schlucken usw. verbraten). Das ist alles ziemlich Standardware und uns aus zahlreichen anderen Figurenspielen bekannt. Es existieren die typischen Bewegungseinschränkungen durch unwegsames Gelände, Türen usw. sowie die typischen Angriffsmöglichkeiten "Nahkampf", "Fernkampf" und "Magie", wobei die Helden unterschiedliche Bonuswürfel auf die einzelnen Skills erhalten (möglicherweise ergänzt durch den Bonus der Waffe), die einen Angriff entsprechend effektiver machen. Der letztendliche Schadenswerf, wenn denn getroffen wurde, wird gegen die Rüstung des Gegners verrechnet, die Differenz in Wound-Tokens ausgeteilt. Bei Null heißt’s für Monster Wiedersehen, Helden werden im nahen Dorf wiederbelebt und dürfen via Transport Glyph zurück ins Dungeon springen, zwar ärmer an Bargeld und Quest Tokens (die eigentlichen Gewinnmarker des Spiels, welche die Helden durch ihre Aktionen bekommen und der Overlord durch seine Aktionen ihnen wieder wegnehmen will), aber ansonsten topfit.

Soweit alles ziemlich Standard – keineswegs schlecht, aber von vergleichbaren Spielen durchaus ähnlich bekannt. Der wirklich innovative Spielmechanismus von "Descent" ist der Angriffswurf, der mit den Spezialwürfeln ausgeführt wird. Hier haben wir wieder die Parallele zu "Doom", denn auch dort fanden die Spezialwürfel schon Verwendung. Diese geben bei einem Wurf gleichzeitig die Entfernung an (durch eine Zahl), den Schaden (durch Herzchen) und mögliche Extra-Effekte (durch Blitze). Je nach Farbe zeichnen sie sich vor allem durch ihre "Range" oder ihren "Damage" aus. Und je nach Waffe kommen sie unterschiedlich kombiniert zum Einsatz. Der Vorteil des Systems ist, dass man zwei Würfe zum Preis von einem bekommt. Außerdem wirkt es viel exotischer als schnöde W6 zu werfen. ;-)

Hinabgestiegen in das Reich der Finsternis ...

Im Test zeigte sich, dass "Descent" auf der einen Seite "Doom" tatsächlich sehr ähnlich ist, auf der anderen Seite in den abweichenden Details das Konzept des Schwesterprodukts nicht unbedingt verbessert. Beiden Spielen ist eigen, dass sie ziemlich lange dauern. Für die Einstiegsqueste des Fantasy-Brettspiels saßen wir mit einem Overlord und zwei Spielern beispielsweise gute sechs Stunden zusammen. Diese Spieldauer lässt sich sicher mit zunehmender Kenntnis der Regeln und Spielkarten verkürzen, doch sobald noch mehr Helden mit von der Partie sind, dürfte das wieder ausgeglichen sein. Also definitiv kein Spiel für Zwischendurch, sondern die einzige Attraktion eines Spieleabends!

Leider lässt die Game Balance ein wenig zu wünschen übrig. Das hat zur Folge, dass das Spiel zu Beginn für die Helden unglaublich schwer ist und der eine oder andere Tod nur mit Mühe und Not abgewendet werden kann. In der zweiten Spielhälfte, so nach zwei bis drei Schatztruhen, werden die Recken dann dank magischer Utensilien so stark, dass der Overlord seine Horden tunlichst taktisch einsetzt, ansonsten wird das Dungeon zum Sonntagsspaziergang (unser Bogenschütze machte am Ende im Schnitt 13 Schadenspunkte – da guckte selbst ein Riese dumm aus der Wäsche). Die Endgegner wiederum sind teilweise so hart, dass sie, wenn sie irgendwie zum Zuge kommen, mit einer ganzen Heldentruppe den Verließboden wischen. Die kontinuierliche Steigerung des Schwierigkeitsgrades funktioniert nur bedingt. (Wobei das auch eine Frage des Quest-Aufbaus ist.)

Schwerer wiegt der Unterschied in der Spieleranzahl. In "Doom" wurde das so gehandhabt, dass es Monster in drei Farben gab und je nach Spieleranzahl wurden mehr oder weniger auf dem Spielbrett aufgebaut. Bei "Descent" wird das über die Werte der Monster geregelt, die Monster bei zwei Helden sind also schwächer als die bei vier Helden. Leider hält sich der Unterschied in Grenzen. So sind die Werte aller Monster bei einem oder zwei Helden komplett identisch, bei drei Helden bekommt jedes Monster einen Lebenspunkt dazu, bei vier Helden zwei Lebenspunkte. Diese Differenz ist so gering, dass "Descent" mit einem Spieler deutlich schwerer ist (für diesen) als mit drei oder vieren. Dazu tragen auch die Line-of-Sight-Regel bei, innerhalb derer Monster nicht spawnen dürfen (und vier Helden decken viel mehr Dungeon-Raum ab als einer) sowie die Schatztruhen bei, deren Inhalt nicht fix ist, sondern jedem Helden 1x zusteht (dadurch kommen bei mehr Helden auch deutlich mehr mächtige Artefakte ins Spiel, denen die gewöhnlichen Monster kaum noch was entgegenzusetzen vermögen).

Zuletzt ist das Regelwerk ein wenig konfus aufgebaut. Es wurde versucht, die Grundregeln zusammenzuhalten und alles im Detail weiter hinten zu erläutern, was zur Folge hat, dass ständig auf andere Seiten vor- und zurückverwiesen wird. Auf der anderen Seite werden die Regeln sehr anschaulich erklärt und durch viele (bebilderte) Beispiele und manche Wiederholung unterstützt, sodass man am Ende der Lektüre vielleicht nicht alle Einzelheiten parat hat, aber doch ein gutes Grundgefühl für die Spielmechanismen hat. Doch gerade bei "Descent" steckt der Teufel oft im Detail (wie wir festgestellt haben), sodass der Overlord gut beraten ist, nach ein-zwei Testrunden das Regelwerk noch einmal zu lesen, um zu schauen, ob auch alle Kleinigkeiten beachtet wurden.

Fazit:
Ungeachtet der oben genannten Kritikpunkte ist "Descent" ein echt cooles Fantasy-Adventure-Game, das einem viel Spielmaterial zur Hand gibt, um zünftige Hack'n'Slay-Orgien zu feiern. Das Aufmachung lässt kaum Wünsche offen, auch wenn unter Anwendung geringfügiger Regelzusätze die Auswahl an Monstern noch hätte verbessert werden können. Der Spielmechanismus ist gut nachvollziehbar und offen genug, um den leichten Einsatz von Hausregeln zuzulassen, der es gestandenen Gamernaturen ermöglicht, die "Journeys in the Dark" noch lebendiger zu gestalten. Alles in allem ein Spiel für viele kurzweilige Stunden und mit nicht geringem Suchtpotential.

Anmerkung:
Zusatz-Questen und einen Quest-Editor kann man unterwww.fantasyflightgames.com/descent.html finden. Der deutsche Vertrieb wird wie bei allen FFG-Produkten vom Heidelberger Spieleverlag besorgt. (www.hds-fantasy.de/)


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