von Markus Kolbeck
"MERP" wurde vorgeworfen, nicht speziell auf Mittelerde abgestimmt worden zu sein. Vielmehr hatte ICE sein Hausrollenspiel "Rolemaster" abgespeckt und als Mittelerde-Rollenspiel vermarktet. Man hatte zwar Völker und Kreaturen von Mittelerde adaptiert, aber insbesondere das Magiesystem wies keinerlei Mittelerde-Flair auf, waren dessen Spruchlisten doch aus "Rolemaster" übernommen worden. Auch die martialisch anmutenden, auf Realismus getrimmten Kritische-Treffer-Tabellen waren nicht nach jedermanns Geschmack. Ob nun Decipher bzw. Pegasus Spiele mit dem HdR-Rollenspiel eine glücklichere Hand haben, soll u. a. diese Rezension zeigen.
Die satten 304 Seiten des Grundregelbuchs sind in Farbe gehalten und mit Fotos aus den Filmen bebildert; z. T. kann man ganzseitige Aufnahmen bewundern, z. T. sind es kleinere Fotos, oftmals von den Gefährten. Das Regelwerk ist regelrecht gespickt mit Zitaten aus dem Buch. Hier wird schon die enge Verflechtung von Buch und Spiel deutlich. Auf den ersten und letzten Innenseiten sind Landkarten von Nordwest-Mittelerde (dem Handlungsschauplatz von Buch und Verfilmung) abgedruckt. Eine weitere (identische) Landkarte findet man auf zwei Seiten im Inneren. Für Wünsche nach größerem Detailreichtum der Karten muss man auf das gesondert von Decipher / Pegasus Spiele herausgebrachte Kartenwerk verweisen. Das Regelwerk ist in zwölf Kapitel unterteilt; ein Glossar findet man dem ersten Kapitel vorangestellt und ein Index ist am Ende des Bandes untergebracht.
Im ersten Kapitel „Hin und wieder zurück“ werden zunächst die Länder und Regionen von Mittelerde vorgestellt. Erwähnt werden alle Länder, die auf auf den abgebildeteten Karten zusehen sind, so z. B. das Auenland, Angmar und Erebor. Weiter geht es in diesem Kapitel mit sechs spielbereiten Archetypen.
Im zweiten Kapitel „Macht und Erhabenheit“ beginnt die Charaktererschaffung. Schnell wird klar, dass die Spielercharaktere (Zitat) „überlebensgroß“ sind, eben Helden. Es wird den Spielern nahe gelegt, sich eng an das heldenhafte Verhalten der Gefährten anzulehnen. Die Kennzeichen eines Helden werden auf Seite 50 und 51 zusammengefasst; dies sind die wichtigsten Seiten des ganzen Regelwerks. Wer nichts von Aufopferungsbereitschaft, Ehre und Edelmut hält, wer nicht Mitleid und Zurückhaltung zeigen will, der sollte vielleicht ein anderes Rollenspiel spielen. Hexenmeister sind im HdR-Rollenspiel definitiv NSCs.
Attributswerte können im Bereich von zwei bis zwölf liegen, durch Volksmodifikatoren auch etwas höher oder niedriger. Es gibt sechs Hauptattribute: Auftreten, Geisteskraft, Geschicklichkeit, Lebenskraft, Stärke und Wahrnehmung. Davon abgeleitete Attribute sind die Reaktionen (ähnlich Rettungswürfen in anderen Systemen) Ausdauer, Gewandtheit, Weisheit und Willenskraft sowie die Werte für Verteidigung und Gesundheit. Verteidigung gibt an, welcher Wert bei einem Angriffswurf erreicht werden muss, will man den jeweiligen Verteidiger treffen. Gesundheit gibt an, wie viele Verwundungspunkte ein Charakter hinnehmen kann, bevor er einen Verwundungsgrad hinzubekommt. Es gibt fünf Verwundungsgrade (Hobbits haben vier) und außerdem sechs Erschöpfungsgrade. Weitere Attribute sind Mut, Ruhm und Statur. Mit Mut kann man sich Zuschläge auf Würfe erkaufen und Ruhm beeinflusst, ob ein Charakter erkannt wird, was Auswirkungen auf Interaktionen haben kann. Den Charaktererschaffungsprozess begleiten die Beispiele zweier Spielercharaktere: ein Krieger aus Gondor und ein Zwergenkrieger.
Im dritten Kapitel „Von den Feinden des Schattens“ werden die spielbaren Freien Völker Mittelerdes vorgestellt: Elben, Zwerge, Hobbits und Menschen. Es wird jeweils auf Allgemeines, Wesen, Verbreitung und Kultur, Sprache, Namen, Berühmtheiten, bevorzugte Berufungen, Anpassungen, Fertigkeiten, Merkmale und Fähigkeiten eingegangen. Unter Merkmale versteht man Vor- und Nachteile, die ein Charakter von seinem Volk vererbt bekommt. Für jeden Nachteil, den man wählt, darf man einen zusätzlichen Vorteil nehmen.
Im vierten Kapitel „Von Kriegern, Zauberern und Königen“ werden die Charakterklassen, genannt Berufungen, dargelegt. Es wird zwischen „Einfachen Berufungen“ und „Auserwählten Berufungen“ unterschieden. Einfache Berufungen können zu Beginn und später im Spiel gewählt werden, Auserwählte Berufungen nur später. Es gibt neun Einfache Berufungen: Adliger, Barbar, Gelehrter, Handwerker, Krieger, Magier, Sänger, Seefahrer und Spitzbube. Bei Erschaffung des Charakters kann eine Berufungsfähigkeit ausgewählt werden; bei späteren Aufstiegen dann weitere. Das kann „Edles Gebaren“ für den Adeligen sein (mit Zuschlägen auf Inspirieren- und Einschüchtern-Würfe) oder „Experte“ für einen Gelehrten (mit Zuschlägen u. a. auf Wissen und Sprache). Außerdem kann man noch Berufungsfertigkeiten auswählen, z. B. Nahkampf oder Reiten. An Auserwählten Berufungen gibt es: Anführer, Bogenschütze, Ritter, Spion, Waldläufer und Zauberer. Hier wird deutlich, dass man noch mit Erweiterungen mit zusätzlichen Berufungen rechnen kann.
Das fünfte Kapitel „Der Klang von Amboß und Gesang“ beschäftigt sich mit den Fertigkeiten. Es werden akademische (z. B. Wissen), körperliche (z. B. Unauffälligkeit) und soziale Fertigkeiten (z. B. Diskutieren) unterschieden. Bei einem Fertigkeitswurf würfelt man mit 2W6 und zählt dazu den Fertigkeitsrang. Erreicht man einen von der Spielleiterin (hier Erzählerin genannt) festgelegten Zielwert, so ist die Handlung erfolgreich. Manche Fertigkeiten kann man auch ungelernt anwenden, ohne also einen Fertigkeitsrang darin zu haben.
Im sechsten Kapitel „Gestrenge und entschlossene Männer“ behandelt die Merkmale, also die Vor- und Nachteile eines Charakters. Vorteile können sein „Heilende Hände“ und „Hart im Zuschlagen“, Nachteile sind z. B. „Dunkles Geheimnis“ und „Rivale“.
Im siebten Kapitel „Ich bin ein Diener des geheimen Feuers …“ kommt die Magie zu Wort. Magie ist in Mittelerde allgegegenwärtig. Besonders begabte Handwerker können sogar leicht magische Gegenstände nur durch ihre Handwerkskunst herstellen; ansonsten bleibt dies Magiern und Zauberern vorbehalten. Eide sind bindend, Flüche haben reale Folgen und dann gibt es auch noch das Schicksal (das einem SC aber nicht den freien Willen nimmt). Magie kann durch Begabung erworben werden, wie die Elben es tun, oder durch Studium, wie es den Menschen liegt. Zaubersprüche sind z. B.: „Brennende Funken“, „Heilzauber“ und „Verwandlung“. Die nützlichen Sprüche überwiegen gegenüber den Kampfzaubern. Magier und Zauberer sind eben eher Berater und Helfer und wirken eher auf subtile Weise auf die Geschehnisse ein; ganz wie es Gandalf getan hat, der Magie auch nur sparsam anwendete. Nach dem Zaubern muss ein Ausdauerwurf gemacht werden, oder es sammeln sich Erschöpfungsgrade an. Die Namen der Valar, insbesondere „Elbereth“, haben magische Wirkung, es gibt aber keine Priester der Valar. Es gibt auch Hexenwerk für NSC. Unter den magischen Gegenständen werden u. a. die Schwerter aus der Geschichte (Andúril, Stich, etc.) und die Ringe der Macht beschrieben.
Kapitel Acht „Schwert und Axt“ widmet sich Waffen, Rüstungen und anderer Ausrüstung.
Im Kapitel Neun „Wahre und gute Worte“ finden sich die Regeln des CODA-Systems. So gibt es Informationen zu Aktionszeit, Traglast, Modifikatoren für die verschiedenen Wurfarten, Erfolgsgrade (reichen von „Verheerender Fehlschlag“ bis „Außergewöhnlicher Erfolg“), Willenskampf, Kampf, Furcht, Verderbnis, Pferde, Schlachten, Belagerungen, Verletzungen, Erschöpfung, Heilung und Reisen.
Das zehnte Kapitel „Sagen und Erhabenheit“ handelt vom Erzählen von Kapiteln (Abenteuern) und Chroniken (Kampagnen). Es wird auf Merkmale epischer Fantasy ebenso eingegangen wie auf das Leiten einer Chronik.
Im elften Kapitel „Schwindel erregende Höhen und vom Feuer beschienene Hallen“ geht es weiter mit der Planung von tolkienesken Geschichten und wie man ihnen Leben einhaucht. Hier befindet sich auch ein geschichtlicher Überblick über die Jahre 2941 DZ (Bilbo findet den Einen Ring) bis 3019 DZ (der Ringkrieg). Viele der veröffentlichten Abenteuer werden von dem Ringkrieg oder aber im Vierten Zeitalter spielen. In diesem Kapitel ist auch ein Abschnitt über Erfahrung und wie Aufstiege der Spielercharaktere zu handhaben sind.
Das zwölfte und letzte Kapitel „Die Furcht und der Schatten“ beschreibt einige der Personen und Wesen Mittelerdes. So findet man die Nazgûl und Saruman wieder, aber nicht die Gefährten, denen ein eigener Band gebührt.
Am Schluss ist noch ein zweiseitiges Charakterblatt zum Kopieren untergebracht.
Fazit: Das HdR-Grundregelwerk und das Buch sind eng miteinander verknüpft, was schon – wie erwähnt – anhand der zahlreichen Zitate aus dem Buch sichtbar wird. Ich habe nur ein teilweise unpassendes Zitat entdeckt: Jenes zum Waffenlosen Kampf bei den Fertigkeiten; es handelt von „Messerarbeit“. Fähigkeiten, Fertigkeiten, Merkmale und Magiesystem sind durch die Geschichte beeinflusst. Das Spiel ist eine spezielle Entwicklung für Mittelerde im Gegensatz zu "MERP". Auch hat man auf Kritische-Treffer-Tabellen verzichtet, was den Kampf nicht so blutig ausschauen lässt; auch eine Verbesserung, wie ich finde.
Der HdR ist ein Fantasy-Epos und das Regelwerk ist zu dem Zweck geschrieben worden, epische tolkieneske Fantasy zu erleben. Dabei hat man versucht, die heldenhaften Werte der Gefährten auf das Regelwerk und somit auf das Spiel zu übertragen. Spielercharaktere sind hier edle Recken, die ihr Bestes geben. Abenteuer haben demnach heroische Handlungsmöglichkeiten offen zu halten, und man darf gespannt sein auf die ersten Abenteuerveröffentlichungen. Schon jetzt hat das HdR-Rollenspiel einen Liebhaberkreis gefunden, der, wie ich hoffe, sich noch vergrößert. Das HdR-Rollenspiel ist ein Spiel, das seinen Namen verdient hat. Es bleibt noch zu erwähnen, dass das Magazin „Nautilus“ offizielles Veröffentlichungsorgan des Rollenspiels ist.
Der Herr der Ringe - Rollenspiel
Grundregelwerk
Steven S. Long, John Ratecliff, Christian Moore, Matt Forbeck
Pegasus Spiele 2003
ISBN: 3-930635-86-3
304 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 39,95
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