von Daniel Pabst
„Decorum“ ist ein Comic, den man etappenweise lesen sollte. Es gibt darin schlicht zu viel zu entdecken. Die Reise beginnt mit dem Umschlagcover, welches – hat man es einmal abgenommen – ein gelbes Hardcover-Buch mit einem sonderbaren weiblichen Blumenwesen und einem großen bunten Ei zum Vorschein bringt. Ein Lesen in Etappen wird indirekt auch empfohlen, da ein goldenes Leseband angeheftet wurde. Gegliedert ist der Comic in 20 Kapitel, die in acht Teile gefasst wurden. Der erste Teil lautet: „Die feminine Kunst des Attentats“ und gibt damit das Programm von „Decorum“ vor. Dabei werden die Teile stets unterbrochen durch Material, welches uns tiefer in die Welt von „Decorum“ abtauchen lässt, wie etwa Karten der Planeten und Sektoren, Profildaten, oder Reiserouten. Diese Gestaltungen verdanken wir Sasha E Head, die als Grafikdesignerin auch das Alphabet der fremden Welten erstellte. Die deutsche Übersetzung des bei Cross Cult erschienenen Werks (ursprünglich von Image Comics) lieferte Christian Heiß. Jenny Franz war zuständig für die Redaktion und das Lektorat.
Der Autor Jonathan Hickman und der Zeichner und Illustrator Mike Huddleston nehmen sich in „Decorum“ viel Zeit, um ihre eigene Welt zu präsentieren, und die Leserinnen und Leser dorthin mitzunehmen. So eröffnet sich mit „Decorum“ eine phantastische Welt, die fast vergessen lässt, dass man vor sich einen Comic liegen hat, in den man hineinschaut. Einfach verblüffend kreativ und stilvoll sind die Zeichnungen und Farben, mit denen Mike Huddleston die Geschichte von Jonathan Hickman hat erstehen lassen. Und das geht durchgehend über eine Strecke von mehr als 400 Seiten im Format von 30,2 cm (Länge) x 19,9 cm (Breite) x 3,5 cm (Höhe).
Die Zeichnungen der vielen Seiten könnten als eigenständige Poster für sich wirken – und das nicht nur dann, wenn wir auf einer Seite nur wenige Panels bis hin zu nur einem Panel zu sehen bekommen. Die Farbgebung kennt in „Decorum“ einfach keine Regeln. Sie ist von überbordender Fantasie: Mal beschränkt sie sich auf das Wesentliche, wie zum Beispiel bei Schwarz-Weiß-Szenen, da dort bewusst nur Farbe eingesetzt wird, um etwas hervorzuheben, oder im Rahmen der Ausbildung bei der Schwesternschaft, wo die Seiten in Sepia alten Fotografien ähneln. Ein anderes mal füllen sie die Seiten komplett, wie bei der Pastellmalerei, sind blass, skizzen- oder traumhaft, dann fotorealistisch, und könnten an anderer Stelle einem Computerspiel entsprungen sein. Der Wechsel zwischen diesen (weitaus weiteren, nicht genannten) Stilen macht Spaß und wurde passend zur Erzählung gewählt. Es ist beinahe ein Wunder, dass diese alle von ein und demselben Künstler stammen.
Neben dieser wahrlich sehenswerten Kunst besticht „Decorum“ auch durch die Handlung. Jonathan Hickman schreibt seine eigene Geschichte, und doch nimmt er dabei Bezüge auf bekannte Werke der Science-Fiction und des Action- und Kopfgeldjäger-Genres. Das gelingt ihm sehr gut, da er bei all den Anlehnungen – wie das Motiv einer Schülerin und einer Meisterin – nicht vergessen hat, seine eigenen Ideen zu betonen. Neben der gehörigen Portion an Gewalt, die er in „Decorum“ mit Glaubens- und Ursprungsfragen vermengt, ist durch die Kurierin Neha Nori Sood und der angesehenen, adelsgleichen Assassinin Mrs. Morley als deren Meisterin eine spannungsvolle Beziehungsebene vorhanden. Auch hier hat Hickman auf bekannte Muster und Klischees gesetzt, wenn zum Beispiel die junge, arme (und elternlose?) Kurierin bei ihrer Aufnahmeprüfung in die Schwesternschaft ungestüm, frech und gar nicht heldenhaft von ihrem bisherigen Leben berichtet. Dennoch ist so eine Szene erfrischend zu lesen, da wieder eigene Elemente in die Welt von „Decorum“ eingebaut wurden.
Wie bereits aus der Überschrift des ersten Kapitels zu erahnen, ist die Schwesternschaft Dreh- und Angelpunkt. Die weibliche Protagonistin entwickelt sich dabei zusehends zur Frau und hat ihre eigene Vorstellung davon, was sich ziemt und was nicht – wo wir wieder beim Titel wären. Den Anstand nicht zu verlieren, während man Assassinin wird, ist eigentlich ein Widerspruch in sich. Doch Jonathan Hickman und Mike Huddleston schaffen es in ihrer Welt, diesen Spagat eindrucksvoll in Szene zu setzen. Und als Mrs. Morley ihrer Schülerin in einem entscheidenden Moment mitgibt: „Dieses Mal ist jede Frau eine Insel, allein in einer See aus Sternen“ schwebt da mehr als nur ein Hauch Poesie über die Seiten. Am Ende des Werkes sind 16 doppelseitige Cover abgedruckt, welche die Reise harmonisch ausklingen lassen – und dennoch neugierig auf eine Fortsetzung machen. Sehr gut möglich, dass wir über Mrs. Morley, Neha Nori Sood, und ihr futuristisches System in Zukunft mehr erfahren.
Fazit: „Decorum“ ist ein sehenswerter 408-seitiger Science-Fiction-Comic, der die Vielfalt der Weiblichkeit lobpreist. Bei dem stolzen Preis erhält man eine sehr schöne Aufmachung, bei der auch die Papier- und Druckqualität stimmt. Die Zeichnungen und Farben von Mike Huddleston werden so eindrucksvoll in Szene gesetzt. Die Geschichte von Jonathan Hickman gerät dabei an manchen Stellen in den Hintergrund, womit man ihr eigentlich Unrecht tut. Denn „Decorum“ hat ausreichend eigene Gedanken, um auch inhaltlich zu faszinieren. Bis zu einer möglichen Fortsetzung steht dieser Comic daher als ein sehr empfehlenswerter Einzelband im Regal, der bereits jetzt danach ruft, ein zweites und drittes Mal gelesen zu werden. Bei „Decorum“ gibt es so viel zu entdecken und zu überdenken!
Decorum
Comic
Jonathan Hickman, Mike Huddleston
Cross Cult 2022
ISBN: 978-3-96658-546-0
408 S., Hardcover, Deutsch
Preis: EUR 48,00
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