Der Untergang von Númenor

Der Fantasy-Roman „Der Untergang von Númenor und andere Geschichten aus dem Zweiten Zeitalter“ stammt aus der Feder des äußerst renommierten Schriftstellers J. R. R. Tolkien (JRRT) und wurde von Brian Sibley herausgegeben. Er behandelt nicht nur die Geschichte der Insel Númenor im besagten Zeitalter, sondern auch immer wieder die des großen Widersachers Sauron und der Ringe der Macht. Kann das Buch mit den anderen, von JRRTs Sohn Christopher Tolkien herausgegebenen Büchern mithalten?

von Markus Kolbeck

Das Buch wurde 2022 sowohl im englischsprachigen Original (Originaltitel: „The Fall of Númenor“) bei HarperCollins Publishers als auch auf Deutsch in der Hobbitpresse von Klett-Cotta veröffentlicht. Es ist als 432-seitiges Hardcover mit Lesebändchen gestaltet und mit zwei kolorierten Landkarten ausgestattet, einer von Númenor und einer des Nordwestens von Mittelerde. Dazu kommen zehn Farbtafeln und viele Schwarz-Weiß-Zeichnungen von Illustrator Alan Lee. Außerdem liegt ihm eine Landkarte bei, auch vom Nordwesten von Mittelerde.

Der Autor

John Ronald Reuel Tolkien (1892-1973) gilt als angesehener Philologe seiner Zeit. Bekannt geworden ist er durch seine Fantasy-Bücher „Der Hobbit“ (im Original: 1937), „Der Herr der Ringe“ (1954/55) und „Das Silmarillion“ (posthum 1977), die in mehr als 80 Sprachen übersetzt wurden und sich millionenfach verkauften.

Der Herausgeber von „Das Silmarillion“

Der Sohn von JRRT, Christopher Tolkien (1924-2020), widmete sich mehr als 40 Jahre lang dem Werk seines Vaters und war Herausgeber u. a. von „Das Silmarillion“ (1977), „Die Kinder Húrins“ (2007), „Beren und Lúthien“ (2017) und „Der Fall von Gondolin“ (2018). Die letzten drei sind erweiterte Ausgliederungen aus „Das Silmarillion“. Die Veröffentlichung von „Der Untergang von Númenor“, ebenfalls eine erweiterte Ausgliederung aus „Das Silmarillion“, konnte er bedauerlicherweise nicht mehr in Angriff nehmen.

Der Herausgeber von „Der Untergang von Númenor“

Brian Sibley ist Schriftsteller und Rundfunksprecher. Für seine Beiträge in Buchform zu JRRTs Werk ist er mit dem „Outstanding Contribution Award“ der Tolkien Society ausgezeichnet worden.

Der Illustrator

Alan Lee ist bekannt als Illustrator zahlreicher Tolkien-Ausgaben. Für seine Konzeptdesigns für die Verfilmung von „Der Herr der Ringe“ erhielt er 2004 einen Oscar!

Quellen

Brian Sibley hat den vorliegenden Band aus Passagen und Auszügen aus folgenden Quellen zusammengestellt: „Das Silmarillion“ (deutsch: 1978), „Nachrichten aus Mittelerde“ (1983), den Bänden der „History of Middle-earth“ (relevant sind die von 1986 bis 1996 erschienen Bände) und anderen, weniger bekannten Werken (alle von Christopher Tolkien herausgegeben). Außerdem greift Sibley auf „Der Herr der Ringe“ und „Natur und Wesen von Mittelerde“ (2021 von Carl F. Hostetter veröffentlicht) zurück. Sibley hat als Herausgeber die verschiedenen Originaltexte zusammengefügt und zurückhaltend bearbeitet, damit die Texte zusammenpassen. Der Übersetzer, Helmut W. Pesch, hat auf die bereits vorliegenden deutschen Übersetzungen der Originaltexte zurückgegriffen. Da diese zu verschiedenen Zeiten entstanden, liegen ihnen unterschiedliche Kenntnisstände zugrunde. Dies hat Pesch behoben, indem er geringfügige inhaltliche und stilistische Anpassungen vornahm, um einen widerspruchsfreien und flüssig lesbaren Gesamttext zu erhalten.

Schreibweise

Der Name der in der Geschichte beschriebenen Insel, „Númenor“, schreibt sich übrigens wirklich nur mit einem Akzent, während „Númenórer“ und „númenórisch“ sich mit zwei Akzenten schreiben.

Inhalt

Neben einem Vorwort gibt es eine Einleitung („Die Sage von einem ‚Dunklen Zeitalter‘ “) und einen eigenen Essay über das Erste Zeitalter, also die Ereignisse, die vor den Geschehnissen in der Hauptgeschichte handeln. Der Hauptteil besteht aus der Geschichte der Insel Númenor, wobei im Inhaltsverzeichnis eine schöne Liste mit den Ereignissen komplett mit Jahreszahlen abgedruckt ist. Die einzelnen Kapitel sind auch mit Jahreszahlen versehen. Die Anhänge bestehen aus einer kurzen Chronik des Dritten Zeitalters und den númenórischen Kapiteln von „The Lost Road and other Writings“ (aus: „The History of Middle-earth“, Band 5, J. R. R. Tolkien, Hrsg. Christopher Tolkien, 1987). Außerdem finden sich am Schluss des Bandes noch umfangreiche Anmerkungen zu den Texten und ein Literaturverzeichnis der deutschen und englischen Quellenliteratur.

Da Tolkien gläubiger Christ war, hat er den Begriff „Götter“ für die höchsten Schöpferwesen von und in Arda, von dem Mittelerde ein Teil ist, vermieden. Das höchste Wesen ist Eru Ilúvatar, der Eine. Ihm zur Seite stehen die Valar (Einzahl: Vala), mit denen er die Welt Arda erschaffen hat. Die Geistwesen, die den Valar dienen, sind die Maiar (Einzahl: Maia). Einer der Valar, Melkor, wird abtrünnig und es kommt im Ersten Zeitalter zu Kriegen zwischen den Erstgeborenen, den Elben, und Morgoth, wie diese Melkor nennen. In diesen epischen Konflikten kommen die Edain, drei Häuser von Menschen, den Elben zu Hilfe. Später schenken die Valar den Edain für ihre Verdienste die neu geschaffene Insel Númenor. Das Zweite Zeitalter beginnt und mit ihm die Geschichte der Númenórer.

Die Abläufe auf der Insel sind im Wesentlichen eine Geschichte der Könige und Königinnen der Númenórer. Es werden außerdem Angaben zu Politik, Gesellschaft, Glauben, Geografie, Flora, Fauna etc. gemacht. Diese Zeit ist eng mit den Valar verbunden, denen die Númenórer lange Zeit treu bleiben. Diese Jahrhunderte sind als Zeit der Glückseligkeit bekannt. Die Geschehnisse werden über den Zeitraum von Jahrhunderten nur sehr knapp und überblicksartig geschildert. Erst mit Königssohn Aldarion, dem späteren König Tar-Aldarion, geht es mehr ins Detail bei Handlungen und Dialogen.

Die Zeit der Glückseligkeit hält an, bis die Númenórer in Mittelerde auf den bösen Maia Sauron (ehemaliger Leutnant von Morgoth im Ersten Zeitalter) stoßen! Es kommt zu einem Krieg, Sauron (noch nicht auf der Höhe seiner Macht) wird später unterworfen und nach Númenor gebracht. Dort träufelt er den Bewohnern falsche Worte ein, bis diese sich gegen die Valar auflehnen und mit einer riesigen Flotte gen Westen segeln, um die Unsterblichkeit zu erlangen, was ihnen von den Valar streng verboten war. Die Valar bestrafen die Númenórer mit einem gewaltigen Kataklysmus. Nur die Getreuen, die zu den Valar hielten, wurden rechtzeitig gewarnt und entkamen nach Mittelerde. Diese wurden als Dúnedain, die späteren Waldläufer des Nordens, bekannt. Die Dúnedain gründeten die Königreiche Arnor und Gondor in Mittelerde.

Kritik

Die Geschichte von Númenor und seinen Bewohnern, die praktisch eine Geschichte des Zweiten Zeitalters von Mittelerde ist, ist episch angelegt und weist große Dramatik und Tragik auf. Das spricht schon an, allerdings werden die Leser von „Das Silmarillion“ die Grundzüge der Geschehnisse noch in Erinnerung haben, was dann diese Dramatik und Tragik im subjektiven Empfinden doch schmälert. Eine gewisse Originalität und ein gewisser Ideenreichtum können nicht abgesprochen werden, jedoch erinnert die Geschichte der Insel schon an den Untergang von Atlantis. Tolkien hat ja nicht im luftleeren Raum seine Romane geschrieben, sondern griff auf Mythen und Legenden, wie die der Nibelungen-Saga, der von Atlantis und andere, zurück!

Auffallend ist, wenn man beginnt, die eigentliche Geschichte von Númenor zu lesen, dass sich diese über weite Strecken wie ein Sachtext liest, was nicht jedem gefallen dürfte. Es gibt praktisch keine handelnden Personen, vor allem nicht im Detail, doch ändert sich dies mit Königssohn Aldarion, fällt dann aber wieder in eine überblicksartige Darstellung der Geschehnisse in großen, geschichtlichen Sprüngen zurück. Erst mit den Kriegen gegen Sauron, dem Letzten Bündnis zwischen Elben und Menschen und dem Schmieden der Ringe der Macht ändert sich dies wieder. Diese galoppierende Herangehensweise ergibt sich schlichtweg daraus, dass nicht mehr Material aus Tolkiens Originalfeder zur Verfügung stand.

Neben der Anmutung eines Sachtextes fällt auch die etwas holprige Gangart auf, denn Brian Sibley streut in den Text abgesetzte Kommentare ein, die den Lesefluss etwas stören. Hinzu kommen die eingefügten Zahlen, die auf die Anmerkungen im Anhang verweisen. Liest man diese jeweils nach, muss auch die eigentliche Geschichte unterbrechen. Alles in allem bin ich aber froh, ein neues Werk aus der Feder von JRRT gelesen zu haben und habe es auch gern gelesen und teilweise genossen. So gut wie die von Christopher Tolkien herausgegebenen, ebenfalls aus „Das Silmarillion“ ausgegliederten  Bände (oben unter „Der Herausgeber von ‚Das Silmarillion‘ “ aufgeführt), ist das vorliegende Buch aber nicht ganz!

Fazit: Es ist sicherlich immer wieder eine Freude, Neues aus dem Legendarium von J. R. R. Tolkien (posthum) zu lesen, so auch hier bei „Der Untergang von Númenor“. Handelt es sich doch um eine bewegende Geschichte von epischer Dramatik und Tragik! Echte Tolkien-Kenner*innen werden sich das Werk auf keinen Fall entgehen lassen wollen. Fantasy-Fans, insbesondere die, die „Das Silmarillion“ (noch) nicht kennen, können es sich auch zu Gemüte führen, sollten aber berücksichtigen, dass es kein klassischer Fantasy-Roman ist und sein Stil sich von dem in JRRTs Werken „Der Hobbit“ und „Der Herr der Ringe“ deutlich unterscheidet.

Der Untergang von Númenor
Fantasy-Roman
J. R. R. Tolkien
Klett-Cotta (Hobbitpresse) 2022
ISBN: 978-3-608-98700-3
432 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 28,00

bei amazon.de bestellen