Android

Es war einer dieser Montagmorgen, an denen man das Bett gar nicht hätte verlassen dürfen. Stau in den Skylanes, dann die Kaffeemaschine defekt und zuletzt pfeift einen der Boss ins Büro und legt eine Akte auf den Tisch. Mord. Mal wieder. Wir haben uns die Erde untertan gemacht und den Mond besiedelt. Wir haben fliegende Autos, wir haben einen verdammten Weltraumlift und ein Drittel der Kollegen sind künstliche Menschen. Wir sind so weit gekommen – aber das Verbrechen ändert sich nie. Ach Dreck, was soll’s. Ein neuer Tag, ein neuer Fall. Gehen wir’s an.

von Bernd Perplies

„Android“, der neuste Wurf von Fantasy Flight Games, ist ein Brettspiel für drei bis fünf Spieler, die sich in der Rolle von Detektiven in einer dystopischen Zukunft auf die Spur von brutalen Verbrechen machen. In der futuristischen Stadt New Angeles, die mehr als nur ein wenig an das Setting in Ridley Scotts Philip-K.-Dick-Verfilmung „Blade Runner“ erinnert, gehen sie Spuren nach, fragen Zeugen aus und treffen Informanten und filtern so nicht nur letztlich aus einer Reihe von Verdächtigen den Täter heraus, sondern enthüllen gleichzeitig Stück für Stück eine Verschwörung, die hinter dem Mord steckt, während sie obendrein noch mit persönlichen Problemen und den Unbillen einer Existenz in einer von Intrigen und Verbrechen beherrschten Welt kämpfen.

Zu Spielbeginn – also nachdem man das Spielbrett aufgebaut und die Hunderten Marker und Karten sortiert hat – wählt jeder Spieler zuerst einen von fünf Detektiven aus, die sich nicht nur durch sehr unterschiedliche Charaktere auszeichnen, sondern durch spürbar verschiedene Sonderfähigkeiten auch eine jeweils etwas andere Spielweise erfordern. Dann wird einer der sechs möglichen Morde ausgewählt, und aus der Riege der stets gleichen sechs Verdächtigen werden so viele ausgelegt, dass sie der Spielerzahl plus eins entsprechen. Gerade beim ersten Spiel dauern diese Spielvorbereitungen relativ lange, auch weil es an den unterschiedlichsten Orten des Spielplans Marker zu platzieren gilt.

Das Spiel erstreckt sich immer über einen Zeitraum von zwei Wochen (das heißt zwölf Runden – sonntags machen die Ermittler blau), während derer jeder Mitspieler in der „Daytime Phase“ einen Zug macht, bevor in der „End of Day Phase“ globalere Spielmechanismen greifen. Ein Zug besteht aus mehreren Zeiteinheiten (gewöhnlich sechs, manchmal auch mehr), während derer ein Ermittler über den großen und von überbordend farbenprächtigen Spielplan von Schauplatz zu Schauplatz ziehen und dort entweder die jeweilige Spezialfähigkeit des Schauplatz nutzen oder Spuren folgen. Alternativ kann man auch hilfreiche Ereigniskarten ziehen und ausspielen, um einmalige oder auch langfristige Vorteile zu erhalten.

Ziel des Spiels ist es, möglichst viele Siegpunkte zu sammeln. Siegpunkte bekommt man – neben ein paar kleinen Sonderregeln – vor allem dadurch, dass derjenige unter den Verdächtigen eines Mordfalls, den man als Detektiv im Auge hat (zu Spielbeginn verdeckt verteilte, so genannte „Hunch Cards“ geben an, welche Person für einen selbst den Hauptverdächtigen darstellt und welche „mit Sicherheit“ unschuldig ist), aufgrund der erdrückenden Beweislast am Ende festgenommen wird. Richtig gehört: Es geht nicht darum, einen festgelegten Mörder zu entlarven, sondern aus einer Reihe von Verdächtigen denjenigen so stark zu belasten, dass er am Ende des Mordes für schuldig gesprochen wird, den man selbst auf dem Kieker hat. (Schöne neue Welt…)

Hierzu reist man entweder per Schwebefahrzeug oder via Dropship (Sondermarke) zu Orten, auf denen Lead Markers liegen (Aussagen, Spuren oder Aufzeichnungen, die mit der Tat in Zusammenhang stehen). Diesen Spuren kann man folgen. Das heißt entweder, Evidence Tokens aus einem Pool ziehen und – nach heimlicher Betrachtung – auf einen der Verdächtigen legen. Oder ein Puzzleteil auf den Teil des Spielbretts platzieren, an dem sich die hinter allem liegende Verschwörung enthüllt. Evidence Tokens weisen auf der Unterseite negative oder positive Zahlenwerte auf, die einen Verdächtigen entweder be- oder entlasten. Geschickt platziert, kann man so dafür sorgen, dass gewisse Personen am Ende fällig sind, andere ungeschworen davonkommen. Puzzleteile weisen derweil Verbindungslinien auf, die aneinandergelegt werden müssen und so eine Reihe halbseidener Gruppierungen, die um das quadratische Puzzlefeld in der rechten oberen Ecke des Spielbretts angeordnet sind, miteinander verbinden können. Für jede Verbindung gibt es am Ende zusätzliche Siegpunkte. Die Lead Markers werden nach dem Einsatz abschließend an einen anderen Ort der Stadt umgesetzt.

Neben diesem grundlegenden Spielmechanismus wäre „Android“ kein Fantasy-Flight-Games-Spiel, gäbe es nicht zahllose Hintertüren und Sonderregeln. Sie alle im Detail zu erklären, würde den Rahmen sprengen. Es sei daher nur grob aufgezählt, dass Spieler neben den Ermittlungen alle sechs Tage (also zwei Mal pro Partie) einen Plot, der ein privates Problem der Figur behandelt, lösen müssen. Außerdem sorgen allgemeine und mordspezifische Ereigniskarten für Sonderregeln während der Partie. So genannte Twilight Cards (hell und dunkel) verleihen der eigenen Figur Vorteile und zwingen den Gegenspielern Nachteile auf. Und etliche der Schauplätze weisen kleine Sonderregeln auf, die es einem etwa erlauben, Gefallen (Favors) unterschiedlicher Art einzutreiben, die wiederum als Währung für Alibis, Dropship Markers oder Baggage Markers (die man für seinen Plot braucht) dienen.

Wie sich leicht erkennen lässt, ist „Android“ dank seiner vielen, kleinen, miteinander verknüpften Regeln eine durchaus komplexe Angelegenheit, deren strategische Möglichkeiten sich mit einem oder zwei Spielen keinesfalls vollständig ausloten lassen. Es ist ein Spiel, das einiges an Bereitschaft von Seiten der Spieler erfordert, sich auf das Setting einzulassen und mit spielerischen Vorgehensweisen zu experimentieren. Belohnt wird man dafür mit einer Partie, die nicht nur durch ihr phänomenal gutaussehendes Spielmaterial Spaß macht, sondern einen durch zahllose kleine Hintergrundtexte in eine Welt hineinzieht, deren Komplexität der des Regelwerks in keiner Weise nachsteht und einen immer wieder neue spannende Details entdecken lässt. Hier haben sich die Macher Kevin Wilson und Dan Clark wahrlich ausgetobt.

Es ist nicht unbedingt ein Kritikpunkt, sondern vielmehr eine Anmerkung, dass „Android“ aufgrund seines festen Zeitablaufs relativ lange dauert. Da man immer zwölf Runden spielt und jeder Spieler dabei einen Zug von etwa fünf Minuten macht (manchmal etwas schneller, manchmal etwas langsamer), kann man sich selbst ausrechnen, wie viel Zeit eine Partie in Anspruch nimmt. Als Faustregel kann man etwa eine Stunde pro Mitspieler rechnen, dazu kommen noch eine gute halbe Stunde für Auf- und Abbau. Regelunsicherheiten können diese Zahlen leicht verdoppeln. „Android“ ist also nicht unbedingt ein Spiel, das sich für eine schnelle Runde unter der Woche eignet – vor allem nicht, wenn man zu fünft spielen möchte!

Fazit: „Android“ ist ein Spiel mit dem Potenzial, die Geister zu spalten. Die einen werden es dafür lieben, dass Spielthema und Spielmechanismen wirklich vortrefflich harmonieren und man im besten Falle mehrere Stunden als Hard-Boiled-Detektive in einer düster futuristischen Welt versinkt. Den anderen wird die Spieldauer die Tränen in die Augen treiben (aber wer Fantasy Flight Games kennt, müsste eigentlich wissen, worauf er sich einlässt). Mir persönlich gefällt „Android“ sehr gut. Die Aufmachung ist wirklich großartig, sowohl optisch als auch vom Hintergrund. Die vielen neuen Ideen, die in den Spielmechanismen stecken (sei es das Zusammenpuzzlen der Verschwörung, die Plots der Charaktere oder das Belasten der Verdächtigen), verleihen „Android“ seine ganz eigene Note. Und dank der wechselnden Morde, Plots, Events und Figuren, mit denen man spielen kann, vermag das Spiel auf jeden Fall auch mehr als nur eine Partie zu begeistern.


Android
Brettspiel für 3 bis 5 Spieler
Kevin Wilson, Dan Clark
Fantasy Flight Games 2008
ISBN: 978-1-58994-344-5
Sprache: Englisch
Preis: $ 59,95

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