von André Frenzer
Das „New Weird“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Fantasy-Literatur weiterzuentwickeln. Dabei versucht es sich von konservativen – oder vielleicht auch gewohnten – Genre-Konventionen zu lösen, wie sie seit J.R.R. Tolkiens „Der Herr der Ringe“ Bestand haben. China Miéville, Jahrgang 1972, vermischt in seinen Geschichten oftmals Elemente der Science Fiction, des Steampunks und des Horrors, um eben völlig neue Welten zu erschaffen. Und es sei vorweggenommen: „Das Gleismeer“ erzählt zwar eine sehr klassische Abenteuergeschichte, jedoch in einer absolut fantastischen Welt. Aber der Reihe nach.
Alles beginnt mit einem blutüberströmten Jungen. Und gleich darauf, als ob es dem Autor selbst zu brutal wäre, spult die Geschichte sofort im nächsten Kapitel ein paar Tage zurück und wir erfahren, warum Sham ap Soorap – so der ungewohnt klingende Name des Jungen – blutüberströmt ist. Denn Sham, jung und unerfahren, arbeitet an Bord eines Maulwurfjägers, welcher soeben einen großen südlichen Moldywarp erlegen konnte und nun den Kadaver ausschlachtet. Moment, Maulwurfjäger?
Die Welt, welche Miéville für „Das Gleismeer“ entworfen hat, ist absolut fantastisch. Der Planet ist geprägt von Inseln, welche aus Felsen bestehen. Zwischen den Felsen gibt es ein unendliches Meer … aus Schienen und Gleisen. Hier verkehren Handels- und Kriegszüge, aber auch Maulwurfsjäger wie die Medes, an deren Bord Sham ap Soorap angeheuert hat. Nun könnte man annehmen, dass das Fahren auf Gleisen deutlich weniger Gefahren birgt als ein Meer voller Wasser, doch weit gefehlt: Die heimische Fauna ist auf abnorme Größe angewachsen und gigantische Maulwürfe, Wühlmäuse, Würmer, Nacktmulle oder Ameisenlöwen machen den blanken Erdboden zu einer tödlichen Gefahr. Wehe dem Zug, der inmitten des Gleismeeres havariert.
Doch damit nicht genug. Neben dem Gleismeer bietet diese Welt noch einige andere Besonderheiten. Sei es der Oberhimmel, der hinter einer giftigen Decke tiefhängender Wolken verborgen ist. Oder das Epave, welches in der Landschaft verstreut herumliegt. Epave? Dabei handelt es sich um Artefakte und Relikte sowohl vorhergegangener, untergegangener Zivilisationen aber auch um Weltraumschrott, welcher von anderen Planeten hier angespült wurde. Artefakter durchstreifen das Gleismeer auf der Suche nach den besten Artefakten – und Sham träumt davon, einer von ihnen zu sein. Doch natürlich entwickelt sich die Geschichte anders als gedacht. Denn auch wenn ihn ein Fund an Bord eines umgestürzten Zuges vom Deck des Maulwurfjägers Medes hin auf ein anderes Abenteuer führen wird, so wird er doch kein Artefakter.
Bereits in dieser kurzen Zusammenfassung mag deutlich werden, wie extravagant die Welt ist, welche Miéville hier entwirft. Dabei geht er auch soweit, mit ausgedachten Fachbegriffen – „Epave“ ist nur ein Beispiel – um sich zu werfen. Es gelingt ihm jedoch verhältnismäßig mühelos, dies alles glaubhaft und stringent zu präsentieren, sodass man sich als Leser nie überfordert fühlt. Auch folgen viele Erklärungen für das seltsame Vokabular auf dem Fuße oder sie lassen sich rasch aus dem Kontext des Gesagten erschließen. Das weiß zu gefallen und führt tief in eine organisch atmende Welt voller fremdartiger Wunder.
Fast schon unspektakulär nimmt sich daneben die Handlung von „Das Gleismeer“ aus. Tatsächlich handelt es sich um eine klassische, fast schon traditionelle Abenteuergeschichte im Stile eines Herman Melvilles oder eines Robert Louis Stevensons. Denn was Sham ap Soorap findet, ist nichts weniger als einer Art verklausulierter Schatzkarte. Während er in einer der Hafenstädte neue Freunde trifft, stellt sich rasch heraus, dass es diverse Parteien gibt, die Interesse an Shams Fund haben. Während Marine, Piraten und Artefakter damit beginnen, dem Jungen nachzustellen, kümmert sich einzig die Kapitänin der Medes nicht weiter um Shams Fund – denn Kapitänin Naphi ist davon besessen, Mocker-Jack zu fangen, einen gigantischen, fahlweißen Maulwurf, welcher ihr einst einen Arm abgerissen hat. Wer Ähnlichkeiten mit „Moby Dick“ entdeckt, liegt nicht ganz falsch. Gepaart mit Stevensons „Schatzinsel“, einem guten Schuss „Coming of Age“ und gewürzt mit vielen fantastischen Elementen – unter anderem werden die Strugatzki-Brüder als Inspirationsquelle genannt – entsteht eine hoch interessante Melange. Dabei ist es natürlich von Vorteil, dass Miéville seinen Protagonisten Sham zwar recht a-typisch als unbedarften Jungen auf Heldenreise anlegt, ihm aber genügend eigenen Charakter zu verleihen weiß, dass man als Leser mit dem Burschen mitfiebern kann.
Sprachlich ist „Das Gleismeer“ eine Wucht. Neben der sehr flotten Schreibweise Miévilles und dem hohen Tempo, welches er der Geschichte angedeihen lässt, ist es vor allem die Sprachgewalt, welche mitreißt. Denn Miéville beschreibt dramatisch, überbordend, detailverliebt und nie langweilig. Er wirkt von seiner Geschichte begeistert und als wolle er sie mit Begeisterung erzählen. Dazu gibt es viele, technisch interessante Kniffe – wie das oben erwähnte Erfinden zahlreicher Vokabeln, welche zugleich rasch erklärt werden müssen. Außerdem durchbricht das Buch kapitelweise die vierte Wand und erklärt dem verdutzten Leser in raschem Stil Details, welche für das soeben passierte oder das gleich Kommende wichtig sind. Und trotz der eigentlich düsteren Atmosphäre dieser Welt gelingt es dem Autor, eine geradezu heitere, abenteuerliche, spannende Geschichte zu schreiben, welche einfach fesselt.
Ach ja – wer das Buch zum ersten Mal in die Hand nimmt, dürfte irritiert darüber sein, dass alle „und“ mit „&“ dargestellt werden. Doch auch dies erklärt sich irgendwann und ist kein technischer Fehler irgendeines seltsamen Lektoren.
Fazit: „Das Gleismeer“ ist eine fesselnde, wenn auch sehr traditionelle, „Coming of Age“-Abenteuergeschichte in einer absolut fantastischen Welt, von der man gerne mehr erfahren möchte. Wer mit moderner Fantasy etwas anfangen kann, sollte hier unbedingt genauer hinsehen.
Das Gleismeer
Fantasy-Roman
China Miéville
Heyne Verlag 2015
ISBN: 978-3-453-31540-2
400 S., Paperback, deutsch
Preis: 13,99 EUR
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