Am liebsten mag ich Monster

Kann man Monster mögen? Um diese Frage auch nur annähernd beantworten zu können, bedarf es einer Definition, was unter dem Wort „Monster“ zu verstehen ist? Konsultiert man ein Lexikon, so findet man die Herkunft im Lateinischen bei dem Wort „monstrum“, was wörtlich „Mahnzeichen“ heißt. Doch auch Synonyme wie „Ungeheuer“, „Ungetüm“, „Untier“ oder „Scheusal“ lassen sich finden. Diese Graphic Novel lässt noch einmal neu über „Monster“ nachdenken …

von Daniel Pabst

„Am liebsten mag ich Monster“ ist eine Graphic Novel der Autorin Emil Ferris. Die Graphic Novel stammt aus dem Jahre 2017 und sorgte bereits damals für Aufsehen. Auszeichnungen wie der Eisner Award für die Kategorien „Beste neue Graphic Novel“, „Beste Autorin/Zeichnerin“, „Bestes Coloring“ sowie eine Nominierung für den Hugo Award sprechen Bände. Dreh- und Angelpunkt dieses Werkes ist das (gezeichnete) Tagebuch der zehnjährige Karen Reyes, die im Chicago der späten 1960er Jahre lebt. Sie träumt davon, ein Werwolf zu sein. In einem Interview sagte die Autorin, dass sie selbst Karen „war“ und Blöcke mit Kugelschreibern vollgezeichnet habe. Ja, richtig gelesen: Kugelschreiberzeichnungen!

Das Comic-Debüt ist jedoch nicht allein durch die Kugelschreiberzeichnungen virtuos und visuell eine Faszination, sondern punktet auch inhaltlich. Nach all des Lobes, gilt es dieses Werk genauer zu betrachten und zu ergründen, was es so besonders macht. Das Cover von „Am liebsten mag ich Monster“ bietet einen ersten Einblick. Zu sehen ist eine Frau, die von Angst geplagt wird und mit ihren Augen nach hinten schaut, da sie fürchtet, verfolgt zu werden. Diese Frau, so erfahren wir im Comic, heißt Mrs. Anka Silverberg und ist die Nachbarin von Karen. Am 14.02.1968 wurde sie jedoch tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Dazu lesen wir die Sätze: „Ihr wurde in ihrem Wohnzimmer ins Herz geschossen, aber gefunden wurde sie in ihrem Bett – als hätte sie sich schlafen gelegt“.

Karen glaubt an keinen Selbstmord und macht sich auf die Suche nach Spuren und Hinweisen, die zu einem Mörder oder einer Mörderin führen könnten. Dabei wirbelt sie in ihrem Wohnblock ordentlich Staub auf, und als sie die alten Tonbandkassetten von Mrs. Silverberg entdeckt und anhört, ist – auch für die Lesenden – nichts mehr so wie zuvor. Die Tonbandkassetten enthalten ein Interview der Toten, das sie einmal einem Journalisten gab. Hier erzählt sie über ihre Kindheit und Jugend, die sie in Berlin verbrachte. „Berlin war damals – zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg – eine schöne Stadt“, so tönen die Worte aus dem Kassettenspieler. Und weiter lesen wir: „(…) aber tief verletzte Stadt… überall gebrochene Körper & Seelen“. Die Zeit in dieser Stadt vergeht schleppend und die junge Mrs. Silverberg muss mit ansehen, wie der Körper ihrer drogenabhängigen Mutter, die sich das Geld als Prostituierte verdient, zerfällt. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich werfen ihre Schatten voraus …

Karen erlebt nicht nur in der Erzählung von Mrs. Silverberg, wie verletzlich und grausam Menschen sein können. Auch in ihrem Alltag hat sie zu kämpfen. Ihre Mutter und ihr Bruder Deeze verheimlichen ihr etwas. Die Nachbarschaft streut Gerüchte und auch hier schlummern düstere Geheimnisse, die Karen nach und nach mit ihrer kindlichen Detektivarbeit aufzuwecken scheint. In der Schule kämpft Karen darum, so anerkannt zu werden wie sie ist – mit all ihren Sonderheiten. Ihre beste Freundin hat sich von ihr abgewandt, obwohl sie diese so sehr liebt. Warum können Kinder so gemein zueinander sein? Wirft man einen Blick zurück auf das Cover, so zeigt sich die Genialität von Emil Ferris, die all die Geheimnisse bereits in den Augen von Mrs. Silverberg erkennen lässt. Hier spiegelt sich ein kleiner Werwolf – und damit: ein „Monster“!

Die Welt rund um Karen scheint kaum noch aushaltbar zu sein. Die Menschen kämpfen mit ihren eigenen Schrecken und Ängsten, die Politik spielt verrückt und Martin Luther King wurde ermordet. All das spiegelt sich auf noch abscheulichere Weise in der Lebensgeschichte von Mrs. Silverberg wider. Denn ein Blick in die Geschichte verdeutlicht: Schlimmer geht immer. Mrs. Silverberg selbst wurde mehrfach missbraucht, verkauft und nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten in ein Konzentrationslager entführt und eingesperrt. Der angsterfüllte Blick auf dem Cover von „Am liebsten mag ich Monster“ findet seine Wiederholung, als Mrs. Silverberg sagt: „Der Viehwagen voller hungriger, erschöpfter, ängstlicher Menschen… Das Pfeifen, das Quietschen der Bremsen und das Rütteln, mit dem der Zug zum Stehen kam (…). Die Mädchen und die Frauen wurden von den Männern und größeren Jungen getrennt …“

Auch wenn die Leserschaft weiß, dass Mrs. Silverberg das Martyrium auf irgendeine Art und Weise überleben wird, so sind ihre inneren Qualen und Wunden bis zum ihrem Tod am 14.02.1968 nie verheilt. Ob sie deshalb vielleicht doch den Freitod wählte, oder aber ihre Vergangenheit etwas damit zu tun haben könnte, wird hier nicht verraten, da auch die Autorin den Ausgang lange offenhält. Hinzu kommt, dass es sich bei „Am liebsten mag ich Monster“ mit seinen insgesamt 418 Seiten nur um den ersten von zwei Bänden handelt. Der zweite Teil ist erst jüngst erschienen, was auch verdeutlicht, dass sich so eine Graphic Novel nicht mal eben aus der Hand schütteln lässt – zumal die Autorin und Zeichnerin an einer Lähmung erkrankte, die sie nicht davon abhielt, das Werk zu schaffen. Für beide Bände benötigte sie insgesamt stolze sechzehn Jahre.

Wer oder was also ist dieses Monster, welches man am liebsten mögen sollte? Die einfachste Antwort bieten die „monströsen“ Zeichnungen, die Anspielungen auf berühmte Gemälde, wie etwa den „Nachtmahr“ von Johann Heinrich Füssli (1802), beinhalten. Monster gibt es in dieser Graphic Novel in allen Formen und Farben. Jede und jeder in der Geschichte scheint helle Seiten und Schattenseiten zu haben. Die Kugelschreiberzeichnungen dringen eindrücklich tief in  diese Bereiche ein und lassen Erschreckendes erblicken. Die Kreativität, die Emil Ferris zeigt, hat man so wahrscheinlich noch nicht gesehen. Ob in Schwarz-Weiß oder mit Farbzeichnungen – diese Seiten suchen ihresgleichen. Zudem gibt es zu Beginn eines jeden Kapitels eine ganzseitige Zeichnung, die an ein Cover einer Gruselgeschichte oder eines alten Horrorfilms erinnern lässt. Nicht zu vergessen, die Liebe zum Detail: Jede Seite ist bis zum Buchschnitt mit blauen Linien durchzogen, sodass die Illusion entsteht, zu glauben, man halte das echte „Tagebuch“ einer Zehnjährigen in seinen Händen.

Leseprobe

Fazit: Diese Graphic Novel ist einzigartig. Durch die Zeichnungen, welche alle mit Kugelschreibern angefertigt wurden, springen die fürchterlichen Geschehnisse den Lesenden geradezu entgegen. Gefangen im Sog des Ungeheuerlichen folgt man in zwei Zeitebenen der zehnjährigen Karen und der auf mysteriöse Weise ums Leben gekommenen Mrs. Silverberg. Je tiefer man hierbei blickt, desto mehr Schattierungen lassen sich erkennen. Wer etwas für die Geschichten und Bilder von Kunstschaffenden wie David Lynch übrig hat und – bildlich gesprochen – nicht davor zurückschreckt, in einen Ameisenhügel hineinzugreifen, der wird von diesem Werk und seinen „Mahnzeichen“ mitgerissen und begeistert werden.

Am liebsten mag ich Monster
Comic
Emil Ferris
Panini Comics 2018
ISBN: 978-3-7416-0808-7
418 S., Hardcover, deutsch
Preis: 39,00 EUR

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