von Frank Stein
2021 kam das Buch zum ersten Mal auf Deutsch heraus. Schon damals war es ein Ehrfurcht gebietender Brocken von einem Nachschlagewerk mit 2,5 kg Kampfgewicht und 448 Seiten Umfang. Doch die Zeit rast heutzutage, gerade auf dem Popkulturmarkt. Und so liegt bereits jetzt eine „erweiterte Neuausgabe“ der Werks vor, die mittlerweile fast 2,9 kg auf die Waage bringt und 512 Seiten an dicht gepacktem Inhalt bietet. Völlig egal, was da drinsteht, allein für diese enorme Text- und Illustrationsarbeit gebührt den Machern Respekt. Auf dem Cover sind die diversen Helden der modernen Zeit abgebildet – Spider-Man, Captain Marvel, Black Panther, der schwarze Captain America und Miss Marvel beispielsweise –, was zeigt, wie nah auch die Comics am Puls des MCU (Marvel Cinematic Universe) liegen.
Mehr als 1200 Helden- und Schurkenporträts soll der geneigte Leser im Inneren finden, zusammen mit mehr als 2000 Illustrationen. Diese Zahlen entsprechen kurioserweise genau denen der älteren Ausgabe, aber dass die mehr als 50 neuen Seiten nicht leer hinzugefügt wurden, davon habe ich mich persönlich überzeugt. ;-) Bonuspunkte bekommt der Verlag Dorling Kindersley übrigens schon jetzt dafür, dass sie den Preis von 59,95 EUR gehalten haben. In heutiger Zeit alles andere als selbstverständlich.
Was für ein Prestigeprojekt die Enzyklopädie für Marvel war und ist, zeigt sich auch an der Liste der Mitwirkenden. So gehören zu den elf Hauptautoren unter anderem der ehemalige Chefredakteur von Marvel, Tom DeFalco, Marvels erster offizieller Archivar, Peter Sanderson, Senior Vice President of Publishing bei Marvel Comics, Tom Brevoort, sowie namhafte Franchise-Sachbuchautoren wie Daniel Wallace, Matt Forbeck und Adam Bray. Das Vorwort verfasste in dieser Neuausgabe C. B. Cebulski, der aktuelle Chefredakteur von Marvel Comics, die zusätzliche Einleitung stammt unverändert von Marvel-Legende Stan Lee, der kurz vor seinem Tod für die Erstausgabe der Enzyklopädie euphorische Worte fand, die nach wie vor Gültigkeit haben.
Im Anschluss daran geht es los. Von A bis Z, von Abomination bis Zzzax, liefert das Buch eine erschlagende Fülle an Figurenporträts der Helden und Schurken aus dem Hause Marvel. Unbekanntere Charaktere, wie der geschäftstüchtige Eternal Gideon, die Privatdetektivin Dakota North oder der aquatische Fiesling Tiger Shark bekommen jeweils nur eine Sechstelseite spendiert, die größeren Namen – wie Ant-Man, Colossus, Hawkeye oder Spider-Woman – dürfen sich auf einer ganzen Seite ausbreiten. In Ausnahmefällen werden der A-Riege wie Spider-Man, Deadpool, Professor X und Captain America schon mal zwei bis sogar acht Seiten spendiert. Dabei fällt in der Neuausgabe auf, dass vielen Helden und Schurken zusätzlicher Platz eingeräumt wurde, um sie ausführlicher porträtieren zu können. Gerade im Bereich der absoluten Nebenfiguren hat sich jedoch oft kaum etwas geändert, sodass seitenweise praktisch Übereinstimmung zum Vorgängerband herrscht.
Die Einträge selbst sind gleich aufgebaut. In einem Info-Kasten werden Basisdaten wie der erste Auftritt in einem Comic, Name und Beruf, Herkunft, Größe, Gewicht, Augenfarbe, Haarfarbe und Kräfte aufgelistet. Daneben prangt ein aussagekräftiges Comic-Bild (bei größeren Einträgen gibt es natürlich mehrere). Und in einem Fließtext wird eine mehr oder weniger ausführliche Biografie angeboten, welche die Highlights im Leben der Figur zusammenfasst, wobei das zwangsläufig oft sehr stichpunktartig bleiben muss. Drei oder vier Sätze (bei den Sechstelseiten-Einträgen) ergeben halt kein umfassendes Bild. Für eine erste Einordnung reicht der Text aber allemal. Wichtig: Es handelt sich hier um Einträge für Comic-Figuren, das MCU spielt hier keine Rolle.
Eingestreut in diese Figurenporträts sind immer wieder Großereignisse der Historie des Marvel-Universums. So erfährt man auf jeweils zwei bis vier Seiten beispielsweise etwas über das Age of Ultron, die zwei Civil Wars, das Empyre oder das Spider-Verse. Auch Superhelden-Teams werden vorgestellt, allen voran natürlich die Avengers auf gleich acht Seiten. Aber auch der kanadischen Truppe Alpha Flight, dem jugendlichen Power Pack, Magnetos Terror-Organisation der Brotherhood of Evil Mutants und den Inhumans wird Platz eingeräumt. Fehlen dürfen natürlich nicht die Fantastic Four, die Guardians of the Galaxy, S.H.I.E.L.D. und die X-Men! Das Ende bildet ein kurzer Abriss über das Multiversum sowie ein seitenlanges Register, das beim schnellen Auffinden eines gesuchten Helden oder Schurken hilft.
Die Menge an Inhalt ist nach wie vor wirklich umwerfend! Das Buch an einem Stück zu lesen, ist daher auch niemandem zu empfehlen. Es handelt sich ganz klar um ein Lexikon, in dem man nachschlagen kann und soll, wenn man mehr über eine Figur wissen will. Hier liegt der deutliche Fokus dieser Enzyklopädie. Es geht kaum um die Geschichte des Marvel-Universums und praktisch gar nicht um Dinge wie Schauplätze oder Technik. Weder der Stark-Tower noch der Helicarrier oder Professor Xaviers Institut für begabte Jugendliche haben einen Eintrag. Helden, Schurken und Gruppierungen füllen fast alle Seiten, dazwischen sind eingestreut – wie geschrieben – ein paar Comic-Großereignisse.
Das Layout wirkt aufgeräumt – Fließtext auf weißem Hintergrund –, wobei Akzente durch farbige Kästen gesetzt werden. Zum Augenschmaus wird das Werk durch die Masse an Illustrationen, die sich durch die ganze Marvel-Geschichte zieht. Hier wird wahrlich ein Querschnitt an Comic-Kunst aus gut 80 Jahren geboten, allerdings stammt der überwiegende Teil der Illustrationen, vor allem die größerformatigen, doch aus den letzten zwei Jahrzehnten, allein der schickeren Optik wegen.
Einen großen Kritikpunkt habe ich allerdings: Obwohl sich die Neuausgabe 64 Seiten mehr gegönnt hat, wurde „an den Rändern“ Inhalt gestrichen. Damit meine ich, dass mehr als nur ein paar Einträge zu kaum bedeutenden Charakteren entfernt wurden, um Platz zu schaffen. Ich habe jetzt nicht beide Bücher komplett verglichen, aber schon auf den ersten 120 Seiten wurden Adversary, die Annihilators, Arcanna, Col. Armbruster, Aron, Bucky Barnes (als Mensch, nicht als Winter Soldier), Blackwing, Caledonia, Calypso, Captain Fate, Charcoal, Amadeus Cho, Comet Man, Crossfire, Dansen Macabre, Drew Patience und Ecstasy entfernt. Wenn man das hochrechnet, könnten an die 70 Figuren fehlen. Das ist schon sehr schade, zumal sie nur 10 bis 15 Seiten Platz gebraucht hätten.
Bleibt die Frage: Lohnt sich der „Umstieg“ auf die Neuausgabe, wenn man die Erstausgabe schon besitzt? Das ist nicht ganz leicht zu beantworten. Wer nur ein grundsätzliches Interesse am Universum der Marvel-Comics hat, für den genügt die alte Ausgabe problemlos, denn die Jahrzehnte an Wissen, die dort versammelt sind, verlieren ja nicht an Gültigkeit. Echte Fans hingegen, die möglichst up-to-date sein wollen, sind mit der Neuausgabe sicher gut bedient. Ärgerlicherweise müssten sie ihre alte Ausgabe aber behalten, wenn sie nicht einen ganzen Schwung Einträge – zugegeben von ziemlichen Nebenfiguren – verlieren wollen.
Fazit: Die „Marvel Enzyklopädie – Erweiterte Neuausgabe“ ist unverändert ein prachtvoller Brocken von einem Nachschlagewerk, an dem Fans von Superhelden und -schurken eine Menge zu schmökern haben. In der Neuausgabe wurden vor allem viele Einträge ergänzt und auch ein paar zuvor fehlende oder eben ganz neue Figuren hinzugefügt. Allerdings mussten dafür auch einige alte Nebendarsteller den Platz räumen, was bedauerlich ist. Als Erstanschaffung definitiv eine Empfehlung für Comic-Freunde, wer die ältere Ausgabe schon besitzt, muss sein Nerd-Herz befragen, ob 64 neue Seiten nochmal fast 60 Euro wert sind.
Marvel Enzyklopädie – Erweiterte Neuausgabe
Sachbuch
Tom DeFalco, Peter Sanderson, Adam Bray u. a.
Dorling Kindersley 2025
ISBN: 978-3-830-5086-4
512 S., Hardcover, deutsch
Preis: 59,95 EUR
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