von Amel
Ob das Phänomen der „Starter Sets“ der Tatsache geschuldet ist, dass viele neue Rollenspiele über Kickstarter finanziert werden und solche Boxen hervorragende Möglichkeiten für Stretch Goals bieten? Oder daran, dass der moderne Rollenspieler zu viel Geld aber zu wenig Zeit hat? Die Frage kann wohl niemand beantworten, aber für viele Spiele werden heutzutage diese luxuriösen Starter Sets herausgebracht. Meist enthalten sie kurze Regeln, ein Abenteuer und zusätzliches Material, das den ersten Spielabend unterstützt. So auch das „Blade Runner RPG Starter Set“. Es enthält ein kurzes Softcover-Regelbuch von 80 Seiten, den ersten Case File (so werden in „Blade Runner“ die Abenteuer genannt) mit dem Titel „Electric Dreams“, zwei Sätze von speziell angefertigten Würfeln, einen Stapel Spielkarten für unterschiedliche Zwecke, eine Posterkarte von Los Angeles, vier fertige Charaktere und einen braunen Umschlag vollgestopft mit Handouts für das Abenteuer, einschließlich Szenenfotos und Karten.
Um es vorwegzunehmen: Man braucht das Starter Set nicht, wenn man sich das Grundregelbuch, das gleichzeitig erschienen ist, kaufen will – aber irgendwie verpasst man dann was. Das Spiel ist auf diese Case Files ausgelegt. Das Grundbuch gibt natürlich Tipps, wie man selbst welche entwirft, aber die fertigen Fälle machen, wie ich gleich noch zeigen werde, den Reiz des Spiels aus. Außerdem sind die Würfel und Initiativekarten enthalten. Auch diese braucht man nicht. Karteikarten mit den Zahlen 1 bis 10 und normale Würfel von W6 bis W12 tun es auch. Aber es wird einfacher und stilvoller mit diesen Materialien.
Doch fangen wir vorn an: die Regeln. Das Heft hat 80 Seiten und enthält im Vergleich zum vollen Buch gekürzte Regeln, aber alles, was man zum Spielen das Falls braucht. Es ist wunderhübsch gestaltet mit dunklen Farben und verwaschenen Bildern. Die Bilder sind mir teilweise zu stark verwaschen, aber stimmungsvoll sind sie allemal. Die Schrift vom normalen Fließtext ist allerdings sehr klein und gepaart mit dem verwendeten spiegelnden Hochglanzpapier für meine Augen etwas schlecht zu lesen. Keine Katastrophe, aber es könnte besser sein. Abgesehen davon gibt es an der Gestaltung kaum etwas auszusetzen.
Die Einführung ist kurz und übersichtlich und bietet einen hervorragenden Überblick. Die Spielerinnen und Spieler übernehmen Mitarbeiter der LAPD Rep-Detect Unit (die namensgebenden Blade Runner), sprich, sie klären Fälle auf, die mit Replikanten zu tun haben, also künstlichen Menschen. Das Spiel spielt 2037. Die Wallace Company (ein weltumspannender Riesenkonzern, der alles kontrolliert) hat die Nexus-9-Variante der Replikanten auf den Markt gebracht, die im Gegensatz zu den alten Varianten wieder sicher sein soll.
Die Regeln sind zwar angelehnt an die anderen Spiele von Free League, verwenden aber keinen W6-Würfelpool, sondern W6 bis W12. Man würfelt immer mit zwei Würfeln. Die Eigenschaften und die Fertigkeiten haben jeweils Werte von A (entspricht dem besten Würfel, dem W12) bis D (entspricht W6). Bei einer Probe kombiniert man eine Fertigkeit mit einer Eigenschaft und würfelt die beiden entsprechenden Würfel. Eine 6 oder mehr auf einem Würfel ist ein Erfolg, 10 und mehr zwei Erfolge. In der Box sind zwei Sätze mit W6 bis W12. Die hohen Zahlen sind entsprechend mit Symbolen gekennzeichnet, dass man auf einen Blick die Anzahl der Erfolge sieht.
Die Charaktererschaffung ist einfach. Die Charaktere haben eine überschaubare Anzahl an Fertigkeiten und Eigenschaften. Es gibt Humanity und Promotion Points, die die Charaktere abhängig von ihren Handlungen und Würfelergebnissen bekommen können und die für verschiedene Dinge, zum Beispiel auch Steigerungen, ausgegeben werden können. Das Ausrüstungskapitel ist kurz, bietet aber alles, was man für den ersten Fall braucht. Es gibt zum Beispiel den KIA, den Knowledge Integration Assistent, über den die Charaktere kommunizieren und auf die Datenbanken des LAPD zugreifen können, um Fotos und Berichte dorthin zu schicken oder selbst Informationen zu finden. Das kleine Gerät ist für das Spiel eine großartige Erweiterung, denn damit können die SC miteinander kommunizieren und sich unterstützen, auch wenn sie an verschiedenen Orten sind. „Never split the party“ war gestern.
Mir gefallen die Regeln sehr gut. Sie bieten Einfachheit kombiniert mit etwas Crunch und unterstützen das angestrebte Spielgefühl hervorragend – zumindest soweit ich das ohne Spieltest sagen kann. Mir ist nur nicht ganz klar, warum mit den Buchstaben ein zusätzlicher Umsetzungsschritt auf die Charakterbögen muss. Man hätte auch gleich mit den Zahlen arbeiten können.
Der Case File ist ein tief im Replikantenthema verwurzelter Kriminalfall. Detektivabenteuer sind nicht leicht zu schreiben. Zu leicht passiert es, dass sich die Charaktere in der Informationsflut verirren. Der vorliegende Fall ist extrem gut designt. Die Auflösung ist prinzipiell einfach. Es gibt nicht viele logische Schritte, die nötig sind, sie herauszufinden. Außerdem gibt es einen klaren Endpunkt. Die Tage sind aufgeteilt in Schichten und in einer Schicht von 6 Stunden kann man nur eine gewisse Menge erledigen. Die SC müssen sich also vermutlich trennen, um schnell genug zu sein. Denn eine Zeitleiste gibt an, wie der Fall jede verstrichene Schicht eskaliert, bis er zu Ende ist und etwas passiert, das den Charakteren klar macht, dass sie gescheitert sind. Die Charaktere können das Ende auf diese Weise nicht verpassen. Das Netz an Hinweisen ist gut und übersichtlich aufgearbeitet.
Toll ist auch die Idee, dass eine Schicht immer der Erholung der Charaktere dient. In dieser Zeit können Dinge passieren, die mit dem Privatleben der Figuren zu tun haben (der Fall liefert eine Tabelle). So wird den Figuren auf einfache Weise Leben eingehaucht.
Unterstützt wird das Ganze von den vielen toll gestalteten Handouts, die der Box beiliegen. Es gibt Dossiers, eine Zeitungsseite, Bilder von Überwachungskameras (in die man sogar hineinzoomen kann), Karten und andere Dinge. Dazu kommen die Spielkarten, von denen einige Bilder von NSC zeigen, denen die Charaktere begegnen.
Vor allem die tollen Handouts, aber auch die gute Geschichte gepaart mit guter Aufbereitung machen das Abenteuer zu etwas Besonderem. Es darf allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass trotzdem eine Menge Arbeit auf die Spielleitung wartet, die das Abenteuer vorbereiten will. Es gibt viele NSC, einige Örtlichkeiten und natürlich diverse Hinweise, über die es einen Überblick zu behalten gilt. Ein Fließdiagramm, das zeigt, wie die einzelnen Szenen und Orte zusammenhängen hilft bei der Vorbereitung, kann aber bestenfalls unterstützen. Ich habe eigentlich schon lange keine Lust mehr, Abenteuer aufwändig vorzubereiten zu müssen, aber hier lohnt es sich.
Die Case Files sind des zentrale Element von „Blade Runner“, das wird in der Box mehrere Male betont. Sie werden sicherlich den Großteil der zukünftigen Veröffentlichungen ausmachen. Wenn sie in der Qualität so bleiben wie „Electric Dreams“, dann können wir uns darauf freuen.
Fazit: Das „Blade Runner RPG Starter Set“ ist eine Box, die alles enthält, um den ersten Fall in der LAPD Rep-Detect Unit im Los Angeles von 2037 zu lösen. Die Regeln sind gut, einfach und passend. Die Gestaltung ist hervorragend. Das Abenteuer, das mit vielen in der Box enthaltenen toll gemachten Handouts gespielt wird, gefällt mir ausgezeichnet. Es ist für alle zu empfehlen, die Noir-Detektiv-Geschichten mögen. Würfel und weitere Materialien sind ebenfalls in der prall gefüllten Box enthalten. Ein tolles Produkt und fast schon ein Pflichtkauf, wenn man sich für das „Blade Runner RPG“ interessiert.
Blade Runner RPG Starter Set
Regelwerk und Abenteuer
Thomes Härenstam, Joe LeFavi
Free League 2022
EAN: 9789189143753
136 S., Box, englisch
Preis: EUR ca. 44,00
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