von Simon Ofenloch
Nach ungefähr 30 Jahren, in deren Verlauf er insgesamt sieben Romane und eine Kurzgeschichte über das phantastische Land Mittwelt verfasst hat, sowie zahlreiche andere Erzählungen, die mehr oder weniger stark auf die Geschehnisse in Mittwelt Bezug nehmen, verkündete Stephen King, alles geschrieben zu haben, was es für ihn über den Dunklen Turm zu erzählen gab. Für den amerikanischen Überautor ist die Reise abgeschlossen. Für Roland den Revolvermann noch lange nicht. Die Reise von Kings Helden geht weiter, aus den Buchseiten heraus und hinein in andere Medien. Die Abenteuer bleiben dieselben. Und was für Abenteuer das sind!
King hat eine ganz besondere Fantasywelt entworfen. Eine, die sich amerikanischer Mythologie bedient. Das kannte man so noch nicht: Fantasy gepaart mit Western-Motiven. Alles spielt in einer Landschaft, die man postapokalyptisch nennen, aber ebenso gut auch unverortet lassen kann. In Mittwelt tummeln sich Lords, Zauberer und Hexen, aber auch Cowboys, Sheriffs und Viehzüchter. Und schreckliche Wesen, die aus Fieberträumen eines Howard Phillips Lovecraft stammen mögen. Die „Guten" gegen die "Bösen“, das ist hier der „Bund“ gegen den „Scharlachroten König“ und seinen Adlatus, den „Mann in Schwarz“, der unter mehreren Namen verkehrt, wie Marten Broadcloak und Walter o'Dim.
Ein besonderer Vertreter der Guten ist Roland von Gilead, Roland Deschain, Sohn des Steven aus der Linie des Eld, und die Graphic Novel erzählt seine Geschichte, zeigt und beschreibt, wie er zur Nemesis des Mannes in Schwarz wird. Sieben Einzelhefte der Comic-Reihe, die im Original den Haupttitel „The Dark Tower: The Gunslinger Born“ trägt, sind im ersten deutschen Sammelband zusammengestellt worden.
Darin erfährt der Leser, wie Roland sich frühzeitig zum Revolvermann befördert, mit den Gefährten Cuthbert Allgood und Alain Johns seine „Ka-Tet“ genannte Schicksalsgemeinschaft formt und im Auftrag seines Vaters und anderen alten Herren auszieht, das Böse zu bekämpfen. Oder zumindest zu verhindern, dass es an Stärke gewinnt.
Unter Decknamen gelangen sie aus der Baronie Neu-Kanaan in die Baronie Miejis und kommen einer Verschwörung auf die Spur, bei der es um Ölreserven und mächtige Kriegsmaschinen geht, die man funktionstüchtig nicht in den Händen des dämonischen Wiedersachers John Farson sehen möchte.
Diese erste Mission, diese erste Bewährungsprobe im Dienste des Bundes, lässt Roland erkennen, wie schlecht es wirklich um Mittwelt steht. Und gleichzeitig lernt er, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Denn dieser erste Ritt als Revolvermann beschert ihm eine besondere Begegnung. Er trifft auf Susan Delgado, die zur Liebe seines Lebens wird.
Am Ende der ersten großen Auseinandersetzung mit den Feinden des Bundes stehen ein Sieg und eine Niederlage.
„Der Mann in Schwarz floh durch die Wüste… und der Revolvermann folgte ihm.“ Aufs Neue. Denn was die Texter des Covers und die PR-Leute dem Publikum weismachen wollen, stimmt – wie so oft – mal wieder nicht. Von einer „lang ersehnte[n] Fortsetzung“ ist da die Rede. „Die Geschichte um den Revolvermann Roland Deschain wird weitererzählt“, heißt es. He, wen wollen die eigentlich verarschen? – So würde King wohl fragen. Oder wissen sie es nur nicht besser?
Tatsächlich handelt es sich um keine Fortsetzung der in den Romanen beschriebenen Abenteuer. Die im Comic dargebotenen Ereignisse kennt man aus den Büchern, wenn auch in unchronologischer Reihenfolge. Die Graphic Novel schreibt die Saga nicht fort, sie liefert lediglich eine durchaus beeindruckende, kunstvolle grafische Umsetzung des literarischen Meisterwerks, eine offizielle Visualisierung, mit dem Segen des „königlichen“ Geschichtenschöpfers, wie ein kurzes Vorwort und ein offener Brief von Stephen King am Ende des Sammelbandes belegen.
Die Ausfertigung ist gelungen, in ausdrucksstarken, stimmungsvollen, allerdings in der Perspektive überwiegend stark eingeschränkten Bildern mit minimalistisch ausgestalteten Hintergründen.
Kraftvolle Dialoge und ein poetischer Erzählstil, der sich am Buch orientiert ohne zur platten Nacherzählung zu werden, machen das Comic-„Lesen“ zum Vergnügen. Ein großes Lob gilt dabei auch der Übersetzung durch Wulf Bergner. Die eigene Sprache, die Stephen King für das Epos entwickelt hat, ist gut erhalten geblieben.
Als Gimmick liegt dem ersten deutschen Sammelband noch ein reizvolles Poster vom Revolvermann bei. Außerdem kann sich der Comic-Aficionado über ein Cover mit Glanzeffekten und einen Anhang mit gezeichneten Landkarten, einer Cover-Galerie, Figurenskizzen, Rohzeichnungen, nicht verwendeten Entwürfen und der exemplarischen Genese eines Comic-Bildes mit Farbgebung freuen.
Fazit: Bildergeschichten können Bücher nicht ersetzen. Beim Lesen ist jeder sein eigener Künstler. An die Bilder, die im Kopf entstehen, wird ein Comic immer nur begrenzt heranreichen können. Als Ergänzung zu den Romanen oder gar als Einstieg in das Großwerk des „King“ (sorry, Elvis, hier ist ein anderer gemeint) ist die Graphic Novel allerdings absolut empfehlenswert. Die Erzählweise und die Wortwahl sind ebenso beeindruckend wie die Zeichnungen und die Kolorierung. Gutes Material für „lange Tage und angenehme Nächte“ – wie man wohl in Mittwelt sagen würde.
Der Dunkle Turm 1
Comic
Stephen King, Peter David, Robin Furth, Jae Lee, Richard Isanove
Heyne 2008
ISBN: 978-3-45326-578-3
240 S., Softcover, deutsch
Preis: EUR 19,95
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