von Michael Wilhelm
Im ersten Moment ist es gar nicht so einfach, den vorliegenden Band einem literarischen Genre zuzuordnen. Und wer sich schon einmal mit einer, sei es auch nur kleinen, Auswahl der Werke Neil Gaimans auseinandergesetzt hat, weiß, dass der Brite ein wahres Multitalent ist. Romane, Comics und Hörspiele hat er geschaffen, darunter so manch preisgekröntes Meisterwerk, beispielsweise die Comic-Serien „Sandman“ und „Die Bücher der Magie“. Stets war er dabei auf Seiten des Wortschöpfers aktiv, so auch wieder in „Stardust“. Dadurch kann er auf eine Zusammenarbeit mit jeder Menge namhafter Zeichner zurückblicken. Aber auch unter Autoren, mit denen er erfolgreiche Koproduktionen zustande brachte, finden sich Superstars wie Terry Pratchett. Mit Charles Vess war Neil Gaiman schon in den frühen 1990ern mit „Sandman“ aktiv, für den sie den World Fantasy Award gewannen.
Und so ist der vorliegende Band kein Comic im herkömmlichen Sinne, sondern vielmehr ein kurzer Roman mit einer geradezu gigantischen Zahl an hervorragenden Illustrationen. Ganze 212 Seiten ist der Band lang und es findet sich darin nicht eine Doppelseite ohne Zeichnung, meist ist eine ganze Seite oder eine Doppelseite zum Teile einem Hintergrundbild gewidmet. Die Bilder fügen sich dabei so lückenlos und schlüssig in die Geschichte, dass eine perfekte Einheit daraus entsteht. Es ist kaum möglich, Bild und Text getrennt wahrzunehmen, die beiden ergänzen sich zu einem Ganzen. Schwer zu sagen, ob erst Gaimans Gedanken oder Vess’ Visionen für die Entstehung ursächlich waren. Vermutlich haben die beiden sich im Schöpfungsprozess gegenseitig befruchtet, was für den Leser und Betrachter höchsten Genuss bedeutet. Und so ist durch die Verschmelzung von Bild und Text doch eine Art Comic daraus geworden, da kaum eine Szene vorkommt, die nicht durch eine Illustration gezeigt wird.
Die Geschichte selbst ist auf den ersten Blick scheinbar wenig anspruchsvoll. Der junge Tristan Thorn aus den kleinen viktorianischen Dörfchen Wall, dessen einzige spektakuläre Eigenschaft darin besteht, dass die Dorfwiese alle neun Jahre Schauplatz eines Feen- und Zauberermarktes wird, macht seiner Angebeteten ein voreiliges Versprechen. Er wird eine von den Beiden in einer lauschigen Nacht beobachtete Sternschnuppe finden und ihr den gefallenen Stern schenken. Tristan hat selbst Elfenblut in seinen Adern und so ist er nicht ganz ein Fremder, als er am Rande des Dorfes, wo der Stern über dem Wald jenseits der Marktwiese gefallen ist, England verlässt und ins Feenreich verschwindet. Fremdartige Kreaturen und geheimnisvolle Leute trifft er auf seiner Reise durch die seltsamen Länder des Feenreiches, bis er schließlich den Stern findet. Doch der Stern ist mehr, als sich unser Held vorgestellt hat, und außer ihm ist auch so manch finstere Gestalt aus verschiedensten Gründen hinter dem Stern her. Mehr sei nicht verraten.
Wer sich die lohnenswerte Geschichte genehmigen möchte, kann das, wie eingangs schon erwähnt, bald in zweierlei Form tun, denn neben der hier rezensierten „Graphic Novel“ (einen entsprechenden Begriff gibt es im Deutschen leider nicht.) startet im Herbst die Filmadaption dieses Kunstwerks. Und die verspricht ein echter Kracher zu werden. Neil Gaiman ist einflussreich an der Produktion beteiligt, erste Bilder davon machen auf jeden Fall Appetit. Und neben Michelle Pfeiffer als böser Hexe und Peter O`Toole als König spielt Robert De Niro einen durch die Luft segelnden Piraten.
Fazit: „Stardust“ ist kein bisschen weniger als man sich vom großen Meister Neil Gaiman erhoffen könnte: ein spannendes Märchen-Abenteuer für Erwachsene, eine „Graphic Novel“, wie man sie sich im direkten Wortsinne nicht besser wünschen könnte, eine perfektere Verschmelzung von Wort und Bild als jeder Comic: fesselnd, visuell beeindruckend, stimmungsvoll und mitreißend.
Der Sternenwanderer – Stardust
Graphic Novel
Neil Gaiman, Charles Vess
Panini Comics 2006
ISBN: 9783866073920
212 S., Softcover, deutsch
Preis: EUR 19,95
bei amazon.de bestellen
