Cyberpunk V3.0

"Cyberpunk V3.0"? Nach der ersten Verlagsankündigung in 2001 und der anschließenden Auszeit von Talsorian-Chef Mike Pondsmith wartete die Fangemeinde über fünf Jahre auf die 3. Edition des Rollenspiel-Veteranen. Am 16.11.2005 war es dann endlich soweit: Talsorian schickte die ersten Exemplare der V3.0 über den großen Teich. Doch die Frage aller Fragen lautet: Hat sich das Warten gelohnt?

von schiz

 

In the Dark Future, the Megacorporations ruled the world from their starscraper towers, enforcing that control with armies of cyborg assassins. While the boostergangs roamed a shattered urban wilderness, the endless party went on 24-7 in the hottest clubs, sleaziest bars and meanest streets this side of the Postholocaust. But that was before the Crash; before the dark days of 203X.
Now the battlefield belongs to the new Lords of the Street: the DNA-shape shifting Reefers vs. the full-body cyborgs of Corpore Metal, Desnai's robo-enhanced mechajocks against the monster makers of Riptide, the nano-boosted roadwarriors of Rolling State against the cybertech megaweapons of the urban Edgerunners.
So get ready to hit the Street in this new incarnation of the now legendary roleplaying game of the Dark Future -  a world so dangerous, so dark, that only the toughest, smartest and most cybered-up will survive.
But you can deal with it. Because you're ready. Because you're - Cyberpunk.

"Got live metal inside me-
"Razors under my skin-
"Crystal mind and wired nerves of steel-
"Still chippin'in…"
– Silverhand

Der lange Weg zum Ziel

Bis zur herbeigesehnten "Cyberpunk V3.0" war es ein verdammt langer Weg: 1988 erblickte "Cyberpunk" (noch als schmale, unscheinbare Box) das Licht der noch nicht arg so düsteren Welt und mauserte sich schließlich mit "Cyberpunk 2.0.2.0" zum Zugpferd von Talsorian Games. Lizenznehmer wie Ianus Publications und Atlas Games sorgten mit Abenteuern und Quellenbüchern mit zum Teil alternativem Hintergrund (Horror meets Cyberpunk) für Abwechslung auch jenseits der offiziellen Spiellinie. In Deutschland erstmals 1992 in einer schönen, wenn auch labilen Softcoverausgabe von Welt der Spiele publiziert, war sogar ein Deutschland-Quellenband im Gespräch, doch daraus wurde nichts. WDS reformierte sich, verlegte den Schwerpunkt auf seinen Vertrieb, die Lizenz ging schließlich an den Games-In-Verlag. Still ist es seitdem geworden. Die letzte Übersetzung erschien mit "Tatort Night City" vor 10 Jahren!

"Cyberpunk 2.0.2.0" ist zunächst eng mit dem düsteren Roman-Universum des SF-Visionärs William Gibson verbunden. Als Söldner, Nomaden, Cops, Dealer oder Netrunner (Cyberpunks), in einer von Umweltverschmutzung, Armut und Korruption geprägten sowie von Cyberware, Technik und Matrix dominierten Welt, kämpfen die Spieler im Machtgerangel der Mega-Konzerne in verdeckten Operationen um Profit oder auch nur das nackte Überleben. Ausgangspunkt ist die fiktive Metropole Night City an der Westküste der USA. Mit Fortschreiten der Spiellinie und Quellenbüchern wie "Maximum Metal" und der "Firestorm"-Kampagne verlagert sich der Schwerpunkt schließlich mehr in Richtung Powergaming und größere Gefechte, ja gar ganze Konzernkriege.

Pondsmith selbst hat schließlich die Nase voll und will neue Wege gehen: 1995 entwickelt sich mit der 2nd Edition des 1993 für "Cyberpunk" veröffentlichten Quellenbuches "Cybergeneration" ein eigenständiges Rollenspiel, eine Fortsetzung von "2.0.2.0", die sich eher am Anime-Cyberpunk à la Akira orientiert: Die nächste Generation der Cyberpunks, durch eine Seuche (die so genannte Carbon Plage) genetisch mutierte Jugendliche, rebellieren gegen Konzerne und Gesellschaft mit der Hoffnung auf eine bessere Welt. Beide Spiellinien erfahren ein jähes Ende als Pondsmith eine Auszeit ankündigt und sich fortan beim Megakonzern Microsoft in Lohn und Brot verdingt. Auf die bereits angekündigte V3.0 sollten die Fans sehr lange warten…

Der neue Look?

Puh. Die Aufmachung ist eine Katastrophe.  Kein vernünftiges Cover, Computergrafiken mit Barbie-ähnlich-animierten Cyberpunks ersetzen die Illustrationen. Das Layout dominiert ein giftgrüner Hintergrund, die gewählten Schriften schwanken zwischen verschwenderisch großen Lettern bis hin zu mikroskopisch winzigen Buchstaben, die das Auge doch arg anstrengen. Argh.

Das Jahr 203X…

Die V3.0 knüpft an die letzten Ereignisse im "2.0.2.0"-Universum an: Der 4. Konzernkrieg, (thematisiert in der Kampagne "Firestorm") zwischen den Konzern-Giganten Militech und Arasaka eskaliert: Arasaka, mit dem Rücken zur Wand, zündet in Night City einen nuklearen Sprengkopf. Genug ist genug. Die Regierungen, bislang nur wenig mehr als untätige Marionetten der Konzerne, greifen angesichts der drohenden Katastrophe hart durch: Militech wird von den reformierten United States verstaatlicht, Arasaka von japanischen Truppen besiegt. Der 4. Konzernkrieg findet sein Ende.

Doch es soll noch schlimmer kommen: In den Wirren des Krieges setzte Arasaka einen Bio-Virus frei, der jegliches Papier frisst und vernichtet. Unschätzbares Wissen geht verloren. Und damit nicht genug: Kurz darauf taucht im Netz ein mächtiger Virus auf, kreiert vom berüchtigten Netz-Virtuosen Rache Bartmoss. Der Datenkiller gerät völlig außer Kontrolle und führt schließlich zum absoluten DataKrash in der Matrix. Das Netz bricht zusammen. Die Weltwirtschaft kollabiert und der totale Krieg bricht aus. Ganze Nationen vergehen in nuklearem Krieg und Bombardements aus dem Orbit.

Amerika im Jahr 203X: Eine zivilisierte Ostküste unter Kontrolle des United States Government, eine Art "Wilder Westen" unabhängiger Territorien jenseits des Mississipi und eine gesetzlose Westküste von Seattle bis nach Mexiko. Night City ist durch ein Experiment mit Nanobuilder-Technologie zu einem gewaltigen lebenden Organismus, einer sich ständig verändernden und wuchernden Metropole mutiert. Die guten alten Konzerne existieren in den vergleichsweise schwächeren Neocorps fort: Hier finden sich noch manch alte Bekannte wie beispielsweise Petrochem.

An die Stelle der Staaten sind nun moderne Stammesgesellschaften getreten, die so genannten AltCults, mit ihrer eigenen Lebensphilosophie, eigenen Regeln und mit einer ganz speziellen neuen Technologie versehen, die miteinander in Konkurrenz um Lebensraum und Ressourcen stehen. Der mit Hinweis auf Bismarck von Talsorian verwendete, verstümmelte deutsche Begriff „KultureKampf“ ist dann auch eines der zentralen Themen der neuen Edition. Die Charaktere aus den AltCults stellen die neuen Cyberpunks.

  • Die Edgerunner ähneln noch am ehesten den alten Cyberpunks aus "2.0.2.0", versehen mit neuen HighTech-Waffen und der "NuCybe", einer verbesserten Cyberware ohne den Nachteil der drohenden Cyberpsychose.
  • Reefer: In den versunkenen Küstenstädten lebende, aquatische Nomaden deren "Transform Nodes"-Technologie ihnen den Gestaltwandel erlaubt. Dabei mutieren Fäuste zu Schwertklauen, Arme zu Tentakeln, der Reefer kann körpereigenes Gift über einen Biss injizieren, unter Wasser atmen oder sein Äußeres in das andere Geschlecht verwandeln.
  • Desnai: Ziemlich abgefahrener AltCult, deren Parkologies (und nicht zuletzt der Name selbst) an die Themenparks des guten alten Disney erinnern. Ihre fantastischen Enklaven, etwa Nachbauten mittelalterlicher Städte oder futuristischer Weltraum-Kolonien, werden von einer großen Armee Roboter erbaut und geschützt. Ihre Technologie "Mechapresence" erlaubt die Steuerung von Maschinen durch Gedanken.
  • Rolling State: Nano-geboostete Nomaden, die in ihren mobilen Festungen und Städten die Weiten Amerikas beherrschen. Die Cybertech "Adaptive Nanosymbiosis" der Rollers verleiht die Fähigkeit zur Heilung und Regeneration, schützt vor Schaden und neutralisiert Gifte und Krankheiten.
  • Riptide: Sie beherrschen die schwimmenden Städte, ursprünglich aus im 4. Konzernkrieg fortgerissenen Megastädten Japans entstanden. Durch "Bioforms" erschaffen sie sich genetisch manipulierte Kreaturen, eine Armee lebender Waffen und Diener und Werkzeuge…
  • Cee Metal: Voll-Cyborgs, die sich aus einer Gruppe desillusionierter Borgs aus der Wüste New Mexicos heraus zu einer mächtigen Fraktion entwickelt haben. Ihre Technologie "Livemetal" kreiert lebensfähige, sich regenierende Cyborgs mit Knochen aus Carbon, Muskeln aus Myomar und einer Ummantelung aus Pseudo-Fleisch. Der Borg kann je nach Aufgabe oder auch bei starker Beschädigung seinen Körper wechseln.

Um in den Besitz einer der neuen Technologien zu kommen (lechz), muss man zunächst Zugang zu einer der Enklaven des jeweiligen AltCults haben. Der Zugang wird durch einen Chip gewährt, der beim Betreten der Enklave abgetastet wird. Hat man sich Zugang verschafft, muss man nun genügend so genanntes "Giri" sammeln, denn mit Geld kommt man hier nicht weit. Diese neue Form der Währung wird sich durch Gefallen verdient, die man den Bewohnern der Enklave leistet. Den OldCybe, alten Cybertech-Kram mit Humanity-Cost (Menschlichkeitsverlust mit drohender Cyberpsychose), kann man aber weiterhin noch durch gute alte Creds kaufen und vom MedTech seines Vertrauens einsetzen lassen.

Netrunning: Vom Netz ist nicht viel geblieben: Es existieren noch eine Handvoll kleinerer lokaler Intranets. Das Fehlen eines globalen Netzes erschwert das Hacken der verbliebenen Netze: Ein Netrunner kann sich aus Netz A nicht einfach in Netz B hacken, sondern muss sich vor Ort ins lokale Netz einwählen. Und das ist nicht alles: Als Constructs bezeichnete, spezielle Black-Ice-Programme schützen die stark gesicherten Datenfestungen. Constructs können sich mittels Einsatz von Nanotechnologie in der realen Welt materialisieren. Ein Netrunner ohne Backup in den Real-Welt ist schnell Asche!

Mechanismen

Die Regeln basieren auf dem universellen Fuzion-Regelsystem, das auch schon bei "Dragonball Z" (Talsorian), oder dem "Victoriana RPG" (Heresy Gaming) zum Einsatz kam. Doch alte Hasen brauchen nicht um die gewohnten Vorzüge der schnellen und einfachen Interlock-Regeln der "2.0.2.0" zu bangen, denn die Mechanismen sind im Kern unverändert. Es gibt zehn Stats (die üblichen Attribute), die den Charakter ausmachen. Weiter wird zwischen Perks (speziellen Merkmalen wie "Authority", "Wealth" etc.), Talents (angeborene Fähigkeiten wie "Beidhändigkeit") und den üblichen Skills unterschieden. Lobenswert: Im Vergleich zur "2.0.2.0" liegen die Startwerte der Stats eines Cyberpunks niedriger, Powergaming wird so weitgehend unterbunden. Grundsätzlich wird auch weiterhin Stat + Skill + 10 gegen einen vom Spielleiter gewählten Mindestwurf gewürfelt. Das alte Kapitel "Friday Night Firefight" mit den Kampfregeln wurde überarbeitet: Die antiquierten Wounds-Kästchen sind Hitpoints gewichen. Stun/Shock- und Death-Saves machen aber wie bereits in "2.0.2.0" jedes Gefecht zu einem realistischen und riskanten Albtraum für die Charaktere. Gut, dass es noch den bekannten MediKonzern TraumaTeam (das Äquivalent zum DocWagon-Team bei "Shadowrun") gibt, um die Jungs wieder zusammenzuflicken.

"Cyberpunk V3.0" gibt sich sehr einsteigerfreundlich. Eine ganze Reihe von vorgefertigten Character-Templates soll Neulingen den Einstieg erleichtern, um zeitsparend direkt in das Spiel einsteigen zu können. Hmmm… den Templates stehe ich recht skeptisch gegenüber. Als Download auf der Homepage von Talsorian? Gerne! Im Buch auf 16 Seiten? Platzverschwendung! Denn nach einmaligen "Anzocken" mit Templates werden die meisten Spieler sich lieber einen individuellen Cyberpunk zusammenbauen wollen. Nützlich dagegen die NPC-Templates, auf die man erfahrungsgemäß gerne hin und wieder mal zurückgreift. Bei allen Anstrengungen wird leider alleine die grässliche Aufmachung bereits viele Neueinsteiger abschrecken.

Zurück zur Ausgangsfrage…

Hat sich das Warten gelohnt? Zunächst hat "Cyberpunk V3.0" alle meine Erwartungen enttäuscht. Nicht viel ist geblieben vom ursprünglichen Neuromancer-Flair des Urvaters aller Cyberpunk-Spiele. Die Konzerne als böse Buben sind weitgehend aus dem Fokus des Spiels geraten, das Netrunning wird fast stiefmütterlich auf wenigen Seiten abgehandelt, für mich aber essentielle Bestandteile des Genres Cyberpunk. Der papierfressende Bio-Virus wirkt in Zusammenhang mit dem gleichzeitigen DataKrash des Netzes doch arg konstruiert. Als die V3.0 angekündigt wurde, habe ich mich auf ein Back-to-the Roots gefreut, weg vom Powergaming der letzten Ereignisse aus den jüngeren "2.0.2.0"-Quellenbüchern. Ich habe "Cyberpunk" immer den Vorzug vor "Shadowrun" gegeben, weil es sich in Atmosphäre und Realismus eng an die Buchvorlage von Gibson hielt.

V3.0 offenbart eine interessante Spielwelt mit einer Vielzahl von stimmigen Ideen, die Grundstimmung des Old-School-Cyberpunk aber ist dahin. Die zum Teil recht abgefahrenen AltCults sind bedingt durch den begrenzten Buchumfang noch sehr oberflächlich beschrieben und lassen viele Fragen offen. Auf der anderen Seite gefallen mir einige Aspekte sehr gut, wie etwa die Monster und lebenden Werkzeuge der Riptide, die rollenden Festungen der State's, die Black-Ice-Constructs, die Giri-Währung etc. Auch gibt sich  Talsorian Mühe, die Atmosphäre durch punktuelle und detaillierte Beleuchtung des Lebens in der neuen Zukunft zu vermitteln, zum Beispiel durch die Beschreibung des Agents (eines modernen Lebensmanagement-Tools, das die früheren Handys abgelöst hat), futuristischer Kleidung, Transportmittel, Synth-Food etc.  Auch weite Teile der neuen Technologien, wie das Livemetal, Mechapresence und Bioforms sind klasse und das "neue", wuchernde und sich ständig veränderte Night City bietet durch seine gigantische Größe viel Raum für Abenteuer.

Fazit: Der erhoffte Kracher ist ausgeblieben. Im Vergleich zu "Cyberpunk 2.0.2.0" fällt die V3.0 in meinen Augen durch eine Überdosis an abgefahrenen Neuerungen leider ab. Gerade Fans des klassischen Cyperpunk-Genres fühlen sich hier nur noch bedingt heimisch. Stattdessen eröffnet sich ein neues, Genregrenzen sprengendes Setting, das neuen Spielern eine Vielzahl an verrückten Möglichkeiten bietet. Und für "2.0.2.0"-Veteranen bleibt immerhin eine interessante Cyberpunk-Variante mit eleganten und verbesserten Spielmechanismen, die gespickt ist mit einer Vielzahl an tollen Ideen, die sich auch in jede "2.0.2.0"-Kampagne übertragen lassen.


Cyberpunk V3.0
Grundregelwerk
Mike Pondsmith, Lisa Pondsmith, Will Moss
Richard Talsorian 2005
ISBN: 1-891933-03-5
291 S., Softcover, englisch
Preis: $ 32,00

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